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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Glaubensverfolgungen, die beide als Folgen einer fehlerhaft angesetzten und noch
fehlerhafter durchgeführten Bauernbefreiung anzusehen sind und die unter gleich¬
zeitiger Ausbreitung kirchenfeindlicher Strömungen und Sekten schließlich zu
den uns mittelalterlich anmutenden Bauernaufständen führten, die das
russische Reich von 1898 bis 1906 erschütterten. Erst fünfundvierzig Jahre
nach jenem Erlaß Alexanders des Zweiten entschloß sich die Regierung
unter Führung P. A. Stolypins dasjenige zu tun, was unter den einmal vor¬
handenen Umständen allein.eine gesunde Bauernpolitik anzubahnen vermag.
Durch Ukas vom November 1906 wurde die Auflösung des Gemeindebesitzes
und Einführung des Jndividualbesitzes befohlen, nachdem die Mir - Gemeinde,
von jeder kulturellen Zufuhr abgeschnitten, tatsächlich verdorrt war. Der Zar
stellte für die Befriedigung der ersten Not über eine Million Hektar Land aus
den Apanage- und fiskalischen Gütern zur Verfügung, und in allen Kreisen des
weiten Reichs entstanden die sogenannten Landordnungskommissionen, um die
Neugestaltung der Agrarverfassung in die Praxis überzuführen. Auf dem Papier,
am Regierungstisch ging alles ganz schön. Um so größer wurden die Schwierig¬
keiten draußen in der Provinz. Neben den technischen Schwierigkeiten, die im
Mangel geeigneter Beamten und Landmesser liegen, kam es den Gesetzgebern
plötzlich auch zum Bewußtsein, daß die Auflösung der alten Gemeinde den
Fortfall der bisherigen auf dem Gewohnheitsrecht beruhenden Bauerngesetze
notwendig machte und so den Bauern unter die allgemeine Gerichtsbarkeit stellte.
Noch schwerwiegender aber war ein Moment volkswirtschaftlicher, sozialer Natur:
wer sollte Besitzer des zusammengelegten Bauerngutes werden und wie sollten
die Familienmitglieder, also bisherigen Teilhaber an der Dorfgemeinde abgefunden
werden? Nach langwierigen Beratungen haben die russischen Gesetzgeber sich
vor einigen Wochen dazu entschlossen, die Frage radikal zu lösen. Der Familien¬
älteste wird alleiniger Besitzer des zusammengelegten Gutes und soll nicht gehalten
sein, die anderen Familienglieder abzufinden. Von einer solchen Lösung, die
übrigens noch nicht Gesetz geworden ist, verspricht man sich vor allen Dingen
die Schaffung eines bäuerlichen Mittelstandes und dadurch das Entstehen eines
Mittelstandes überhaupt. Die Landarbeiterfrage würde sich, so hofft man, nicht
verschlechtern, weil die Mehrzahl der Bauern schon unter den bisherigen Ver¬
hältnissen Erwerb durch Wanderarbeit gesucht habe. Ja, man hofft sogar, daß
die Notwendigkeit und das sich voraussichtlich einstellende Bedürfnis, den Boden
intensiver zu bearbeiten, die Arbeiter seßhafter machen wird, als wie es bisher
der Fall war. wo die Dorfgenossen auf Außenarbeit gehen mußten, um bares
Geld zur Steuerzahlung in die Gemeinde schaffen zu können. Einen größeren
Zustrom der nunmehr völlig proletarisierten Arbeiter in die Städte befürchtet
man nicht.

Es hat nun den Anschein, als wenn die Regierung gehofft hätte, eine
Frage ohne Schwierigkeiten lösen zu können, um die sie sich fünfzig Jahre hin¬
durch herumgedrückt hat, um die Schulfrage. Doch als man die Frage unter


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Glaubensverfolgungen, die beide als Folgen einer fehlerhaft angesetzten und noch
fehlerhafter durchgeführten Bauernbefreiung anzusehen sind und die unter gleich¬
zeitiger Ausbreitung kirchenfeindlicher Strömungen und Sekten schließlich zu
den uns mittelalterlich anmutenden Bauernaufständen führten, die das
russische Reich von 1898 bis 1906 erschütterten. Erst fünfundvierzig Jahre
nach jenem Erlaß Alexanders des Zweiten entschloß sich die Regierung
unter Führung P. A. Stolypins dasjenige zu tun, was unter den einmal vor¬
handenen Umständen allein.eine gesunde Bauernpolitik anzubahnen vermag.
Durch Ukas vom November 1906 wurde die Auflösung des Gemeindebesitzes
und Einführung des Jndividualbesitzes befohlen, nachdem die Mir - Gemeinde,
von jeder kulturellen Zufuhr abgeschnitten, tatsächlich verdorrt war. Der Zar
stellte für die Befriedigung der ersten Not über eine Million Hektar Land aus
den Apanage- und fiskalischen Gütern zur Verfügung, und in allen Kreisen des
weiten Reichs entstanden die sogenannten Landordnungskommissionen, um die
Neugestaltung der Agrarverfassung in die Praxis überzuführen. Auf dem Papier,
am Regierungstisch ging alles ganz schön. Um so größer wurden die Schwierig¬
keiten draußen in der Provinz. Neben den technischen Schwierigkeiten, die im
Mangel geeigneter Beamten und Landmesser liegen, kam es den Gesetzgebern
plötzlich auch zum Bewußtsein, daß die Auflösung der alten Gemeinde den
Fortfall der bisherigen auf dem Gewohnheitsrecht beruhenden Bauerngesetze
notwendig machte und so den Bauern unter die allgemeine Gerichtsbarkeit stellte.
Noch schwerwiegender aber war ein Moment volkswirtschaftlicher, sozialer Natur:
wer sollte Besitzer des zusammengelegten Bauerngutes werden und wie sollten
die Familienmitglieder, also bisherigen Teilhaber an der Dorfgemeinde abgefunden
werden? Nach langwierigen Beratungen haben die russischen Gesetzgeber sich
vor einigen Wochen dazu entschlossen, die Frage radikal zu lösen. Der Familien¬
älteste wird alleiniger Besitzer des zusammengelegten Gutes und soll nicht gehalten
sein, die anderen Familienglieder abzufinden. Von einer solchen Lösung, die
übrigens noch nicht Gesetz geworden ist, verspricht man sich vor allen Dingen
die Schaffung eines bäuerlichen Mittelstandes und dadurch das Entstehen eines
Mittelstandes überhaupt. Die Landarbeiterfrage würde sich, so hofft man, nicht
verschlechtern, weil die Mehrzahl der Bauern schon unter den bisherigen Ver¬
hältnissen Erwerb durch Wanderarbeit gesucht habe. Ja, man hofft sogar, daß
die Notwendigkeit und das sich voraussichtlich einstellende Bedürfnis, den Boden
intensiver zu bearbeiten, die Arbeiter seßhafter machen wird, als wie es bisher
der Fall war. wo die Dorfgenossen auf Außenarbeit gehen mußten, um bares
Geld zur Steuerzahlung in die Gemeinde schaffen zu können. Einen größeren
Zustrom der nunmehr völlig proletarisierten Arbeiter in die Städte befürchtet
man nicht.

Es hat nun den Anschein, als wenn die Regierung gehofft hätte, eine
Frage ohne Schwierigkeiten lösen zu können, um die sie sich fünfzig Jahre hin¬
durch herumgedrückt hat, um die Schulfrage. Doch als man die Frage unter


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[0461] Reichsspiegel Glaubensverfolgungen, die beide als Folgen einer fehlerhaft angesetzten und noch fehlerhafter durchgeführten Bauernbefreiung anzusehen sind und die unter gleich¬ zeitiger Ausbreitung kirchenfeindlicher Strömungen und Sekten schließlich zu den uns mittelalterlich anmutenden Bauernaufständen führten, die das russische Reich von 1898 bis 1906 erschütterten. Erst fünfundvierzig Jahre nach jenem Erlaß Alexanders des Zweiten entschloß sich die Regierung unter Führung P. A. Stolypins dasjenige zu tun, was unter den einmal vor¬ handenen Umständen allein.eine gesunde Bauernpolitik anzubahnen vermag. Durch Ukas vom November 1906 wurde die Auflösung des Gemeindebesitzes und Einführung des Jndividualbesitzes befohlen, nachdem die Mir - Gemeinde, von jeder kulturellen Zufuhr abgeschnitten, tatsächlich verdorrt war. Der Zar stellte für die Befriedigung der ersten Not über eine Million Hektar Land aus den Apanage- und fiskalischen Gütern zur Verfügung, und in allen Kreisen des weiten Reichs entstanden die sogenannten Landordnungskommissionen, um die Neugestaltung der Agrarverfassung in die Praxis überzuführen. Auf dem Papier, am Regierungstisch ging alles ganz schön. Um so größer wurden die Schwierig¬ keiten draußen in der Provinz. Neben den technischen Schwierigkeiten, die im Mangel geeigneter Beamten und Landmesser liegen, kam es den Gesetzgebern plötzlich auch zum Bewußtsein, daß die Auflösung der alten Gemeinde den Fortfall der bisherigen auf dem Gewohnheitsrecht beruhenden Bauerngesetze notwendig machte und so den Bauern unter die allgemeine Gerichtsbarkeit stellte. Noch schwerwiegender aber war ein Moment volkswirtschaftlicher, sozialer Natur: wer sollte Besitzer des zusammengelegten Bauerngutes werden und wie sollten die Familienmitglieder, also bisherigen Teilhaber an der Dorfgemeinde abgefunden werden? Nach langwierigen Beratungen haben die russischen Gesetzgeber sich vor einigen Wochen dazu entschlossen, die Frage radikal zu lösen. Der Familien¬ älteste wird alleiniger Besitzer des zusammengelegten Gutes und soll nicht gehalten sein, die anderen Familienglieder abzufinden. Von einer solchen Lösung, die übrigens noch nicht Gesetz geworden ist, verspricht man sich vor allen Dingen die Schaffung eines bäuerlichen Mittelstandes und dadurch das Entstehen eines Mittelstandes überhaupt. Die Landarbeiterfrage würde sich, so hofft man, nicht verschlechtern, weil die Mehrzahl der Bauern schon unter den bisherigen Ver¬ hältnissen Erwerb durch Wanderarbeit gesucht habe. Ja, man hofft sogar, daß die Notwendigkeit und das sich voraussichtlich einstellende Bedürfnis, den Boden intensiver zu bearbeiten, die Arbeiter seßhafter machen wird, als wie es bisher der Fall war. wo die Dorfgenossen auf Außenarbeit gehen mußten, um bares Geld zur Steuerzahlung in die Gemeinde schaffen zu können. Einen größeren Zustrom der nunmehr völlig proletarisierten Arbeiter in die Städte befürchtet man nicht. Es hat nun den Anschein, als wenn die Regierung gehofft hätte, eine Frage ohne Schwierigkeiten lösen zu können, um die sie sich fünfzig Jahre hin¬ durch herumgedrückt hat, um die Schulfrage. Doch als man die Frage unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/461>, abgerufen am 24.07.2024.