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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegol

keine andere Partei dem Nutzen der Allgemeinheit unterordnen. Man will in den
Reichslanden Einfluß gewinnen. Dieser parteipolitische Gesichtspunkt birgt
natürlich gewisse Gefahren in sich, vor allem die Möglichkeit der Nachgiebigkeit
da, wo strenges Betonen großdeutscher Gesichtspunkte am Platze wäre. Die
Regierungsentwürfe lassen aber, wie wir bereits in Heft 52 von 1910 nach¬
wiesen, gerade in dieser Richtung manches vermissen. Im vergangenen Jahr
konnten wir den preußischen Herrn Ministerpräsidenten gegen die Vorwürfe der
Willenlosigkeit verteidigen, mit dein Hinweis, die Wahlrechtsreform sei ein
schlecht gesichertes Erbe aus den Entwürfen seines Vorgängers. Dies Jahr
hat der neue deutsche Reichskanzler Entwürfe zu vertreten und zu Gesetzen um¬
zuwandeln, für deren Vorbereitung, Einbringung und Vertretung er ganz allein
die Verantwortung trägt. Vorbereitung und Art der Einbringung scheinen die
weitere Vertretung erheblich zu erschweren.

SchlimmeNachrichten kommen aus den Kolonien. Am 18.Oktober1910
wurden auf einer unserer Karolineninseln, Dschokodsch oder Jokoz, vier Deutsche,
darunter der Regierungsvertreter. Regierungsrat Bober, von Eingeborenen
überfallen und ermordet. Wie aus Privatbriefen ersichtlich, gärte es dort schon
lange, zuletzt im Sommer 1910, unter der einheimischen Bevölkerung. Doch
verschwand die Bewegung vollständig von der Oberfläche und die Weißen ließen
sich in Sicherheit wiegen. Der Beweggrund scheint, nach der Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung, Unzufriedenheit mit Wegebauten gewesen zu sein. Die
sogenannte Kolonie war bedroht und wurde mit treu gebliebenen Eingeborenen
verteidigt. Die Nachricht traf am 30. November mit dem Dampfer "Germania"
in Rabaul ein. Der stellvertretende Gouverneur ging sofort mit 90 Polizei¬
soldaten, dem Sekretär und dem Polizeimeister nach Ponape und fand alle
übrigen Europäer wohlbehalten. Ernste Angriffe auf die Kolonie hatten und
haben seitdem nicht stattgefunden. Die Zahl der Aufrührer beläuft sich auf
200 bis 250, sie haben angeblich etwa 90 Gewehre und andere Schußwaffen.
Weitere Einzelheiten über die inneren Ursachen und die Entwicklung des Auf¬
standes stehen noch aus. Doch ist man in Kolonialkreisen der Meinung, daß
das Unglück hätte vermieden werden können. Wir kommen auf diesen Punkt
noch zurück. Die Tatsache, daß die Nachrichten mehr als zwei Monate
brauchten, ehe sie nach Deutschland gelangten, erklärt sich aus dem Umstände,
daß die nächste Telegraphenstation sich über tausend Seemeilen von Ponape
entfernt befindet, sowie daß der Dampfer "Germania" erst Hilfe herbeischaffte,
ehe er sich zu dieser Station begab.

Am 23. Dezember v. Is. ist Graf Ballestrem, langjähriger Zentrums¬
abgeordneter und Präsident des Reichstags, auf feiner schlesischen Besitzung
Plawuiowitz im Alter vou sechsundsiebzig Jahren (geb. 5. September 1834)
gestorben. Das Dahinscheiden dieses ausgezeichneten, auch von seinen Gegnern
hochgeschätzten Mannes löst zahlreiche Erinnerungen ans, die eng mit den ersten
Schritten des neuen Deutschen Reichs verknüpft sind. Damals gehörte der


Reichsspiegol

keine andere Partei dem Nutzen der Allgemeinheit unterordnen. Man will in den
Reichslanden Einfluß gewinnen. Dieser parteipolitische Gesichtspunkt birgt
natürlich gewisse Gefahren in sich, vor allem die Möglichkeit der Nachgiebigkeit
da, wo strenges Betonen großdeutscher Gesichtspunkte am Platze wäre. Die
Regierungsentwürfe lassen aber, wie wir bereits in Heft 52 von 1910 nach¬
wiesen, gerade in dieser Richtung manches vermissen. Im vergangenen Jahr
konnten wir den preußischen Herrn Ministerpräsidenten gegen die Vorwürfe der
Willenlosigkeit verteidigen, mit dein Hinweis, die Wahlrechtsreform sei ein
schlecht gesichertes Erbe aus den Entwürfen seines Vorgängers. Dies Jahr
hat der neue deutsche Reichskanzler Entwürfe zu vertreten und zu Gesetzen um¬
zuwandeln, für deren Vorbereitung, Einbringung und Vertretung er ganz allein
die Verantwortung trägt. Vorbereitung und Art der Einbringung scheinen die
weitere Vertretung erheblich zu erschweren.

SchlimmeNachrichten kommen aus den Kolonien. Am 18.Oktober1910
wurden auf einer unserer Karolineninseln, Dschokodsch oder Jokoz, vier Deutsche,
darunter der Regierungsvertreter. Regierungsrat Bober, von Eingeborenen
überfallen und ermordet. Wie aus Privatbriefen ersichtlich, gärte es dort schon
lange, zuletzt im Sommer 1910, unter der einheimischen Bevölkerung. Doch
verschwand die Bewegung vollständig von der Oberfläche und die Weißen ließen
sich in Sicherheit wiegen. Der Beweggrund scheint, nach der Norddeutschen
Allgemeinen Zeitung, Unzufriedenheit mit Wegebauten gewesen zu sein. Die
sogenannte Kolonie war bedroht und wurde mit treu gebliebenen Eingeborenen
verteidigt. Die Nachricht traf am 30. November mit dem Dampfer „Germania"
in Rabaul ein. Der stellvertretende Gouverneur ging sofort mit 90 Polizei¬
soldaten, dem Sekretär und dem Polizeimeister nach Ponape und fand alle
übrigen Europäer wohlbehalten. Ernste Angriffe auf die Kolonie hatten und
haben seitdem nicht stattgefunden. Die Zahl der Aufrührer beläuft sich auf
200 bis 250, sie haben angeblich etwa 90 Gewehre und andere Schußwaffen.
Weitere Einzelheiten über die inneren Ursachen und die Entwicklung des Auf¬
standes stehen noch aus. Doch ist man in Kolonialkreisen der Meinung, daß
das Unglück hätte vermieden werden können. Wir kommen auf diesen Punkt
noch zurück. Die Tatsache, daß die Nachrichten mehr als zwei Monate
brauchten, ehe sie nach Deutschland gelangten, erklärt sich aus dem Umstände,
daß die nächste Telegraphenstation sich über tausend Seemeilen von Ponape
entfernt befindet, sowie daß der Dampfer „Germania" erst Hilfe herbeischaffte,
ehe er sich zu dieser Station begab.

Am 23. Dezember v. Is. ist Graf Ballestrem, langjähriger Zentrums¬
abgeordneter und Präsident des Reichstags, auf feiner schlesischen Besitzung
Plawuiowitz im Alter vou sechsundsiebzig Jahren (geb. 5. September 1834)
gestorben. Das Dahinscheiden dieses ausgezeichneten, auch von seinen Gegnern
hochgeschätzten Mannes löst zahlreiche Erinnerungen ans, die eng mit den ersten
Schritten des neuen Deutschen Reichs verknüpft sind. Damals gehörte der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/59>, abgerufen am 24.07.2024.