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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Der rote Rausch

nachdenklichen Schritten, von seinen Träumen wie von neckenden Kobolden um¬
gaukelt, durch den breiten, herrschaftlichen Hausflur, wo einst in einer märchentiefen
Vergangenheit ein Seideknistern war, ein leichtes, höfisches Degenklirren, ein kokett
gedämpftes Flüstern, silbernes Lachen, Fächerwinken und, aus Spitzentüchlein
entquollen, ein feines courtisanenhaftes Parfüm; jetzt lagen Weinfässer hier, die
dickbauchig, phantastisch groß, altersschwarz unter der breit und frei angelegten
Treppe hervorsahen, und säuerlicher Weinkellerdunst schwebte über Gängen und
Stiegen geisterhaft durchs Haus. Über die ausgetretenen Steintreppen hinauf ging
Rouqui6 und fand in einem oberen Saal, mit Amorettenköpfen an den Gesimsen
und mit sonstigen Spuren verwitterter, feudaler Herrlichkeit, an einem langen,
wurmstichigen, wackligen Tisch Marcellin, die Pariser Agenten, die Häupter der
Winzervereinigung, den Pfarrer Lemire, Francillon, Abgeordnete aus Narbonne,
Montpellier, Böziers, aus allen benachbarten Weinbezirken.

Während unten ein Meer von Fröhlichkeit in hochgehenden Wogen um das
Haus schäumte und brandete, wütete in den oberen Räumen des alten Gemäuers
ein finsterer Gedanke. Es ging um das Schicksal der Ernte, die Hoffnungen der
Arbeitsjahre, um die Frucht der mit Schweiß gedüngten, wieder genesenen, gebene¬
deiten Erde----Es war keine freundliche Stunde. Marcellin hatte Mühe, die
ungestümen Ausbrüche des Unwillens zurückzubannen und zu verhindern, daß
einige Heißsporne sich an den Agenten vergriffen und sie zum Fenster hinauswarfen.

Rouquiö, freudig begrüßt, schob einen zerrissenen, roßhaargepolsterten Leder¬
stuhl an den Tisch neben seinen Freund Marcellin und ergriff nach eingeholter
kurzer Information das Wort.

He. Gastoni Windbeutel! Hast du je gehört, was eines Mannes Rede ist?
Mit offenem Mund würdest du stehen und staunen, blöd wie ein Knabe, glotzend,
verdutzt, von deiner eigenen Nichtigkeit erdrückt. He, teure Jeanne! Möchtest du
die Stimme vernehmen, die in breitem, glänzendem Strom dahinfließt, bald
donnernd über Katarakte stürzt, bald sanft in friedlichen Auen mit freundlichen
Ausblicken sich verbreitet, immer aber die Goldkörner der Weisheit, des Wissens
und der Erfahrung mit sich führend, Statistik, Volkswirtschaft, Politik, Fachpraxis!
Ein Studierter Mann, ein geschickter Führer, ein guter Streiter! Seine Stimme
müßte in der Wüste gehört werden! Mögest erkennen, Jeanne, was ein Fant ist,
und was ein rechter Mann ist!

Just im selben Augenblick scholl die helle Stimme Gastons, der unten zu
seiner Laute sang, zu den offenen Fenstern herein und unterbrach den glatten Fluß
der Rede des Bürgermeisters Nouquie. Dieser stockte ein wenig und ward ärger¬
lich, denn er bemerkte, daß die versammelten ernsten Männer dem Singsang draußen
ein willigeres Ohr liehen als den gewichtigen Worten des Winzers. Nur Vater
Marcellin runzelte unwillig die Stirn; aber die anwesenden Fremdlinge, Makler
und Geschäftsträger horchten schmunzelnd auf das nächtige Ständchen:

Ein Chorus fiel ein, die Zechbrüder Gastons, und sang den Refrain:


Der rote Rausch

nachdenklichen Schritten, von seinen Träumen wie von neckenden Kobolden um¬
gaukelt, durch den breiten, herrschaftlichen Hausflur, wo einst in einer märchentiefen
Vergangenheit ein Seideknistern war, ein leichtes, höfisches Degenklirren, ein kokett
gedämpftes Flüstern, silbernes Lachen, Fächerwinken und, aus Spitzentüchlein
entquollen, ein feines courtisanenhaftes Parfüm; jetzt lagen Weinfässer hier, die
dickbauchig, phantastisch groß, altersschwarz unter der breit und frei angelegten
Treppe hervorsahen, und säuerlicher Weinkellerdunst schwebte über Gängen und
Stiegen geisterhaft durchs Haus. Über die ausgetretenen Steintreppen hinauf ging
Rouqui6 und fand in einem oberen Saal, mit Amorettenköpfen an den Gesimsen
und mit sonstigen Spuren verwitterter, feudaler Herrlichkeit, an einem langen,
wurmstichigen, wackligen Tisch Marcellin, die Pariser Agenten, die Häupter der
Winzervereinigung, den Pfarrer Lemire, Francillon, Abgeordnete aus Narbonne,
Montpellier, Böziers, aus allen benachbarten Weinbezirken.

Während unten ein Meer von Fröhlichkeit in hochgehenden Wogen um das
Haus schäumte und brandete, wütete in den oberen Räumen des alten Gemäuers
ein finsterer Gedanke. Es ging um das Schicksal der Ernte, die Hoffnungen der
Arbeitsjahre, um die Frucht der mit Schweiß gedüngten, wieder genesenen, gebene¬
deiten Erde----Es war keine freundliche Stunde. Marcellin hatte Mühe, die
ungestümen Ausbrüche des Unwillens zurückzubannen und zu verhindern, daß
einige Heißsporne sich an den Agenten vergriffen und sie zum Fenster hinauswarfen.

Rouquiö, freudig begrüßt, schob einen zerrissenen, roßhaargepolsterten Leder¬
stuhl an den Tisch neben seinen Freund Marcellin und ergriff nach eingeholter
kurzer Information das Wort.

He. Gastoni Windbeutel! Hast du je gehört, was eines Mannes Rede ist?
Mit offenem Mund würdest du stehen und staunen, blöd wie ein Knabe, glotzend,
verdutzt, von deiner eigenen Nichtigkeit erdrückt. He, teure Jeanne! Möchtest du
die Stimme vernehmen, die in breitem, glänzendem Strom dahinfließt, bald
donnernd über Katarakte stürzt, bald sanft in friedlichen Auen mit freundlichen
Ausblicken sich verbreitet, immer aber die Goldkörner der Weisheit, des Wissens
und der Erfahrung mit sich führend, Statistik, Volkswirtschaft, Politik, Fachpraxis!
Ein Studierter Mann, ein geschickter Führer, ein guter Streiter! Seine Stimme
müßte in der Wüste gehört werden! Mögest erkennen, Jeanne, was ein Fant ist,
und was ein rechter Mann ist!

Just im selben Augenblick scholl die helle Stimme Gastons, der unten zu
seiner Laute sang, zu den offenen Fenstern herein und unterbrach den glatten Fluß
der Rede des Bürgermeisters Nouquie. Dieser stockte ein wenig und ward ärger¬
lich, denn er bemerkte, daß die versammelten ernsten Männer dem Singsang draußen
ein willigeres Ohr liehen als den gewichtigen Worten des Winzers. Nur Vater
Marcellin runzelte unwillig die Stirn; aber die anwesenden Fremdlinge, Makler
und Geschäftsträger horchten schmunzelnd auf das nächtige Ständchen:

Ein Chorus fiel ein, die Zechbrüder Gastons, und sang den Refrain:


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[0541] Der rote Rausch nachdenklichen Schritten, von seinen Träumen wie von neckenden Kobolden um¬ gaukelt, durch den breiten, herrschaftlichen Hausflur, wo einst in einer märchentiefen Vergangenheit ein Seideknistern war, ein leichtes, höfisches Degenklirren, ein kokett gedämpftes Flüstern, silbernes Lachen, Fächerwinken und, aus Spitzentüchlein entquollen, ein feines courtisanenhaftes Parfüm; jetzt lagen Weinfässer hier, die dickbauchig, phantastisch groß, altersschwarz unter der breit und frei angelegten Treppe hervorsahen, und säuerlicher Weinkellerdunst schwebte über Gängen und Stiegen geisterhaft durchs Haus. Über die ausgetretenen Steintreppen hinauf ging Rouqui6 und fand in einem oberen Saal, mit Amorettenköpfen an den Gesimsen und mit sonstigen Spuren verwitterter, feudaler Herrlichkeit, an einem langen, wurmstichigen, wackligen Tisch Marcellin, die Pariser Agenten, die Häupter der Winzervereinigung, den Pfarrer Lemire, Francillon, Abgeordnete aus Narbonne, Montpellier, Böziers, aus allen benachbarten Weinbezirken. Während unten ein Meer von Fröhlichkeit in hochgehenden Wogen um das Haus schäumte und brandete, wütete in den oberen Räumen des alten Gemäuers ein finsterer Gedanke. Es ging um das Schicksal der Ernte, die Hoffnungen der Arbeitsjahre, um die Frucht der mit Schweiß gedüngten, wieder genesenen, gebene¬ deiten Erde----Es war keine freundliche Stunde. Marcellin hatte Mühe, die ungestümen Ausbrüche des Unwillens zurückzubannen und zu verhindern, daß einige Heißsporne sich an den Agenten vergriffen und sie zum Fenster hinauswarfen. Rouquiö, freudig begrüßt, schob einen zerrissenen, roßhaargepolsterten Leder¬ stuhl an den Tisch neben seinen Freund Marcellin und ergriff nach eingeholter kurzer Information das Wort. He. Gastoni Windbeutel! Hast du je gehört, was eines Mannes Rede ist? Mit offenem Mund würdest du stehen und staunen, blöd wie ein Knabe, glotzend, verdutzt, von deiner eigenen Nichtigkeit erdrückt. He, teure Jeanne! Möchtest du die Stimme vernehmen, die in breitem, glänzendem Strom dahinfließt, bald donnernd über Katarakte stürzt, bald sanft in friedlichen Auen mit freundlichen Ausblicken sich verbreitet, immer aber die Goldkörner der Weisheit, des Wissens und der Erfahrung mit sich führend, Statistik, Volkswirtschaft, Politik, Fachpraxis! Ein Studierter Mann, ein geschickter Führer, ein guter Streiter! Seine Stimme müßte in der Wüste gehört werden! Mögest erkennen, Jeanne, was ein Fant ist, und was ein rechter Mann ist! Just im selben Augenblick scholl die helle Stimme Gastons, der unten zu seiner Laute sang, zu den offenen Fenstern herein und unterbrach den glatten Fluß der Rede des Bürgermeisters Nouquie. Dieser stockte ein wenig und ward ärger¬ lich, denn er bemerkte, daß die versammelten ernsten Männer dem Singsang draußen ein willigeres Ohr liehen als den gewichtigen Worten des Winzers. Nur Vater Marcellin runzelte unwillig die Stirn; aber die anwesenden Fremdlinge, Makler und Geschäftsträger horchten schmunzelnd auf das nächtige Ständchen: Ein Chorus fiel ein, die Zechbrüder Gastons, und sang den Refrain:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/541>, abgerufen am 24.07.2024.