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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

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Auswärtige Politik

Rußland und China -- Russische Expansionspolitik -- Deutsche Ratschläge an Ru߬
land --> Ihre Rückwirkungen auf die innere Politik -- Fünfzig Jahre Bnuernpolitik --
Rußland auf dem Wege zum Föderatwstaat,

Seit einigen Monaten -- uns fiel es zuerst in: Oktober vorigen Jahres
auf -- konnte man in der russischen Presse häufiger Beschwerden über angeblich
schikanöse Maßnahmen der chinesischen Behörden gegen russische Unter¬
tanen lesen. In der Nowoje Wremja fand sich auch im Herbst vorigen Jahres
die Beschuldigung, die chinesische Regierung dulde irgendwo auf chinesischem
Gebiet (die näheren Daten sind mir entfallen) das Treiben eines deutschen
Konsuls zum Schaden des russischen Handels. Im Januar d. Is. gab das
Einschreiten der chinesischen Grenzbehörden gegen zwei Offiziere der Garnison
von Blagoweschtschensk, die trunkenen Mutes sich in Ta-che-ho unbeliebt gemacht
hatten, Nahrung für nationale Entrüstung. Für den, der die geheimen Fäden
kennt, die zwischen der russischen Heeresleitung, der Presse und dem auswärtigen
Amt geknüpft sind, waren diese Entrüstungsrufe der Presse deutliche Anzeichen
mindestens für das Vorhandensein irgendwelcher Besprechungen, die nicht ganz
nach Wunsch der Petersburger Diplomatie gingen. Und so war es auch. Seit
Jahr und Tag bemüht man sich an der Newa, den am 24. Februar nach dreißig¬
jährigen Bestehen abgelaufenen Ili-Vertrag unter den alten für China nicht
eben günstigen Bedingungen zu erneuern, während China, dessen Volk, geweckt
durch die verschiedenen Kulturboten des Westens und Ostens, sich die Allgen zu
reiben beginnt, zunächst durch passivem Widerstand eine Entscheidung hinaus¬
zuschieben wünscht. Die chinesische Regierung geht dabei von der Erwägung
aus, daß jeder Tag Verzug eine Festigung ihrer Stellung in den Russisch-
Turkestcm berührenden Grenzgebieten bedeutet. Dort, eben im Jligebiet, hat schon
vor etwa sechs Jahren chinesische Kolonisationsarbeit eingesetzt, die anfänglich
zwar nicht recht voran kam, aber seit dem Jahre 1909 unter dem verständnis¬
vollen Druck der China ergebenen Mongoleifürsten Wurzel zu schlagen beginnt.
Diese für Rußland unliebsame Entdeckung wurde durch zivei Expeditionen
bestätigt, die Moskaner Fabrikanten und Kaufleute, unterstützt durch das Handels¬
ministerium, in den letzten Jahren in den Grenzbezirken des Jligebietes unter¬
nahmen, um die Bedürfnisse und Kaufkraft des Landes zu studieren. Die
Berichte der Expeditionen wurden im Dezember 1910 zu Moskau erörtert,
aber in einer Form, daß die eigentliche Aktion durch eine breite Behandlung
der russisch-indischen Eisenbahnsrage für die breite Öffentlichkeit verschleiert werden
konnte. Dadurch wurde die europäische Presse über die tatsächlichen Ziele der
Regierung irre geführt. Selbst die Verbündeten Rußlands, Frankreich und
England, beklagen sich nun darüber, an der Nase herumgeführt zu sein. In


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Rußland und China — Russische Expansionspolitik — Deutsche Ratschläge an Ru߬
land —> Ihre Rückwirkungen auf die innere Politik — Fünfzig Jahre Bnuernpolitik —
Rußland auf dem Wege zum Föderatwstaat,

Seit einigen Monaten — uns fiel es zuerst in: Oktober vorigen Jahres
auf — konnte man in der russischen Presse häufiger Beschwerden über angeblich
schikanöse Maßnahmen der chinesischen Behörden gegen russische Unter¬
tanen lesen. In der Nowoje Wremja fand sich auch im Herbst vorigen Jahres
die Beschuldigung, die chinesische Regierung dulde irgendwo auf chinesischem
Gebiet (die näheren Daten sind mir entfallen) das Treiben eines deutschen
Konsuls zum Schaden des russischen Handels. Im Januar d. Is. gab das
Einschreiten der chinesischen Grenzbehörden gegen zwei Offiziere der Garnison
von Blagoweschtschensk, die trunkenen Mutes sich in Ta-che-ho unbeliebt gemacht
hatten, Nahrung für nationale Entrüstung. Für den, der die geheimen Fäden
kennt, die zwischen der russischen Heeresleitung, der Presse und dem auswärtigen
Amt geknüpft sind, waren diese Entrüstungsrufe der Presse deutliche Anzeichen
mindestens für das Vorhandensein irgendwelcher Besprechungen, die nicht ganz
nach Wunsch der Petersburger Diplomatie gingen. Und so war es auch. Seit
Jahr und Tag bemüht man sich an der Newa, den am 24. Februar nach dreißig¬
jährigen Bestehen abgelaufenen Ili-Vertrag unter den alten für China nicht
eben günstigen Bedingungen zu erneuern, während China, dessen Volk, geweckt
durch die verschiedenen Kulturboten des Westens und Ostens, sich die Allgen zu
reiben beginnt, zunächst durch passivem Widerstand eine Entscheidung hinaus¬
zuschieben wünscht. Die chinesische Regierung geht dabei von der Erwägung
aus, daß jeder Tag Verzug eine Festigung ihrer Stellung in den Russisch-
Turkestcm berührenden Grenzgebieten bedeutet. Dort, eben im Jligebiet, hat schon
vor etwa sechs Jahren chinesische Kolonisationsarbeit eingesetzt, die anfänglich
zwar nicht recht voran kam, aber seit dem Jahre 1909 unter dem verständnis¬
vollen Druck der China ergebenen Mongoleifürsten Wurzel zu schlagen beginnt.
Diese für Rußland unliebsame Entdeckung wurde durch zivei Expeditionen
bestätigt, die Moskaner Fabrikanten und Kaufleute, unterstützt durch das Handels¬
ministerium, in den letzten Jahren in den Grenzbezirken des Jligebietes unter¬
nahmen, um die Bedürfnisse und Kaufkraft des Landes zu studieren. Die
Berichte der Expeditionen wurden im Dezember 1910 zu Moskau erörtert,
aber in einer Form, daß die eigentliche Aktion durch eine breite Behandlung
der russisch-indischen Eisenbahnsrage für die breite Öffentlichkeit verschleiert werden
konnte. Dadurch wurde die europäische Presse über die tatsächlichen Ziele der
Regierung irre geführt. Selbst die Verbündeten Rußlands, Frankreich und
England, beklagen sich nun darüber, an der Nase herumgeführt zu sein. In


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[0458] Reichsspiegel Reichsspiegel Auswärtige Politik Rußland und China — Russische Expansionspolitik — Deutsche Ratschläge an Ru߬ land —> Ihre Rückwirkungen auf die innere Politik — Fünfzig Jahre Bnuernpolitik — Rußland auf dem Wege zum Föderatwstaat, Seit einigen Monaten — uns fiel es zuerst in: Oktober vorigen Jahres auf — konnte man in der russischen Presse häufiger Beschwerden über angeblich schikanöse Maßnahmen der chinesischen Behörden gegen russische Unter¬ tanen lesen. In der Nowoje Wremja fand sich auch im Herbst vorigen Jahres die Beschuldigung, die chinesische Regierung dulde irgendwo auf chinesischem Gebiet (die näheren Daten sind mir entfallen) das Treiben eines deutschen Konsuls zum Schaden des russischen Handels. Im Januar d. Is. gab das Einschreiten der chinesischen Grenzbehörden gegen zwei Offiziere der Garnison von Blagoweschtschensk, die trunkenen Mutes sich in Ta-che-ho unbeliebt gemacht hatten, Nahrung für nationale Entrüstung. Für den, der die geheimen Fäden kennt, die zwischen der russischen Heeresleitung, der Presse und dem auswärtigen Amt geknüpft sind, waren diese Entrüstungsrufe der Presse deutliche Anzeichen mindestens für das Vorhandensein irgendwelcher Besprechungen, die nicht ganz nach Wunsch der Petersburger Diplomatie gingen. Und so war es auch. Seit Jahr und Tag bemüht man sich an der Newa, den am 24. Februar nach dreißig¬ jährigen Bestehen abgelaufenen Ili-Vertrag unter den alten für China nicht eben günstigen Bedingungen zu erneuern, während China, dessen Volk, geweckt durch die verschiedenen Kulturboten des Westens und Ostens, sich die Allgen zu reiben beginnt, zunächst durch passivem Widerstand eine Entscheidung hinaus¬ zuschieben wünscht. Die chinesische Regierung geht dabei von der Erwägung aus, daß jeder Tag Verzug eine Festigung ihrer Stellung in den Russisch- Turkestcm berührenden Grenzgebieten bedeutet. Dort, eben im Jligebiet, hat schon vor etwa sechs Jahren chinesische Kolonisationsarbeit eingesetzt, die anfänglich zwar nicht recht voran kam, aber seit dem Jahre 1909 unter dem verständnis¬ vollen Druck der China ergebenen Mongoleifürsten Wurzel zu schlagen beginnt. Diese für Rußland unliebsame Entdeckung wurde durch zivei Expeditionen bestätigt, die Moskaner Fabrikanten und Kaufleute, unterstützt durch das Handels¬ ministerium, in den letzten Jahren in den Grenzbezirken des Jligebietes unter¬ nahmen, um die Bedürfnisse und Kaufkraft des Landes zu studieren. Die Berichte der Expeditionen wurden im Dezember 1910 zu Moskau erörtert, aber in einer Form, daß die eigentliche Aktion durch eine breite Behandlung der russisch-indischen Eisenbahnsrage für die breite Öffentlichkeit verschleiert werden konnte. Dadurch wurde die europäische Presse über die tatsächlichen Ziele der Regierung irre geführt. Selbst die Verbündeten Rußlands, Frankreich und England, beklagen sich nun darüber, an der Nase herumgeführt zu sein. In

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/458>, abgerufen am 04.07.2024.