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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegcl

Reichsspiegel
Politik

Aufstand im Ponape -- Graf Ballestreml' -- Bismarck und der Internationalismus --
Christentuni als Kulturprinzip -- Zentrumskatholiken und Protestanten -- Der
müde Konservatismus eine Gefahr -- Rießer macht Fehler -- Der Staatsbeamte
als Staatsbürger -- Rußland und Deutschland.

Die letzte Woche im Jahre pflegt im allgemeinen keine neuen politischen
Probleme zu gebären. Wenigstens nicht im Lande des Weihnachtsbaums, in
Deutschland. Die Staatsmänner, Abgeordneten und Zeitungsmänner einschließlich
der aller Romantik feindlichen Nationalisten sind in dieser letzten Woche zu¬
meist uicht in der Stimmung, große politische Aktionen einzuleiten. Das
Publikum würde keine Folge leisten. Kaufleute und sonstige Gewerbetreibende
sind genötigt, die geschäftlichen Ergebnisse der vier Weihnachtswochen zu prüfen,
und die übrigen Staatsbürger bereiten sich langsam sür die Abgabe der Steuer¬
erklärung vor, die im Laufe des Monats Januar in den Händen der Behörde
sein soll. Mancher zieht es wohl auch vor, ein gutes Buch zu lesen, das er
unterm Weihnachtsbaum gefunden. Die meisten aber wollen sich einmal un¬
gestört als gute Deutsche den mehr oder minder mächtigen Phantasien hingeben,
die das Lichtermeer des Weihnachtsabends entfesselt hat.

Herr von Bethmann glaubte solcher Stimmung keine Rechnung tragen
zu brauchen. Kurz vor dem Weihnachtsfest hat er uns den Entwurf eines
Gesetzes über die Verfassung Elsaß-Lothringens nebst Begründung
auf deu Schreibtisch gelegt. Vermutlich hat er der Presse und den Politikern
Zeit geben wollen, sich das Ding erst mal ordentlich durch den Kopf gehen
zu lassen, ehe sie an die öffentliche Behandlung der Frage gingen, indem er
den Schnelligkeitswettbewerb zwischen den Tageszeitungen unmöglich machte.
Ist ihm solches gelungen? Die kommenden Verhandlungen werden es zeigen.
Einstweilen drängen sich noch die negativen Möglichkeiten seines Vorgehens
in den Vordergrund. Die Art, wie Herr von Bethmann die Gesetzentwürfe
zur Erörterung gestellt hat, kommt in erster Linie deren Gegnern zugute, erschwert
dagegen Freunden, sich um den Entwurf zu sammeln. Der Aristokrat
Bethmann unterschätzt den praktischen Wert der Presse, dieses demokratischesten
aller Verkehrsmittel, und er überschätzt die geistige Selbsttätigkeit der Politik
treibenden und politisierenden Kreise. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß sich
mit den elsaß-lothringischen' Entwürfen eine ähnliche Katastrophe für den Leiter
der Regierung einleitet, wie im vorigen Jahr mit der preußischen Verfassungs¬
reform. Freilich ist die Parteikonstellation gegenwärtig im Reichstage ein wenig
anders, günstiger als während des vorigen Jahres im preußischen Landtage.
Diesmal haben das Zentrum und die Nationalliberalen ein lebhaftes Interesse
daran, daß überhaupt etwas zustande kommt. Solch ein Interesse bestand im
vergangenen Jahr eigentlich nur bei den Nationalliberalen, die sich leichter wie


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Aufstand im Ponape — Graf Ballestreml' — Bismarck und der Internationalismus —
Christentuni als Kulturprinzip — Zentrumskatholiken und Protestanten — Der
müde Konservatismus eine Gefahr — Rießer macht Fehler — Der Staatsbeamte
als Staatsbürger — Rußland und Deutschland.

Die letzte Woche im Jahre pflegt im allgemeinen keine neuen politischen
Probleme zu gebären. Wenigstens nicht im Lande des Weihnachtsbaums, in
Deutschland. Die Staatsmänner, Abgeordneten und Zeitungsmänner einschließlich
der aller Romantik feindlichen Nationalisten sind in dieser letzten Woche zu¬
meist uicht in der Stimmung, große politische Aktionen einzuleiten. Das
Publikum würde keine Folge leisten. Kaufleute und sonstige Gewerbetreibende
sind genötigt, die geschäftlichen Ergebnisse der vier Weihnachtswochen zu prüfen,
und die übrigen Staatsbürger bereiten sich langsam sür die Abgabe der Steuer¬
erklärung vor, die im Laufe des Monats Januar in den Händen der Behörde
sein soll. Mancher zieht es wohl auch vor, ein gutes Buch zu lesen, das er
unterm Weihnachtsbaum gefunden. Die meisten aber wollen sich einmal un¬
gestört als gute Deutsche den mehr oder minder mächtigen Phantasien hingeben,
die das Lichtermeer des Weihnachtsabends entfesselt hat.

Herr von Bethmann glaubte solcher Stimmung keine Rechnung tragen
zu brauchen. Kurz vor dem Weihnachtsfest hat er uns den Entwurf eines
Gesetzes über die Verfassung Elsaß-Lothringens nebst Begründung
auf deu Schreibtisch gelegt. Vermutlich hat er der Presse und den Politikern
Zeit geben wollen, sich das Ding erst mal ordentlich durch den Kopf gehen
zu lassen, ehe sie an die öffentliche Behandlung der Frage gingen, indem er
den Schnelligkeitswettbewerb zwischen den Tageszeitungen unmöglich machte.
Ist ihm solches gelungen? Die kommenden Verhandlungen werden es zeigen.
Einstweilen drängen sich noch die negativen Möglichkeiten seines Vorgehens
in den Vordergrund. Die Art, wie Herr von Bethmann die Gesetzentwürfe
zur Erörterung gestellt hat, kommt in erster Linie deren Gegnern zugute, erschwert
dagegen Freunden, sich um den Entwurf zu sammeln. Der Aristokrat
Bethmann unterschätzt den praktischen Wert der Presse, dieses demokratischesten
aller Verkehrsmittel, und er überschätzt die geistige Selbsttätigkeit der Politik
treibenden und politisierenden Kreise. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß sich
mit den elsaß-lothringischen' Entwürfen eine ähnliche Katastrophe für den Leiter
der Regierung einleitet, wie im vorigen Jahr mit der preußischen Verfassungs¬
reform. Freilich ist die Parteikonstellation gegenwärtig im Reichstage ein wenig
anders, günstiger als während des vorigen Jahres im preußischen Landtage.
Diesmal haben das Zentrum und die Nationalliberalen ein lebhaftes Interesse
daran, daß überhaupt etwas zustande kommt. Solch ein Interesse bestand im
vergangenen Jahr eigentlich nur bei den Nationalliberalen, die sich leichter wie


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[0058] Reichsspiegcl Reichsspiegel Politik Aufstand im Ponape — Graf Ballestreml' — Bismarck und der Internationalismus — Christentuni als Kulturprinzip — Zentrumskatholiken und Protestanten — Der müde Konservatismus eine Gefahr — Rießer macht Fehler — Der Staatsbeamte als Staatsbürger — Rußland und Deutschland. Die letzte Woche im Jahre pflegt im allgemeinen keine neuen politischen Probleme zu gebären. Wenigstens nicht im Lande des Weihnachtsbaums, in Deutschland. Die Staatsmänner, Abgeordneten und Zeitungsmänner einschließlich der aller Romantik feindlichen Nationalisten sind in dieser letzten Woche zu¬ meist uicht in der Stimmung, große politische Aktionen einzuleiten. Das Publikum würde keine Folge leisten. Kaufleute und sonstige Gewerbetreibende sind genötigt, die geschäftlichen Ergebnisse der vier Weihnachtswochen zu prüfen, und die übrigen Staatsbürger bereiten sich langsam sür die Abgabe der Steuer¬ erklärung vor, die im Laufe des Monats Januar in den Händen der Behörde sein soll. Mancher zieht es wohl auch vor, ein gutes Buch zu lesen, das er unterm Weihnachtsbaum gefunden. Die meisten aber wollen sich einmal un¬ gestört als gute Deutsche den mehr oder minder mächtigen Phantasien hingeben, die das Lichtermeer des Weihnachtsabends entfesselt hat. Herr von Bethmann glaubte solcher Stimmung keine Rechnung tragen zu brauchen. Kurz vor dem Weihnachtsfest hat er uns den Entwurf eines Gesetzes über die Verfassung Elsaß-Lothringens nebst Begründung auf deu Schreibtisch gelegt. Vermutlich hat er der Presse und den Politikern Zeit geben wollen, sich das Ding erst mal ordentlich durch den Kopf gehen zu lassen, ehe sie an die öffentliche Behandlung der Frage gingen, indem er den Schnelligkeitswettbewerb zwischen den Tageszeitungen unmöglich machte. Ist ihm solches gelungen? Die kommenden Verhandlungen werden es zeigen. Einstweilen drängen sich noch die negativen Möglichkeiten seines Vorgehens in den Vordergrund. Die Art, wie Herr von Bethmann die Gesetzentwürfe zur Erörterung gestellt hat, kommt in erster Linie deren Gegnern zugute, erschwert dagegen Freunden, sich um den Entwurf zu sammeln. Der Aristokrat Bethmann unterschätzt den praktischen Wert der Presse, dieses demokratischesten aller Verkehrsmittel, und er überschätzt die geistige Selbsttätigkeit der Politik treibenden und politisierenden Kreise. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß sich mit den elsaß-lothringischen' Entwürfen eine ähnliche Katastrophe für den Leiter der Regierung einleitet, wie im vorigen Jahr mit der preußischen Verfassungs¬ reform. Freilich ist die Parteikonstellation gegenwärtig im Reichstage ein wenig anders, günstiger als während des vorigen Jahres im preußischen Landtage. Diesmal haben das Zentrum und die Nationalliberalen ein lebhaftes Interesse daran, daß überhaupt etwas zustande kommt. Solch ein Interesse bestand im vergangenen Jahr eigentlich nur bei den Nationalliberalen, die sich leichter wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/58>, abgerufen am 24.07.2024.