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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Der religiöse Hintergrund der Drewüschen "Lhristnsmythe"

Selbstbewußtsein Gottes" aufschlagen, eine Schrift, die es verdient, mehr als
bisher in die Debatte hineingezogen zu werden. Drews beklagt es hier bitter,
daß wir heute so arm seien an wirklicher Religion und damit an wahrhaft
idealen Lebensinhalten, und daß dieser Mangel an religiöser Gesinnung nach¬
gerade anfange, die Wurzeln unseres nationalen Lebens zu unterhöhlen. Er
verneint grundsätzlich die Frage, ob Sittlichkeit möglich sei ohne Religion, und
hält es für die größte Selbsttäuschung, wenn die Sozialisten meinen, nach der
gänzlichen Abschaffung einer jeden Art von Religion werde der einzelne imstande
und bereit sein, sich bedingungslos für die Masse aufzuopfern und sein eigenes
Wohl demjenigen der anderen unterzuordnen. Was heute an echter Sittlichkeit
vorhanden sei, das sei, sofern es nicht selbst auf religiöser Grundlage ruhe, nur
ein stehengebliebener Rest einer verloren gegangenen religiösen Sittlichkeit. "Ein
Mensch, der wirklich keine Religion besitzt, ist ein verkrüppeltes Exemplar der
Gattung." Gegen seine heutigen monistischen Freunde wendet er sich dort noch
mit scharfen Worten und behauptet, daß die naturwissenschaftliche Weltanschauung
und der Darwinismus auf einen krassen Materialismus hinauslaufen, der mit
keiner Religion verträglich sei. Den Gedanken einer "materialistischen Religion",
der bekanntlich von Haeckel eifrig gepflegt wird, führt er auf eine "völlige
gedankliche Unklarheit" zurück, er kämpft gegen den mechanistischen Monismus,
und weiß, daß im letzten Menschenalter die Religion in eben dem Maße gesunken,
als der Glaube an den alleinseligmachenden Darwinismus gestiegen ist. Haeckels
Versuch, Gott als die bloße Summe der Atome und Moleküle aufzufassen,
erklärt er für einen Aberwitz. Das Christentuni mit feiner übersinnlichen Gottes¬
auffassung repräsentiert ihm in jeder Hinsicht einen höheren Standpunkt, als
der Naturalismus selbst in seiner modernsten Form, und der Übergang zu diesem
ist nicht etwa ein Fortschritt, sondern umgekehrt ein Rückfall in eine über¬
wundene Stufe des religiösen Bewußtseins.

So brennt ihm die Sehnsucht nach Erlösung in der Seele, aber ini
Christentum kann er sie nicht finden. Mit schmerzlicher Entrüstung weist er die
Versuche der modern liberalen Theologie zurück, ihren "historischen Jesus" den
suchenden, dürstenden Seelen als den Inbegriff des Heils anzupreisen. "Wir
sollten uns damit zufrieden geben, wie die Theologen an der Herstellung des
Bildes ihres historischen Jesus arbeiten, das unter den Händen eines jeden
Theologieprofessors sein Aussehen verändert, unsicher im Nebel der geschichtlichen
Vermutungen hin und her schwankt und durch jede neue Tatsache, jede neue
wissenschaftliche Theorie seine kaum erlangte Geltung wieder einbüßt?" Es ist
der Verzweiflungsschrei einer goldsuchenden, nach Erlösung sich sehnenden Seele,
der für ihren Hunger Steine statt des Brotes geboten werden. In der Tat,
ein schwankendes Gebilde ist dieser "moderne" Jesus I Ist er nun der sanft¬
mütige Rabbi oder der schwärmerische Eiferer gewesen? Hat er sich für den
Messias gehalten oder nicht? Hat er an ein Kommen seines Reiches geglaubt,



*) Jena und Leipzig, Verlag von Eugen Diederichs 1906.
Der religiöse Hintergrund der Drewüschen „Lhristnsmythe"

Selbstbewußtsein Gottes" aufschlagen, eine Schrift, die es verdient, mehr als
bisher in die Debatte hineingezogen zu werden. Drews beklagt es hier bitter,
daß wir heute so arm seien an wirklicher Religion und damit an wahrhaft
idealen Lebensinhalten, und daß dieser Mangel an religiöser Gesinnung nach¬
gerade anfange, die Wurzeln unseres nationalen Lebens zu unterhöhlen. Er
verneint grundsätzlich die Frage, ob Sittlichkeit möglich sei ohne Religion, und
hält es für die größte Selbsttäuschung, wenn die Sozialisten meinen, nach der
gänzlichen Abschaffung einer jeden Art von Religion werde der einzelne imstande
und bereit sein, sich bedingungslos für die Masse aufzuopfern und sein eigenes
Wohl demjenigen der anderen unterzuordnen. Was heute an echter Sittlichkeit
vorhanden sei, das sei, sofern es nicht selbst auf religiöser Grundlage ruhe, nur
ein stehengebliebener Rest einer verloren gegangenen religiösen Sittlichkeit. „Ein
Mensch, der wirklich keine Religion besitzt, ist ein verkrüppeltes Exemplar der
Gattung." Gegen seine heutigen monistischen Freunde wendet er sich dort noch
mit scharfen Worten und behauptet, daß die naturwissenschaftliche Weltanschauung
und der Darwinismus auf einen krassen Materialismus hinauslaufen, der mit
keiner Religion verträglich sei. Den Gedanken einer „materialistischen Religion",
der bekanntlich von Haeckel eifrig gepflegt wird, führt er auf eine „völlige
gedankliche Unklarheit" zurück, er kämpft gegen den mechanistischen Monismus,
und weiß, daß im letzten Menschenalter die Religion in eben dem Maße gesunken,
als der Glaube an den alleinseligmachenden Darwinismus gestiegen ist. Haeckels
Versuch, Gott als die bloße Summe der Atome und Moleküle aufzufassen,
erklärt er für einen Aberwitz. Das Christentuni mit feiner übersinnlichen Gottes¬
auffassung repräsentiert ihm in jeder Hinsicht einen höheren Standpunkt, als
der Naturalismus selbst in seiner modernsten Form, und der Übergang zu diesem
ist nicht etwa ein Fortschritt, sondern umgekehrt ein Rückfall in eine über¬
wundene Stufe des religiösen Bewußtseins.

So brennt ihm die Sehnsucht nach Erlösung in der Seele, aber ini
Christentum kann er sie nicht finden. Mit schmerzlicher Entrüstung weist er die
Versuche der modern liberalen Theologie zurück, ihren „historischen Jesus" den
suchenden, dürstenden Seelen als den Inbegriff des Heils anzupreisen. „Wir
sollten uns damit zufrieden geben, wie die Theologen an der Herstellung des
Bildes ihres historischen Jesus arbeiten, das unter den Händen eines jeden
Theologieprofessors sein Aussehen verändert, unsicher im Nebel der geschichtlichen
Vermutungen hin und her schwankt und durch jede neue Tatsache, jede neue
wissenschaftliche Theorie seine kaum erlangte Geltung wieder einbüßt?" Es ist
der Verzweiflungsschrei einer goldsuchenden, nach Erlösung sich sehnenden Seele,
der für ihren Hunger Steine statt des Brotes geboten werden. In der Tat,
ein schwankendes Gebilde ist dieser „moderne" Jesus I Ist er nun der sanft¬
mütige Rabbi oder der schwärmerische Eiferer gewesen? Hat er sich für den
Messias gehalten oder nicht? Hat er an ein Kommen seines Reiches geglaubt,



*) Jena und Leipzig, Verlag von Eugen Diederichs 1906.
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[0579] Der religiöse Hintergrund der Drewüschen „Lhristnsmythe" Selbstbewußtsein Gottes" aufschlagen, eine Schrift, die es verdient, mehr als bisher in die Debatte hineingezogen zu werden. Drews beklagt es hier bitter, daß wir heute so arm seien an wirklicher Religion und damit an wahrhaft idealen Lebensinhalten, und daß dieser Mangel an religiöser Gesinnung nach¬ gerade anfange, die Wurzeln unseres nationalen Lebens zu unterhöhlen. Er verneint grundsätzlich die Frage, ob Sittlichkeit möglich sei ohne Religion, und hält es für die größte Selbsttäuschung, wenn die Sozialisten meinen, nach der gänzlichen Abschaffung einer jeden Art von Religion werde der einzelne imstande und bereit sein, sich bedingungslos für die Masse aufzuopfern und sein eigenes Wohl demjenigen der anderen unterzuordnen. Was heute an echter Sittlichkeit vorhanden sei, das sei, sofern es nicht selbst auf religiöser Grundlage ruhe, nur ein stehengebliebener Rest einer verloren gegangenen religiösen Sittlichkeit. „Ein Mensch, der wirklich keine Religion besitzt, ist ein verkrüppeltes Exemplar der Gattung." Gegen seine heutigen monistischen Freunde wendet er sich dort noch mit scharfen Worten und behauptet, daß die naturwissenschaftliche Weltanschauung und der Darwinismus auf einen krassen Materialismus hinauslaufen, der mit keiner Religion verträglich sei. Den Gedanken einer „materialistischen Religion", der bekanntlich von Haeckel eifrig gepflegt wird, führt er auf eine „völlige gedankliche Unklarheit" zurück, er kämpft gegen den mechanistischen Monismus, und weiß, daß im letzten Menschenalter die Religion in eben dem Maße gesunken, als der Glaube an den alleinseligmachenden Darwinismus gestiegen ist. Haeckels Versuch, Gott als die bloße Summe der Atome und Moleküle aufzufassen, erklärt er für einen Aberwitz. Das Christentuni mit feiner übersinnlichen Gottes¬ auffassung repräsentiert ihm in jeder Hinsicht einen höheren Standpunkt, als der Naturalismus selbst in seiner modernsten Form, und der Übergang zu diesem ist nicht etwa ein Fortschritt, sondern umgekehrt ein Rückfall in eine über¬ wundene Stufe des religiösen Bewußtseins. So brennt ihm die Sehnsucht nach Erlösung in der Seele, aber ini Christentum kann er sie nicht finden. Mit schmerzlicher Entrüstung weist er die Versuche der modern liberalen Theologie zurück, ihren „historischen Jesus" den suchenden, dürstenden Seelen als den Inbegriff des Heils anzupreisen. „Wir sollten uns damit zufrieden geben, wie die Theologen an der Herstellung des Bildes ihres historischen Jesus arbeiten, das unter den Händen eines jeden Theologieprofessors sein Aussehen verändert, unsicher im Nebel der geschichtlichen Vermutungen hin und her schwankt und durch jede neue Tatsache, jede neue wissenschaftliche Theorie seine kaum erlangte Geltung wieder einbüßt?" Es ist der Verzweiflungsschrei einer goldsuchenden, nach Erlösung sich sehnenden Seele, der für ihren Hunger Steine statt des Brotes geboten werden. In der Tat, ein schwankendes Gebilde ist dieser „moderne" Jesus I Ist er nun der sanft¬ mütige Rabbi oder der schwärmerische Eiferer gewesen? Hat er sich für den Messias gehalten oder nicht? Hat er an ein Kommen seines Reiches geglaubt, *) Jena und Leipzig, Verlag von Eugen Diederichs 1906.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/579>, abgerufen am 24.07.2024.