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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspicgel

wonach es sich sehnt, ist eine Revision der staatsbürgerlichen Stellung des Beamten.
Das ist von feiten der Demokratie längst erkannt und mit gewissem Erfolg auch
schon ausgenutzt worden. Der Staat verhält sich allen entsprechenden Anregungen
gegenüber noch ablehnend. Man denkt bei uns gleich an den Syndikalismus,
der in Frankreich so häßliche Blüten treibt. Es sei zugegeben, daß sich auch
in Deutschland einmal eine ähnliche Gefahr einstellen kann, -- jedoch nur dann,
wenn die Regierung und die Mittelparteien fortfahren, in dieser Beziehung
Vogelstrauß-Politik zu treiben. Der Beamte soll sich nicht als Kostgänger des
Staates betrachten, sondern als dessen lebendiger Repräsentant. Gegenwärtig kann
er das nicht, weil er eingepreßt ist zwischen die immer stärker vordrängenden Ansprüche
der wirtschaftlichen Jnteressenverbände von der einen Seite und der sogenannten
altpreußischen Tradition von der anderen. Daß diese Tradition in der Praxis
bei uns schon recht häufig beiseite geschoben werden muß, wissen die Leser der
Grenzboten aus den Artikeln über die preußische Verwaltung (Ur. 3--5, 7,
15--18, 45, 46 und 48 im 69. Jahrgang). Besonders deutlich treten
demokratische Einflüsse in den großen Zentralbehörden zutage, und wir haben es
vor noch gar nicht langer Zeit erlebt, daß in einem Reichsamt sich eine Beamten¬
kategorie ihren überraschten Vorgesetzten gegenüber vollkommen auf den Stand¬
punkt von Lohnarbeitern stellte. Solche Vorgänge werden sich um so häufiger
wiederholen, je größer die Beamtenheere werden und je weniger eng die
persönliche Fühlung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen wird. Nach Albert
Hesse (Conrads Jahrbücher III. Folge 40. Bd. Sechstes Heft. Dezember 1910.
S. 751) ist die Zahl aller männlichen Beamten von 307268 im Jahre 1882
auf 1299728 im Jahre 1907 gestiegen. Das will sagen: im Jahre 1882
gehörten nur 1,90 Prozent der männlichen Bevölkerung der Beamtenschaft an,
im Jahre 1907 aber schon 5,28 Prozent! Die Staatsbeamten haben an dieser
Zunahme erheblichen Anteil. Angesichts der Schnelligkeit der Vermehrung
haben sich auch schon einige höhere und höchste Beamte mit der Notwendigkeit
vertraut gemacht, daß von des Staates wegen mit Reformen vorgegangen
werden müsse. Von den Mittelparteien scheinen sich auch die National¬
liberalen der Frage bemächtigen zu wollen.

In der auswärtigen Politik sind es in erster Linie die deutsch-russischen
Beziehungen, die im abgelaufenen Jahre eine Neugestaltung gefunden und die
im Zusammenhang mit dem Dreibund geeignet erscheinen, die Grundlage der
gesamten Entwicklung der internationalen Politik zu bilden. Wie bekannt, haben
die Besprechungen zu Potsdam im vorigen Jahre zu einer Verständigung zwischen
Rußland und Deutschland bezüglich des nahen Orient geführt und gleichzeitig
beiden Mächten freie Hand ans dem Kontinent gegeben. Die Triple-Entente
mit ihrer aggressiven Spitze gegen Deutschland ist gegenstandslos geworden.
Sollten Frankreich oder England oder beide gemeinsam gegen Deutschland einen
Krieg beginnen, dann ist Nußland verpflichtet, Frieden zu halten. Anderseits
hat Deutschland neutral zu bleiben, wenn Österreich-Ungarn kriegerisch gegen


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wonach es sich sehnt, ist eine Revision der staatsbürgerlichen Stellung des Beamten.
Das ist von feiten der Demokratie längst erkannt und mit gewissem Erfolg auch
schon ausgenutzt worden. Der Staat verhält sich allen entsprechenden Anregungen
gegenüber noch ablehnend. Man denkt bei uns gleich an den Syndikalismus,
der in Frankreich so häßliche Blüten treibt. Es sei zugegeben, daß sich auch
in Deutschland einmal eine ähnliche Gefahr einstellen kann, — jedoch nur dann,
wenn die Regierung und die Mittelparteien fortfahren, in dieser Beziehung
Vogelstrauß-Politik zu treiben. Der Beamte soll sich nicht als Kostgänger des
Staates betrachten, sondern als dessen lebendiger Repräsentant. Gegenwärtig kann
er das nicht, weil er eingepreßt ist zwischen die immer stärker vordrängenden Ansprüche
der wirtschaftlichen Jnteressenverbände von der einen Seite und der sogenannten
altpreußischen Tradition von der anderen. Daß diese Tradition in der Praxis
bei uns schon recht häufig beiseite geschoben werden muß, wissen die Leser der
Grenzboten aus den Artikeln über die preußische Verwaltung (Ur. 3—5, 7,
15—18, 45, 46 und 48 im 69. Jahrgang). Besonders deutlich treten
demokratische Einflüsse in den großen Zentralbehörden zutage, und wir haben es
vor noch gar nicht langer Zeit erlebt, daß in einem Reichsamt sich eine Beamten¬
kategorie ihren überraschten Vorgesetzten gegenüber vollkommen auf den Stand¬
punkt von Lohnarbeitern stellte. Solche Vorgänge werden sich um so häufiger
wiederholen, je größer die Beamtenheere werden und je weniger eng die
persönliche Fühlung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen wird. Nach Albert
Hesse (Conrads Jahrbücher III. Folge 40. Bd. Sechstes Heft. Dezember 1910.
S. 751) ist die Zahl aller männlichen Beamten von 307268 im Jahre 1882
auf 1299728 im Jahre 1907 gestiegen. Das will sagen: im Jahre 1882
gehörten nur 1,90 Prozent der männlichen Bevölkerung der Beamtenschaft an,
im Jahre 1907 aber schon 5,28 Prozent! Die Staatsbeamten haben an dieser
Zunahme erheblichen Anteil. Angesichts der Schnelligkeit der Vermehrung
haben sich auch schon einige höhere und höchste Beamte mit der Notwendigkeit
vertraut gemacht, daß von des Staates wegen mit Reformen vorgegangen
werden müsse. Von den Mittelparteien scheinen sich auch die National¬
liberalen der Frage bemächtigen zu wollen.

In der auswärtigen Politik sind es in erster Linie die deutsch-russischen
Beziehungen, die im abgelaufenen Jahre eine Neugestaltung gefunden und die
im Zusammenhang mit dem Dreibund geeignet erscheinen, die Grundlage der
gesamten Entwicklung der internationalen Politik zu bilden. Wie bekannt, haben
die Besprechungen zu Potsdam im vorigen Jahre zu einer Verständigung zwischen
Rußland und Deutschland bezüglich des nahen Orient geführt und gleichzeitig
beiden Mächten freie Hand ans dem Kontinent gegeben. Die Triple-Entente
mit ihrer aggressiven Spitze gegen Deutschland ist gegenstandslos geworden.
Sollten Frankreich oder England oder beide gemeinsam gegen Deutschland einen
Krieg beginnen, dann ist Nußland verpflichtet, Frieden zu halten. Anderseits
hat Deutschland neutral zu bleiben, wenn Österreich-Ungarn kriegerisch gegen


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[0064] Reichsspicgel wonach es sich sehnt, ist eine Revision der staatsbürgerlichen Stellung des Beamten. Das ist von feiten der Demokratie längst erkannt und mit gewissem Erfolg auch schon ausgenutzt worden. Der Staat verhält sich allen entsprechenden Anregungen gegenüber noch ablehnend. Man denkt bei uns gleich an den Syndikalismus, der in Frankreich so häßliche Blüten treibt. Es sei zugegeben, daß sich auch in Deutschland einmal eine ähnliche Gefahr einstellen kann, — jedoch nur dann, wenn die Regierung und die Mittelparteien fortfahren, in dieser Beziehung Vogelstrauß-Politik zu treiben. Der Beamte soll sich nicht als Kostgänger des Staates betrachten, sondern als dessen lebendiger Repräsentant. Gegenwärtig kann er das nicht, weil er eingepreßt ist zwischen die immer stärker vordrängenden Ansprüche der wirtschaftlichen Jnteressenverbände von der einen Seite und der sogenannten altpreußischen Tradition von der anderen. Daß diese Tradition in der Praxis bei uns schon recht häufig beiseite geschoben werden muß, wissen die Leser der Grenzboten aus den Artikeln über die preußische Verwaltung (Ur. 3—5, 7, 15—18, 45, 46 und 48 im 69. Jahrgang). Besonders deutlich treten demokratische Einflüsse in den großen Zentralbehörden zutage, und wir haben es vor noch gar nicht langer Zeit erlebt, daß in einem Reichsamt sich eine Beamten¬ kategorie ihren überraschten Vorgesetzten gegenüber vollkommen auf den Stand¬ punkt von Lohnarbeitern stellte. Solche Vorgänge werden sich um so häufiger wiederholen, je größer die Beamtenheere werden und je weniger eng die persönliche Fühlung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen wird. Nach Albert Hesse (Conrads Jahrbücher III. Folge 40. Bd. Sechstes Heft. Dezember 1910. S. 751) ist die Zahl aller männlichen Beamten von 307268 im Jahre 1882 auf 1299728 im Jahre 1907 gestiegen. Das will sagen: im Jahre 1882 gehörten nur 1,90 Prozent der männlichen Bevölkerung der Beamtenschaft an, im Jahre 1907 aber schon 5,28 Prozent! Die Staatsbeamten haben an dieser Zunahme erheblichen Anteil. Angesichts der Schnelligkeit der Vermehrung haben sich auch schon einige höhere und höchste Beamte mit der Notwendigkeit vertraut gemacht, daß von des Staates wegen mit Reformen vorgegangen werden müsse. Von den Mittelparteien scheinen sich auch die National¬ liberalen der Frage bemächtigen zu wollen. In der auswärtigen Politik sind es in erster Linie die deutsch-russischen Beziehungen, die im abgelaufenen Jahre eine Neugestaltung gefunden und die im Zusammenhang mit dem Dreibund geeignet erscheinen, die Grundlage der gesamten Entwicklung der internationalen Politik zu bilden. Wie bekannt, haben die Besprechungen zu Potsdam im vorigen Jahre zu einer Verständigung zwischen Rußland und Deutschland bezüglich des nahen Orient geführt und gleichzeitig beiden Mächten freie Hand ans dem Kontinent gegeben. Die Triple-Entente mit ihrer aggressiven Spitze gegen Deutschland ist gegenstandslos geworden. Sollten Frankreich oder England oder beide gemeinsam gegen Deutschland einen Krieg beginnen, dann ist Nußland verpflichtet, Frieden zu halten. Anderseits hat Deutschland neutral zu bleiben, wenn Österreich-Ungarn kriegerisch gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/64>, abgerufen am 24.07.2024.