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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Probleme des Judustriebezirks

Die Frage, ob die leibliche und sittliche Gesundheit dieser Bevölkerung in der
künftigen Entwickelung dieser Bezirke gewährleistet ist, ist somit eines der
wichtigsten Probleme für den Staat.

Vielleicht sogar gibt es, von: Standpunkte der inneren preußischen Ver¬
waltung aus, sür diese, neben der durch die Polenfrage gestellten Aufgabe, zurzeit
keine andere, die dringender und wichtiger wäre als die Aufgabe einer gesunden
Weiterentwickelung der Jndustriebezirke.

Als das Charakteristische der bisherigen Entwickelung kann man das Ver¬
schwinden des natürlichen Gegensatzes, der gesunden Ergänzung von Stadt und
Land bezeichnen. Die Stadt ist nicht mehr Teil oder Herrscherin der Land¬
schaft, sie hat diese Landschaft gewissermaßen verschlungen. So breitet sich vom
Rhein bis Bochum eine ungeheure Stadtlandschaft aus. etwas Neues, noch
Unbekanntes in der deutschen Kulturentwickelung. Überall am Horizont erheben
sich steil aufragende Häuser, städtische Straßenzüge, Fördertürme, Fabriken,
überall herrscht Lärm und geschäftiges Menschengewimmel. Vor der fort¬
schreitenden Bebauung verschwindet immer mehr der landwirtschaftliche Betrieb.

Daß ein Teil der Kulturmenschheit in Städten lebe, ist notwendig und
nach historischer Erfahrung nicht schädlich. Doch haben von jeher und überall
Stadt und Land eine Einheit gebildet, sich gegenseitig gefördert und gekräftigt,
und insbesondere sind die Schattenseiten städtischer Lebens- und Wohnweise
erträglich nur bei naher Berührung mit dem Lande. Fällt dies weg, ver¬
schwindet die Landschaft immer weiter vom Horizont der Großstädter, so steigern
sich für die in hohe Mauern eingekeilte Menge nicht bloß die gesundheitlichen
Gefahren, insbesondere sür die heranwachsende Generation, sondern noch mehr
verschärft sich der üble Einfluß auf Charakter und Gemüt. Der Mensch, der
von Einsamkeit nichts weiß, verliert Ruhe und Selbständigkeit des Urteils,
unterliegt widerstandslos den Wirkungen jeder Massensuggestion^ in der atomi-
sierten Masse verschwindet der Wert der Persönlichkeit, der Bewohner ein-
förmiger Mietkasernen kennt keine Heimatliebe, die frühe Selbständigkeit unter¬
gräbt die Familienbande und den Sinn sür Autorität.

So handelt es sich nicht bloß um die Bewältigung von technischen Schwierig¬
keiten, die durch das Zusammenballen so großer Menschenmassen auf weitem
Gebiete der Erfüllung der üblichen Verwaltungsaufgaben in quantitativ ge¬
steigertem Maße entgegentreten, sondern der Kreis dieser Aufgaben wächst durch
die erhöhte Sorge für Erhaltung und Schaffung idealer Güter, insbesondere
derjenigen, die jeder richtig arbeitenden Verwaltung als höchstes Ziel gestellt
und auch erreichbar sind, der Förderung von Gemeinsinn und Vertrauen.

Es sind übrigens dieselben Probleme, die dem Verwaltungsbeamten und
Politiker bei fortschreitender Verstädtischung überall entgegentreten, vor allen
Dingen in dem Niesenkomplex, den die Reichshauptstadt mit ihren Vororten
bildet. Aber für den eigentlichen Jndustriebezirk ergibt sich noch manche Besonder¬
heit aus seiner bedeutend größeren Ausdehnung, dem andersartigen Anbau und


Probleme des Judustriebezirks

Die Frage, ob die leibliche und sittliche Gesundheit dieser Bevölkerung in der
künftigen Entwickelung dieser Bezirke gewährleistet ist, ist somit eines der
wichtigsten Probleme für den Staat.

Vielleicht sogar gibt es, von: Standpunkte der inneren preußischen Ver¬
waltung aus, sür diese, neben der durch die Polenfrage gestellten Aufgabe, zurzeit
keine andere, die dringender und wichtiger wäre als die Aufgabe einer gesunden
Weiterentwickelung der Jndustriebezirke.

Als das Charakteristische der bisherigen Entwickelung kann man das Ver¬
schwinden des natürlichen Gegensatzes, der gesunden Ergänzung von Stadt und
Land bezeichnen. Die Stadt ist nicht mehr Teil oder Herrscherin der Land¬
schaft, sie hat diese Landschaft gewissermaßen verschlungen. So breitet sich vom
Rhein bis Bochum eine ungeheure Stadtlandschaft aus. etwas Neues, noch
Unbekanntes in der deutschen Kulturentwickelung. Überall am Horizont erheben
sich steil aufragende Häuser, städtische Straßenzüge, Fördertürme, Fabriken,
überall herrscht Lärm und geschäftiges Menschengewimmel. Vor der fort¬
schreitenden Bebauung verschwindet immer mehr der landwirtschaftliche Betrieb.

Daß ein Teil der Kulturmenschheit in Städten lebe, ist notwendig und
nach historischer Erfahrung nicht schädlich. Doch haben von jeher und überall
Stadt und Land eine Einheit gebildet, sich gegenseitig gefördert und gekräftigt,
und insbesondere sind die Schattenseiten städtischer Lebens- und Wohnweise
erträglich nur bei naher Berührung mit dem Lande. Fällt dies weg, ver¬
schwindet die Landschaft immer weiter vom Horizont der Großstädter, so steigern
sich für die in hohe Mauern eingekeilte Menge nicht bloß die gesundheitlichen
Gefahren, insbesondere sür die heranwachsende Generation, sondern noch mehr
verschärft sich der üble Einfluß auf Charakter und Gemüt. Der Mensch, der
von Einsamkeit nichts weiß, verliert Ruhe und Selbständigkeit des Urteils,
unterliegt widerstandslos den Wirkungen jeder Massensuggestion^ in der atomi-
sierten Masse verschwindet der Wert der Persönlichkeit, der Bewohner ein-
förmiger Mietkasernen kennt keine Heimatliebe, die frühe Selbständigkeit unter¬
gräbt die Familienbande und den Sinn sür Autorität.

So handelt es sich nicht bloß um die Bewältigung von technischen Schwierig¬
keiten, die durch das Zusammenballen so großer Menschenmassen auf weitem
Gebiete der Erfüllung der üblichen Verwaltungsaufgaben in quantitativ ge¬
steigertem Maße entgegentreten, sondern der Kreis dieser Aufgaben wächst durch
die erhöhte Sorge für Erhaltung und Schaffung idealer Güter, insbesondere
derjenigen, die jeder richtig arbeitenden Verwaltung als höchstes Ziel gestellt
und auch erreichbar sind, der Förderung von Gemeinsinn und Vertrauen.

Es sind übrigens dieselben Probleme, die dem Verwaltungsbeamten und
Politiker bei fortschreitender Verstädtischung überall entgegentreten, vor allen
Dingen in dem Niesenkomplex, den die Reichshauptstadt mit ihren Vororten
bildet. Aber für den eigentlichen Jndustriebezirk ergibt sich noch manche Besonder¬
heit aus seiner bedeutend größeren Ausdehnung, dem andersartigen Anbau und


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[0635] Probleme des Judustriebezirks Die Frage, ob die leibliche und sittliche Gesundheit dieser Bevölkerung in der künftigen Entwickelung dieser Bezirke gewährleistet ist, ist somit eines der wichtigsten Probleme für den Staat. Vielleicht sogar gibt es, von: Standpunkte der inneren preußischen Ver¬ waltung aus, sür diese, neben der durch die Polenfrage gestellten Aufgabe, zurzeit keine andere, die dringender und wichtiger wäre als die Aufgabe einer gesunden Weiterentwickelung der Jndustriebezirke. Als das Charakteristische der bisherigen Entwickelung kann man das Ver¬ schwinden des natürlichen Gegensatzes, der gesunden Ergänzung von Stadt und Land bezeichnen. Die Stadt ist nicht mehr Teil oder Herrscherin der Land¬ schaft, sie hat diese Landschaft gewissermaßen verschlungen. So breitet sich vom Rhein bis Bochum eine ungeheure Stadtlandschaft aus. etwas Neues, noch Unbekanntes in der deutschen Kulturentwickelung. Überall am Horizont erheben sich steil aufragende Häuser, städtische Straßenzüge, Fördertürme, Fabriken, überall herrscht Lärm und geschäftiges Menschengewimmel. Vor der fort¬ schreitenden Bebauung verschwindet immer mehr der landwirtschaftliche Betrieb. Daß ein Teil der Kulturmenschheit in Städten lebe, ist notwendig und nach historischer Erfahrung nicht schädlich. Doch haben von jeher und überall Stadt und Land eine Einheit gebildet, sich gegenseitig gefördert und gekräftigt, und insbesondere sind die Schattenseiten städtischer Lebens- und Wohnweise erträglich nur bei naher Berührung mit dem Lande. Fällt dies weg, ver¬ schwindet die Landschaft immer weiter vom Horizont der Großstädter, so steigern sich für die in hohe Mauern eingekeilte Menge nicht bloß die gesundheitlichen Gefahren, insbesondere sür die heranwachsende Generation, sondern noch mehr verschärft sich der üble Einfluß auf Charakter und Gemüt. Der Mensch, der von Einsamkeit nichts weiß, verliert Ruhe und Selbständigkeit des Urteils, unterliegt widerstandslos den Wirkungen jeder Massensuggestion^ in der atomi- sierten Masse verschwindet der Wert der Persönlichkeit, der Bewohner ein- förmiger Mietkasernen kennt keine Heimatliebe, die frühe Selbständigkeit unter¬ gräbt die Familienbande und den Sinn sür Autorität. So handelt es sich nicht bloß um die Bewältigung von technischen Schwierig¬ keiten, die durch das Zusammenballen so großer Menschenmassen auf weitem Gebiete der Erfüllung der üblichen Verwaltungsaufgaben in quantitativ ge¬ steigertem Maße entgegentreten, sondern der Kreis dieser Aufgaben wächst durch die erhöhte Sorge für Erhaltung und Schaffung idealer Güter, insbesondere derjenigen, die jeder richtig arbeitenden Verwaltung als höchstes Ziel gestellt und auch erreichbar sind, der Förderung von Gemeinsinn und Vertrauen. Es sind übrigens dieselben Probleme, die dem Verwaltungsbeamten und Politiker bei fortschreitender Verstädtischung überall entgegentreten, vor allen Dingen in dem Niesenkomplex, den die Reichshauptstadt mit ihren Vororten bildet. Aber für den eigentlichen Jndustriebezirk ergibt sich noch manche Besonder¬ heit aus seiner bedeutend größeren Ausdehnung, dem andersartigen Anbau und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/635>, abgerufen am 24.07.2024.