Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.Neichssxiegel wir füglich darüber lächeln. Der Temps hat denn auch die ihm gebührende Es wird hier besonders an das Werk der Bauernemanzipation gedacht, Neichssxiegel wir füglich darüber lächeln. Der Temps hat denn auch die ihm gebührende Es wird hier besonders an das Werk der Bauernemanzipation gedacht, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0460" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318073"/> <fw type="header" place="top"> Neichssxiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_2101" prev="#ID_2100"> wir füglich darüber lächeln. Der Temps hat denn auch die ihm gebührende<lb/> kurze Abfuhr durch die norddeutsche Allgemeine Zeitung erfahren. Aber gerade<lb/> dies Märchen wird teils gutgläubig, teils wider besseres Wissen dazu benutzt, um die<lb/> Eitelkeit der Russen zu verletzen oder die russische Regierung in den Augen der<lb/> Gesellschaft herabzusetzen und auf diesem Wege von der einen Seite die Autorität<lb/> der Regierung zu schwächen, von der anderen jeden Versuch eines Zusammen¬<lb/> gehens zwischen Deutschland und Nußland zu erschweren. Die russischen Demo¬<lb/> kraten erwarten ihr Glück von Frankreich, dem Lande der Großen Revolution,<lb/> die Nationalisten aller Farben sehen sich der Möglichkeit beraubt, den „slawischen"<lb/> Weichselstrom in Besitz zu nehmen, oder fürchten, Deutschland könne sich einige<lb/> polnische und litauische Gouvernements in die Tasche stecken. Darum hassen<lb/> sie Preußen-Deutschland in seiner Kraft. Im übrigen ist das Märchen ein<lb/> Überbleibsel aus der Zeit der heiligen Allianz, die die drei Kaiserstaaten gegen<lb/> die westliche Demokratie zusammenstehen hieß. Seitdem hat sich aber vieles<lb/> geändert. Man darf, ohne die historische Wahrheit zu verletzen, getrost behaupten,<lb/> daß Rußlands Zaren seit dem Tode des ersten Nikolaus in allen Fragen der<lb/> inneren und äußeren Politik ihren Weg unabhängig von preußischem Einfluß<lb/> gegangen sind, ja, daß die russischen Regierungen sogar bis in die jüngste Zeit<lb/> bei Reformen selbst dann ängstlich vermieden, das preußische Muster anzuwenden,<lb/> wo es nach der Natur der Sache das einzig Gegebene war.</p><lb/> <p xml:id="ID_2102" next="#ID_2103"> Es wird hier besonders an das Werk der Bauernemanzipation gedacht,<lb/> dessen Jahrestag am 3. März zum fünfzigstenmal wiederkehrt. Wir wollen<lb/> dabei ein wenig verweilen. Das Manifest vom 19. Februar (3. März) 1861<lb/> befreite den russischen Bauer vom Großgrundbesitzer, kettete ihn aber mit viel<lb/> schwereren Banden an die Dorfgenossenschaft. Der Grund für diese Form der<lb/> Befreiung liegt in der eigenartig romantischen Auffassung, die die Slawjanophilen<lb/> vom Wesen des russischen Staats hatten. Die Gesetzgeber verfolgten die Absicht,<lb/> den russischen Charakter sich unbeeinflußt durch nichtrussische Elemente entwickeln<lb/> zu lassen. In Ausführung des slawjanophilen Programmes machte man jeden<lb/> früheren Leibeigenen zum Landbesitzer, scheute sich aber, dessen kulturellen Teil<lb/> gleichfalls zu verwirklichen, indem man dem Bauer Bildung zuführte, die er<lb/> besitzen mußte, nicht nur, um sich auf dem immer kleiner werdenden Landanteil<lb/> ernähren, sondern um seine russische Eigenart auch entwickeln zu können. Die<lb/> Wirtschaftsmethode des russischen Bauern hat sich infolgedessen trotz der größten<lb/> Bemühungen durch die Semstwo in den abgelaufenen fünfzig Jahren nur<lb/> unwesentlich verbessert, und die Not trieb ihn schließlich dazu, sich am<lb/> scheinbar unerschöpflichen Besitz des Großgrundbesitzers zu vergreifen. Man<lb/> wollte aus Humanitären Gründen, aber auch aus nationaler Eitelkeit nicht<lb/> zugeben, daß gewisse soziale und wirtschaftliche Fragen sich ohne Rücksicht auf<lb/> die Nationalität nach ehernen Gesetzen richten, durch die alle zur höheren Kultur<lb/> strebenden Völker hindurch müssen. Die abgelaufenen fünfzig Jahre Geschichte<lb/> des russischen Bauernstandes sind eine lange Reihe von Hungerjahren und</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0460]
Neichssxiegel
wir füglich darüber lächeln. Der Temps hat denn auch die ihm gebührende
kurze Abfuhr durch die norddeutsche Allgemeine Zeitung erfahren. Aber gerade
dies Märchen wird teils gutgläubig, teils wider besseres Wissen dazu benutzt, um die
Eitelkeit der Russen zu verletzen oder die russische Regierung in den Augen der
Gesellschaft herabzusetzen und auf diesem Wege von der einen Seite die Autorität
der Regierung zu schwächen, von der anderen jeden Versuch eines Zusammen¬
gehens zwischen Deutschland und Nußland zu erschweren. Die russischen Demo¬
kraten erwarten ihr Glück von Frankreich, dem Lande der Großen Revolution,
die Nationalisten aller Farben sehen sich der Möglichkeit beraubt, den „slawischen"
Weichselstrom in Besitz zu nehmen, oder fürchten, Deutschland könne sich einige
polnische und litauische Gouvernements in die Tasche stecken. Darum hassen
sie Preußen-Deutschland in seiner Kraft. Im übrigen ist das Märchen ein
Überbleibsel aus der Zeit der heiligen Allianz, die die drei Kaiserstaaten gegen
die westliche Demokratie zusammenstehen hieß. Seitdem hat sich aber vieles
geändert. Man darf, ohne die historische Wahrheit zu verletzen, getrost behaupten,
daß Rußlands Zaren seit dem Tode des ersten Nikolaus in allen Fragen der
inneren und äußeren Politik ihren Weg unabhängig von preußischem Einfluß
gegangen sind, ja, daß die russischen Regierungen sogar bis in die jüngste Zeit
bei Reformen selbst dann ängstlich vermieden, das preußische Muster anzuwenden,
wo es nach der Natur der Sache das einzig Gegebene war.
Es wird hier besonders an das Werk der Bauernemanzipation gedacht,
dessen Jahrestag am 3. März zum fünfzigstenmal wiederkehrt. Wir wollen
dabei ein wenig verweilen. Das Manifest vom 19. Februar (3. März) 1861
befreite den russischen Bauer vom Großgrundbesitzer, kettete ihn aber mit viel
schwereren Banden an die Dorfgenossenschaft. Der Grund für diese Form der
Befreiung liegt in der eigenartig romantischen Auffassung, die die Slawjanophilen
vom Wesen des russischen Staats hatten. Die Gesetzgeber verfolgten die Absicht,
den russischen Charakter sich unbeeinflußt durch nichtrussische Elemente entwickeln
zu lassen. In Ausführung des slawjanophilen Programmes machte man jeden
früheren Leibeigenen zum Landbesitzer, scheute sich aber, dessen kulturellen Teil
gleichfalls zu verwirklichen, indem man dem Bauer Bildung zuführte, die er
besitzen mußte, nicht nur, um sich auf dem immer kleiner werdenden Landanteil
ernähren, sondern um seine russische Eigenart auch entwickeln zu können. Die
Wirtschaftsmethode des russischen Bauern hat sich infolgedessen trotz der größten
Bemühungen durch die Semstwo in den abgelaufenen fünfzig Jahren nur
unwesentlich verbessert, und die Not trieb ihn schließlich dazu, sich am
scheinbar unerschöpflichen Besitz des Großgrundbesitzers zu vergreifen. Man
wollte aus Humanitären Gründen, aber auch aus nationaler Eitelkeit nicht
zugeben, daß gewisse soziale und wirtschaftliche Fragen sich ohne Rücksicht auf
die Nationalität nach ehernen Gesetzen richten, durch die alle zur höheren Kultur
strebenden Völker hindurch müssen. Die abgelaufenen fünfzig Jahre Geschichte
des russischen Bauernstandes sind eine lange Reihe von Hungerjahren und
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |