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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Volksmärchen auf der Bühne

bereichert werden. Und unter solchen Umstünden wird die theatralische Märchen¬
aufführung ein wahres Fest im Leben des Kindes und in seiner Erziehung und
Ausbildung ein sehr bedeutender Faktor.

Es ist wohl selbstverständlich, daß auch unter den heute gegebenen Märchen¬
stücken manche zu finden sind, die von guter Hand poesievoller gestaltet sind
als die oben gemeinte Kategorie. Aber ein wirklich befriedigendes Märchenstück
ist auch bei fleißigen: Umschauen kaum zu entdecken. Denn selbst die Besten am
Werk halten sich auf einem gefahrvollen Mittelsteg, teils von der Überlieferung
beeinflußt, teils mit Rücksicht auf das kleine Publikum. Um zu wirklich künstlerisch
gestalteten Bühnenmärchen zu kommen, müssen aber gewisse grundlegende Wesens¬
bestimmtheiten erkannt und befolgt werden. Die Märchenerzählung ist stilistisch
eigenartig und bestimmt geformt. In schneller Folge reiht sie die wesentlichen
Punkte aneinander in schlankem Aufbau, sprunghaft, sie gleitet über dramatische Zu¬
spitzungen mit naiver Selbstverständlichkeit hinweg,typisiert die Personen und Gegen¬
stünde restlos, begnügtsich mit Andeutungen, indem es zu allererst auf die allschaffende
Phantasie des Hörers baut, und zieht das Wunderbare in die irdische Wirklichkeit
hinein mit einem Vertrauen, das nicht nach dem Woher und Wohin und Warum fragt.

Die lebendige, mit allen Einzelheiten sich abspielende Bühnenhandlung fordert
von alledem nahezu das Gegenteil. Sie verlangt das Beharren an wenigen
in ihrem Bedeutungsgehalt zusammengezogenen Stellen und innigst geschlossene
Fügung, wenigstens innerhalb der Akte; sie stützt sich auf dramatische (auch lyrisch¬
dramatische) Zuspitzungen und schöpft diese sorgsam aus. Milieuszenen fordern
Sättigung und zentripetale Kraft, Plastizitüt, charakterisierende Reflexbeleuchtung,
Steigerung. Die Gestalten erscheinen in anderer Daseinsart, man sieht ihnen
ins Gesicht, und darum müssen sie geprägter sein, blutvoller, wenngleich eine
zuweitgehende Individualisierung störend wirken muß.

Die dramatische Form verlangt festere, begründende Zusammenhänge: In
der Erzählung wird etwa berichtet von einen: armen Jungen, der auf seinem
wunderbaren Wege irgendwo einer verwunschenen Prinzessin begegnet, sie erlöst
und ihr Gemahl wird. Auf die Bühne gestellt interessiert der Vorgang nicht
genügend und bleibt schlaff in der Wirkung -- ganz anders, wenn der Knabe
von vornherein in enger Verbindung gezeigt wird mit dein Mägdlein, ihre
Schicksale voneinander abhängen, sich stetig kreuzen an entscheidenden Punkten,
helfend und bedrohend. Derartig war die Umbildung in einer neulich aus¬
geführten Dramatisierung des "Zwerg Nase", in dem die Prinzessin Gans zu
einer Spielgefährtin des Schnstersohnes Jakob gemacht war lind durch ihre
treue Liebe in sein Schicksal verwickelt ward. Die Erzählung beruht ganz auf
dem wunderbaren Gang der Handlung, auf der Bühne sieht man die einzelnen
Personen und will für sie und ihr Verhältnis untereinander stärker interessiert
sein, daher wird die innerlich festere Verwebung notwendig.

Die dramatische Form fordert eine ins Einzelne gehende Charakterisierung:
I" der Erzählung wird kurz berichtet von einem glänzenden Hof und einem


Grenzboten I 1911 65
Volksmärchen auf der Bühne

bereichert werden. Und unter solchen Umstünden wird die theatralische Märchen¬
aufführung ein wahres Fest im Leben des Kindes und in seiner Erziehung und
Ausbildung ein sehr bedeutender Faktor.

Es ist wohl selbstverständlich, daß auch unter den heute gegebenen Märchen¬
stücken manche zu finden sind, die von guter Hand poesievoller gestaltet sind
als die oben gemeinte Kategorie. Aber ein wirklich befriedigendes Märchenstück
ist auch bei fleißigen: Umschauen kaum zu entdecken. Denn selbst die Besten am
Werk halten sich auf einem gefahrvollen Mittelsteg, teils von der Überlieferung
beeinflußt, teils mit Rücksicht auf das kleine Publikum. Um zu wirklich künstlerisch
gestalteten Bühnenmärchen zu kommen, müssen aber gewisse grundlegende Wesens¬
bestimmtheiten erkannt und befolgt werden. Die Märchenerzählung ist stilistisch
eigenartig und bestimmt geformt. In schneller Folge reiht sie die wesentlichen
Punkte aneinander in schlankem Aufbau, sprunghaft, sie gleitet über dramatische Zu¬
spitzungen mit naiver Selbstverständlichkeit hinweg,typisiert die Personen und Gegen¬
stünde restlos, begnügtsich mit Andeutungen, indem es zu allererst auf die allschaffende
Phantasie des Hörers baut, und zieht das Wunderbare in die irdische Wirklichkeit
hinein mit einem Vertrauen, das nicht nach dem Woher und Wohin und Warum fragt.

Die lebendige, mit allen Einzelheiten sich abspielende Bühnenhandlung fordert
von alledem nahezu das Gegenteil. Sie verlangt das Beharren an wenigen
in ihrem Bedeutungsgehalt zusammengezogenen Stellen und innigst geschlossene
Fügung, wenigstens innerhalb der Akte; sie stützt sich auf dramatische (auch lyrisch¬
dramatische) Zuspitzungen und schöpft diese sorgsam aus. Milieuszenen fordern
Sättigung und zentripetale Kraft, Plastizitüt, charakterisierende Reflexbeleuchtung,
Steigerung. Die Gestalten erscheinen in anderer Daseinsart, man sieht ihnen
ins Gesicht, und darum müssen sie geprägter sein, blutvoller, wenngleich eine
zuweitgehende Individualisierung störend wirken muß.

Die dramatische Form verlangt festere, begründende Zusammenhänge: In
der Erzählung wird etwa berichtet von einen: armen Jungen, der auf seinem
wunderbaren Wege irgendwo einer verwunschenen Prinzessin begegnet, sie erlöst
und ihr Gemahl wird. Auf die Bühne gestellt interessiert der Vorgang nicht
genügend und bleibt schlaff in der Wirkung — ganz anders, wenn der Knabe
von vornherein in enger Verbindung gezeigt wird mit dein Mägdlein, ihre
Schicksale voneinander abhängen, sich stetig kreuzen an entscheidenden Punkten,
helfend und bedrohend. Derartig war die Umbildung in einer neulich aus¬
geführten Dramatisierung des „Zwerg Nase", in dem die Prinzessin Gans zu
einer Spielgefährtin des Schnstersohnes Jakob gemacht war lind durch ihre
treue Liebe in sein Schicksal verwickelt ward. Die Erzählung beruht ganz auf
dem wunderbaren Gang der Handlung, auf der Bühne sieht man die einzelnen
Personen und will für sie und ihr Verhältnis untereinander stärker interessiert
sein, daher wird die innerlich festere Verwebung notwendig.

Die dramatische Form fordert eine ins Einzelne gehende Charakterisierung:
I» der Erzählung wird kurz berichtet von einem glänzenden Hof und einem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/527>, abgerufen am 30.12.2024.