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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Innere Politik

Vierzig Jahre Reichstag -- Die Zusammensetzung des Reichstags -- Bethmann im
preußischen Landtag

Am Montag, den 21. März, beging der Reichstag seinen vierzigsten
Geburtstag. Vergleicht man die überaus feierliche Stimmung, die vor vierzig
Jahren die erste Sitzung umgab, mit der scherzhaften Weise, in der der heutige
Reichstag an sie erinnert wurde, so wird jeden: ohne weiteres klar, wie tief
wir in der Parlamentsmisere stecken. Der Präsident des Reichstags hielt es
für angebracht, die Erinnerung an den ersten Zusammentritt des Reichstags in
den Hinweis einzukleiden, daß er die 3425 ste Sitzung eröffne. Obwohl der
Scherz wenig Geschmack verrät, so liegt das Bedrückende nicht so sehr in der
Entgleisung des Präsidenten, als in der Aufnahme, die sie bei den Parteien,
insonderheit bei den liberalen Parteien, gefunden hat. Wenn ein konservativer
Mann den Reichstag nicht sonderlich achtet, selbst wenn er dessen Präsident ist,
so liegt das in der Natur seiner politischen Anschauungen begründet. Wenn
aber unter neunundneunzig Liberalen keiner vorhanden ist, der den Mut findet,
die Weihe des Augenblicks durch eine Ergänzung der Worte des Präsidenten
würdig wiederherzustellen, dann muß darin ein bedauerlicher Rückgang des
Selbstbewußtseins festgestellt werden, der eine Gefahr bedeutet. Man komme
nicht mit der Ausrede, die parlamentarische Form habe einen entsprechenden
Schritt unmöglich gemacht, der Präsident sei nachträglich auf sein Vergehen
aufmerksam gemacht worden, er habe sich auch entschuldigt. Sollte diese Auf¬
fassung richtig sein, dann war auch das Moment gegeben, die Form zu durch¬
brechen, um die Würde der deutschen Volksvertretung zu wahren. Der Reichstag
hat sich in den vierzig Jahren seines Bestehens so große Verdienste um das
Vaterland in allen seinen Teilen und um die Nation in allen ihren Gliedern
vom niedrigsten bis zum höchsten erworben, daß, wenn des vierzigsten Jahres¬
tages überhaupt gedacht wurde, es am Platze gewesen wäre, auf diese Ver¬
dienste in ernsthafter Form hinzuweisen.

Aus dem ersten Jahre des Reichstags sind nur zwei Männer erhalten
geblieben: August Bebel, der Sozialdemokrat, und der im Mai 1871 ein¬
getretene Prälat Lender vom Zentrum. Auch die zahlenmäßige Zusammen¬
setzung des Reichstags hat dem Einfluß der Zeit nicht standgehalten. Ver¬
gleichen wir den ersten Reichstag mit dein heutigen zwölften, dann ergibt sich
folgendes Bild:


[Beginn Spaltensatz]
1871 1911
Konserwtibe....... 83 103
Zentrum........ 60 106
Liberale........ 180 99

[Spaltenumbruch]
1371 1911
Sozialdemokraten.....3 52
Polen.........13 20
bei keiner Fraktion.....28 17
[Ende Spaltensatz]
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Vierzig Jahre Reichstag — Die Zusammensetzung des Reichstags — Bethmann im
preußischen Landtag

Am Montag, den 21. März, beging der Reichstag seinen vierzigsten
Geburtstag. Vergleicht man die überaus feierliche Stimmung, die vor vierzig
Jahren die erste Sitzung umgab, mit der scherzhaften Weise, in der der heutige
Reichstag an sie erinnert wurde, so wird jeden: ohne weiteres klar, wie tief
wir in der Parlamentsmisere stecken. Der Präsident des Reichstags hielt es
für angebracht, die Erinnerung an den ersten Zusammentritt des Reichstags in
den Hinweis einzukleiden, daß er die 3425 ste Sitzung eröffne. Obwohl der
Scherz wenig Geschmack verrät, so liegt das Bedrückende nicht so sehr in der
Entgleisung des Präsidenten, als in der Aufnahme, die sie bei den Parteien,
insonderheit bei den liberalen Parteien, gefunden hat. Wenn ein konservativer
Mann den Reichstag nicht sonderlich achtet, selbst wenn er dessen Präsident ist,
so liegt das in der Natur seiner politischen Anschauungen begründet. Wenn
aber unter neunundneunzig Liberalen keiner vorhanden ist, der den Mut findet,
die Weihe des Augenblicks durch eine Ergänzung der Worte des Präsidenten
würdig wiederherzustellen, dann muß darin ein bedauerlicher Rückgang des
Selbstbewußtseins festgestellt werden, der eine Gefahr bedeutet. Man komme
nicht mit der Ausrede, die parlamentarische Form habe einen entsprechenden
Schritt unmöglich gemacht, der Präsident sei nachträglich auf sein Vergehen
aufmerksam gemacht worden, er habe sich auch entschuldigt. Sollte diese Auf¬
fassung richtig sein, dann war auch das Moment gegeben, die Form zu durch¬
brechen, um die Würde der deutschen Volksvertretung zu wahren. Der Reichstag
hat sich in den vierzig Jahren seines Bestehens so große Verdienste um das
Vaterland in allen seinen Teilen und um die Nation in allen ihren Gliedern
vom niedrigsten bis zum höchsten erworben, daß, wenn des vierzigsten Jahres¬
tages überhaupt gedacht wurde, es am Platze gewesen wäre, auf diese Ver¬
dienste in ernsthafter Form hinzuweisen.

Aus dem ersten Jahre des Reichstags sind nur zwei Männer erhalten
geblieben: August Bebel, der Sozialdemokrat, und der im Mai 1871 ein¬
getretene Prälat Lender vom Zentrum. Auch die zahlenmäßige Zusammen¬
setzung des Reichstags hat dem Einfluß der Zeit nicht standgehalten. Ver¬
gleichen wir den ersten Reichstag mit dein heutigen zwölften, dann ergibt sich
folgendes Bild:


[Beginn Spaltensatz]
1871 1911
Konserwtibe....... 83 103
Zentrum........ 60 106
Liberale........ 180 99

[Spaltenumbruch]
1371 1911
Sozialdemokraten.....3 52
Polen.........13 20
bei keiner Fraktion.....28 17
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[0655] Reichsspiegel Reichsspiegel Innere Politik Vierzig Jahre Reichstag — Die Zusammensetzung des Reichstags — Bethmann im preußischen Landtag Am Montag, den 21. März, beging der Reichstag seinen vierzigsten Geburtstag. Vergleicht man die überaus feierliche Stimmung, die vor vierzig Jahren die erste Sitzung umgab, mit der scherzhaften Weise, in der der heutige Reichstag an sie erinnert wurde, so wird jeden: ohne weiteres klar, wie tief wir in der Parlamentsmisere stecken. Der Präsident des Reichstags hielt es für angebracht, die Erinnerung an den ersten Zusammentritt des Reichstags in den Hinweis einzukleiden, daß er die 3425 ste Sitzung eröffne. Obwohl der Scherz wenig Geschmack verrät, so liegt das Bedrückende nicht so sehr in der Entgleisung des Präsidenten, als in der Aufnahme, die sie bei den Parteien, insonderheit bei den liberalen Parteien, gefunden hat. Wenn ein konservativer Mann den Reichstag nicht sonderlich achtet, selbst wenn er dessen Präsident ist, so liegt das in der Natur seiner politischen Anschauungen begründet. Wenn aber unter neunundneunzig Liberalen keiner vorhanden ist, der den Mut findet, die Weihe des Augenblicks durch eine Ergänzung der Worte des Präsidenten würdig wiederherzustellen, dann muß darin ein bedauerlicher Rückgang des Selbstbewußtseins festgestellt werden, der eine Gefahr bedeutet. Man komme nicht mit der Ausrede, die parlamentarische Form habe einen entsprechenden Schritt unmöglich gemacht, der Präsident sei nachträglich auf sein Vergehen aufmerksam gemacht worden, er habe sich auch entschuldigt. Sollte diese Auf¬ fassung richtig sein, dann war auch das Moment gegeben, die Form zu durch¬ brechen, um die Würde der deutschen Volksvertretung zu wahren. Der Reichstag hat sich in den vierzig Jahren seines Bestehens so große Verdienste um das Vaterland in allen seinen Teilen und um die Nation in allen ihren Gliedern vom niedrigsten bis zum höchsten erworben, daß, wenn des vierzigsten Jahres¬ tages überhaupt gedacht wurde, es am Platze gewesen wäre, auf diese Ver¬ dienste in ernsthafter Form hinzuweisen. Aus dem ersten Jahre des Reichstags sind nur zwei Männer erhalten geblieben: August Bebel, der Sozialdemokrat, und der im Mai 1871 ein¬ getretene Prälat Lender vom Zentrum. Auch die zahlenmäßige Zusammen¬ setzung des Reichstags hat dem Einfluß der Zeit nicht standgehalten. Ver¬ gleichen wir den ersten Reichstag mit dein heutigen zwölften, dann ergibt sich folgendes Bild: 1871 1911 Konserwtibe....... 83 103 Zentrum........ 60 106 Liberale........ 180 99 1371 1911 Sozialdemokraten.....3 52 Polen.........13 20 bei keiner Fraktion.....28 17 Grenzboten l 1911et>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/655>, abgerufen am 24.07.2024.