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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichssxiegel

Doch nicht! Der Name ist gut. Wer die Tatsache richtig zu werten weiß, wird
zugeben, wie tief bis in die Reihen des Liberalismus hinein die Überzeugung
wurzelt, daß Deutschland auf dein Liberalismus allein nicht bestehen könnte,
daß die deutsche Politik eines starken konservativen Einschlages bedarf.
Aber dieser Einschlag soll auch wirklich konservativ sein und nicht das, was von
der Deutschen Tageszeitung als konservativ ausgegeben wird. Beweise für
die Richtigkeit unserer Behauptung liegen in den Reden, die auf dem Parteitage
der Nationalliberalen zu Kassel gehalten wurden, Beweise bringen täglich zahl¬
reiche liberale Blätter, brachte jüngst die Berliner Börsenzeitung. Ein Beweis
für die verständnisvolle Wertung des konservativen Elements liegt auch in dem
letzten Briefwechsel des Geheimrath Rießer mit dem Chefredakteur der
Kreuzzeitung. Rein vom Standpunkt des Hansabundes betrachtet war das
ganze "Weihnachtsidyll", wie die Frankfurter Zeitung die Episode nicht
unzutreffend nennt, ein Fehler. Rießers Vorgehen konnte und wird von den
Gegnern als Zeichen der Schwäche aufgefaßt werden, von den Freunden im
Lande aber nicht richtig bewertet. Tatsächlich riefen die Briefe auch eine gewisse
Unruhe im liberalen Blätterwald hervor. Eine Aussicht, durch die Briefe auch
nur einen aus der Gefolgschaft des Herrn v. Hendebrand zu überzeugen,
bestand nicht.

Die eben gekennzeichneten Strömungen innerhalb der konservativen Kreise
bilden den Hintergrund zu den politischen Kämpfen des beginnenden Jahres,
sie geben gewissermaßen die kulturhistorische Folie für die Parteikämpfe des
Augenblicks.

Unter solchen Verhältnissen fällt es schwer, mit einiger Freudigkeit in das
neue Jahr zu schauen. Überall im öffentlichen Leben, in der staatlichen und
kommunalen Organisation, im Schulwesen ebenso wie in der sozialen Gesetz¬
gebung machen sich unter dein Alp eines müden Konservatismus Anzeichen
von Stagnation und Unsicherheit bemerkbar. Die Armee und die Justiz
leiden ebenso unter veralteten Verfassungen, wie unter dem Mangel an
einem zweckmäßig sicher gestellten Ersatz. Von' überall her und aus allen
Verwaltungen tönt der Ruf nach Reformen. Die Vorschläge der Regierung
richten sich daneben zunächst nur auf "eindämmende" Maßnahmen, nicht
auf "fördernde". Ist das auch nicht viel, so ist es wenigstens ein Anfang,
der, von zielbewußter Volksvertretern geschickt benutzt, zur Einleitung tiefer
greifender Reformen führen kann. Natürlich liegt auch die Gefahr vor, daß
die Radikalen jeden Versuch zur Besserung durch Obstruktion in irgendeiner
Form vereiteln. Dieser Gefahr die Spitze abzubrechen, scheint uns eine wichtige
Aufgabe der Mittelparteien zu sein. Eine Aktion, die, wie wir glauben, schon
während der nächsten Wahlen Früchte tragen dürfte, sollte sich z. B. der Staats¬
und Kommunalbeamten bemächtigen -- natürlich nicht im Sinne neuerGehalts-
erhöhungen oder Versprechungen auf sonstige materielle Besserstellung. Was dem
Gros uiiserer staatlichen und kommunalen Beamtenschaft aller Stufen fehlt und


Grenzboten I 1911 7
Reichssxiegel

Doch nicht! Der Name ist gut. Wer die Tatsache richtig zu werten weiß, wird
zugeben, wie tief bis in die Reihen des Liberalismus hinein die Überzeugung
wurzelt, daß Deutschland auf dein Liberalismus allein nicht bestehen könnte,
daß die deutsche Politik eines starken konservativen Einschlages bedarf.
Aber dieser Einschlag soll auch wirklich konservativ sein und nicht das, was von
der Deutschen Tageszeitung als konservativ ausgegeben wird. Beweise für
die Richtigkeit unserer Behauptung liegen in den Reden, die auf dem Parteitage
der Nationalliberalen zu Kassel gehalten wurden, Beweise bringen täglich zahl¬
reiche liberale Blätter, brachte jüngst die Berliner Börsenzeitung. Ein Beweis
für die verständnisvolle Wertung des konservativen Elements liegt auch in dem
letzten Briefwechsel des Geheimrath Rießer mit dem Chefredakteur der
Kreuzzeitung. Rein vom Standpunkt des Hansabundes betrachtet war das
ganze „Weihnachtsidyll", wie die Frankfurter Zeitung die Episode nicht
unzutreffend nennt, ein Fehler. Rießers Vorgehen konnte und wird von den
Gegnern als Zeichen der Schwäche aufgefaßt werden, von den Freunden im
Lande aber nicht richtig bewertet. Tatsächlich riefen die Briefe auch eine gewisse
Unruhe im liberalen Blätterwald hervor. Eine Aussicht, durch die Briefe auch
nur einen aus der Gefolgschaft des Herrn v. Hendebrand zu überzeugen,
bestand nicht.

Die eben gekennzeichneten Strömungen innerhalb der konservativen Kreise
bilden den Hintergrund zu den politischen Kämpfen des beginnenden Jahres,
sie geben gewissermaßen die kulturhistorische Folie für die Parteikämpfe des
Augenblicks.

Unter solchen Verhältnissen fällt es schwer, mit einiger Freudigkeit in das
neue Jahr zu schauen. Überall im öffentlichen Leben, in der staatlichen und
kommunalen Organisation, im Schulwesen ebenso wie in der sozialen Gesetz¬
gebung machen sich unter dein Alp eines müden Konservatismus Anzeichen
von Stagnation und Unsicherheit bemerkbar. Die Armee und die Justiz
leiden ebenso unter veralteten Verfassungen, wie unter dem Mangel an
einem zweckmäßig sicher gestellten Ersatz. Von' überall her und aus allen
Verwaltungen tönt der Ruf nach Reformen. Die Vorschläge der Regierung
richten sich daneben zunächst nur auf „eindämmende" Maßnahmen, nicht
auf „fördernde". Ist das auch nicht viel, so ist es wenigstens ein Anfang,
der, von zielbewußter Volksvertretern geschickt benutzt, zur Einleitung tiefer
greifender Reformen führen kann. Natürlich liegt auch die Gefahr vor, daß
die Radikalen jeden Versuch zur Besserung durch Obstruktion in irgendeiner
Form vereiteln. Dieser Gefahr die Spitze abzubrechen, scheint uns eine wichtige
Aufgabe der Mittelparteien zu sein. Eine Aktion, die, wie wir glauben, schon
während der nächsten Wahlen Früchte tragen dürfte, sollte sich z. B. der Staats¬
und Kommunalbeamten bemächtigen — natürlich nicht im Sinne neuerGehalts-
erhöhungen oder Versprechungen auf sonstige materielle Besserstellung. Was dem
Gros uiiserer staatlichen und kommunalen Beamtenschaft aller Stufen fehlt und


Grenzboten I 1911 7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/63>, abgerufen am 24.07.2024.