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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Begegnung mit Schwester Luscinia

Schwert aus dem Herzen der allerheiligsten Jungfrau und schlage erlösende
Wunden uns Unheiligen! Stille die Schmerzen des Irdischen, aber wühle auf
unsre niedrigen Seelen mit überirdischen Leiden! Reiße auf mein sündiges Fleisch,
wasche mich rein in Blut und mache mich heil mit deinem Worte I'

Hierauf öffneten sich die roten Stigmata ihrer Hände, klafften auseinander wie
zwei tiefe Schnitte und ließen tropfenweise ihr Blut entquellen."

"Genug!" rief ich. "Wir wollen zu ihr! Denn dies ist mehr als künstliches
Gewebe! Eine Kette aus Gliedern, wie sie nur in der andern Welt geschmiedet
werden. Laßt sehen, ob sie standhält, wenn ich daran reiße!"

Ach, ich war fast voll Furcht vor der mir zugefallenen Rolle! Wer hob mich
da heraus über das Gewimmel dumpfer Geschöpfe am Boden! Ich Ungläubiger,
bestellt zu einer Botschaft christlichen Glaubens I Verzweifelnd an dem Werte der
neuen Erscheinung, da ich sie als echt nicht mehr bezweifeln konnte! --

Sie lag auf einem Ruhebette unter dem Gewölbe des Kapitelsaales, umdrängt
vom Schwärme der Neugierigen, Andächtigen, Fanatisierten: ein in erster Jugend
verblühtes Mädchen, ein abgezehrtes Kind von spitzknochigem, leichenfarbenem
Antlitz, in der schwarzen Hülle ihres Ordenskleides, im langwallenden schwarzen
Schleiertuch. Ihre Augen, tief in die Höhlen zurückgesunken, blieben, noch als ich
eintrat, geschlossen, ihre Arme in kataleptischen Krampfe weit von sich gestreckt, die
Handflächen nach außen gedreht, so daß die beiden gräßlichen Wunden rot und
blutleer mir entgegenleuchteten.

Hinter einem Gitter knieten Schwestern ihres Ordens, darunter die Äbtissin,
versunken im Gebet, rechts und links von ihr zwei Patres der Kapuziner, die
Litaneien murmelten, in weiterem Umkreis Weltpriester, Offiziere des Papstes in
Uniform, Nobili in Gala mit ihren aufgeputzten Damen und einige wenige Herren
in Zivil: Gelehrte und Ärzte der Kurie. Aber auch von den Logen der Galerie
herab, hinter seidenen Gardinen hervor lugten forschende Blicke. Dort mochten
Inquisitoren und Kardinäle, vielleicht der Heilige Vater selbst sich verbergen.

All das schob und drängte sich durcheinander, reckte die Köpfe, spitzte die
Ohren, tuschelte und flüsterte, labte sich an der Sensation. Zu einem Schauspiel
hatten sie sich laden lassen, ins Theater der rätselhaftesten Vorgänge, der seltsamsten
Gefühle, und waren's höchst zufrieden, daß es gratis geschah und überdies ihre
gottselige Gesinnung wohltätig kitzelte.

Der tiefe Widerwille, der mich jedesmal packte, so oft ich gezwungen war,
öffentlich vor eine Menge zu treten, Redner und Akteur vor den: Publikum, dem
schmutzigen Volke vorzustellen, stieg mir auch hier in die Kehle und erzeugte in
nur das ach so seltene Bewußtsein meines Eigenwertes. Überall, wo die Bande
herrschte, blieb mir nichts übrig, als den Bändiger zu spielen. Wo nur ein Mensch
mir gegenüberstand, da mußte ich ihn lieben, vor zweien ward ich schon kühl und
mühte mich, sie zu durchschauen, drei und vier fingen an, Gesellschaft zu bedeuten,
reizten und peinigten mich mit dem dummen Selbstgefühl ihrer zusammen¬
geschweißten Kräfte; die Masse aber, zumal wenn sie einig war in ihren Natur¬
instinkten, hob mich noch weiter empor, schnellte mich wie einen Federball hoch über
ihre dumpfen Schädel, daß ich vor ihrem Dunste davonflog hinein in den reinen Äther.

Noch spürte ich in jenem Augenblicke nicht die höchste Kraft, die aufgespeichert
für das jenseitige Leben in mir lag, aber daß ich Herr war über diesen Schwarm


Grenzboten I 1911 55
Begegnung mit Schwester Luscinia

Schwert aus dem Herzen der allerheiligsten Jungfrau und schlage erlösende
Wunden uns Unheiligen! Stille die Schmerzen des Irdischen, aber wühle auf
unsre niedrigen Seelen mit überirdischen Leiden! Reiße auf mein sündiges Fleisch,
wasche mich rein in Blut und mache mich heil mit deinem Worte I'

Hierauf öffneten sich die roten Stigmata ihrer Hände, klafften auseinander wie
zwei tiefe Schnitte und ließen tropfenweise ihr Blut entquellen."

„Genug!" rief ich. „Wir wollen zu ihr! Denn dies ist mehr als künstliches
Gewebe! Eine Kette aus Gliedern, wie sie nur in der andern Welt geschmiedet
werden. Laßt sehen, ob sie standhält, wenn ich daran reiße!"

Ach, ich war fast voll Furcht vor der mir zugefallenen Rolle! Wer hob mich
da heraus über das Gewimmel dumpfer Geschöpfe am Boden! Ich Ungläubiger,
bestellt zu einer Botschaft christlichen Glaubens I Verzweifelnd an dem Werte der
neuen Erscheinung, da ich sie als echt nicht mehr bezweifeln konnte! —

Sie lag auf einem Ruhebette unter dem Gewölbe des Kapitelsaales, umdrängt
vom Schwärme der Neugierigen, Andächtigen, Fanatisierten: ein in erster Jugend
verblühtes Mädchen, ein abgezehrtes Kind von spitzknochigem, leichenfarbenem
Antlitz, in der schwarzen Hülle ihres Ordenskleides, im langwallenden schwarzen
Schleiertuch. Ihre Augen, tief in die Höhlen zurückgesunken, blieben, noch als ich
eintrat, geschlossen, ihre Arme in kataleptischen Krampfe weit von sich gestreckt, die
Handflächen nach außen gedreht, so daß die beiden gräßlichen Wunden rot und
blutleer mir entgegenleuchteten.

Hinter einem Gitter knieten Schwestern ihres Ordens, darunter die Äbtissin,
versunken im Gebet, rechts und links von ihr zwei Patres der Kapuziner, die
Litaneien murmelten, in weiterem Umkreis Weltpriester, Offiziere des Papstes in
Uniform, Nobili in Gala mit ihren aufgeputzten Damen und einige wenige Herren
in Zivil: Gelehrte und Ärzte der Kurie. Aber auch von den Logen der Galerie
herab, hinter seidenen Gardinen hervor lugten forschende Blicke. Dort mochten
Inquisitoren und Kardinäle, vielleicht der Heilige Vater selbst sich verbergen.

All das schob und drängte sich durcheinander, reckte die Köpfe, spitzte die
Ohren, tuschelte und flüsterte, labte sich an der Sensation. Zu einem Schauspiel
hatten sie sich laden lassen, ins Theater der rätselhaftesten Vorgänge, der seltsamsten
Gefühle, und waren's höchst zufrieden, daß es gratis geschah und überdies ihre
gottselige Gesinnung wohltätig kitzelte.

Der tiefe Widerwille, der mich jedesmal packte, so oft ich gezwungen war,
öffentlich vor eine Menge zu treten, Redner und Akteur vor den: Publikum, dem
schmutzigen Volke vorzustellen, stieg mir auch hier in die Kehle und erzeugte in
nur das ach so seltene Bewußtsein meines Eigenwertes. Überall, wo die Bande
herrschte, blieb mir nichts übrig, als den Bändiger zu spielen. Wo nur ein Mensch
mir gegenüberstand, da mußte ich ihn lieben, vor zweien ward ich schon kühl und
mühte mich, sie zu durchschauen, drei und vier fingen an, Gesellschaft zu bedeuten,
reizten und peinigten mich mit dem dummen Selbstgefühl ihrer zusammen¬
geschweißten Kräfte; die Masse aber, zumal wenn sie einig war in ihren Natur¬
instinkten, hob mich noch weiter empor, schnellte mich wie einen Federball hoch über
ihre dumpfen Schädel, daß ich vor ihrem Dunste davonflog hinein in den reinen Äther.

Noch spürte ich in jenem Augenblicke nicht die höchste Kraft, die aufgespeichert
für das jenseitige Leben in mir lag, aber daß ich Herr war über diesen Schwarm


Grenzboten I 1911 55
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[0447] Begegnung mit Schwester Luscinia Schwert aus dem Herzen der allerheiligsten Jungfrau und schlage erlösende Wunden uns Unheiligen! Stille die Schmerzen des Irdischen, aber wühle auf unsre niedrigen Seelen mit überirdischen Leiden! Reiße auf mein sündiges Fleisch, wasche mich rein in Blut und mache mich heil mit deinem Worte I' Hierauf öffneten sich die roten Stigmata ihrer Hände, klafften auseinander wie zwei tiefe Schnitte und ließen tropfenweise ihr Blut entquellen." „Genug!" rief ich. „Wir wollen zu ihr! Denn dies ist mehr als künstliches Gewebe! Eine Kette aus Gliedern, wie sie nur in der andern Welt geschmiedet werden. Laßt sehen, ob sie standhält, wenn ich daran reiße!" Ach, ich war fast voll Furcht vor der mir zugefallenen Rolle! Wer hob mich da heraus über das Gewimmel dumpfer Geschöpfe am Boden! Ich Ungläubiger, bestellt zu einer Botschaft christlichen Glaubens I Verzweifelnd an dem Werte der neuen Erscheinung, da ich sie als echt nicht mehr bezweifeln konnte! — Sie lag auf einem Ruhebette unter dem Gewölbe des Kapitelsaales, umdrängt vom Schwärme der Neugierigen, Andächtigen, Fanatisierten: ein in erster Jugend verblühtes Mädchen, ein abgezehrtes Kind von spitzknochigem, leichenfarbenem Antlitz, in der schwarzen Hülle ihres Ordenskleides, im langwallenden schwarzen Schleiertuch. Ihre Augen, tief in die Höhlen zurückgesunken, blieben, noch als ich eintrat, geschlossen, ihre Arme in kataleptischen Krampfe weit von sich gestreckt, die Handflächen nach außen gedreht, so daß die beiden gräßlichen Wunden rot und blutleer mir entgegenleuchteten. Hinter einem Gitter knieten Schwestern ihres Ordens, darunter die Äbtissin, versunken im Gebet, rechts und links von ihr zwei Patres der Kapuziner, die Litaneien murmelten, in weiterem Umkreis Weltpriester, Offiziere des Papstes in Uniform, Nobili in Gala mit ihren aufgeputzten Damen und einige wenige Herren in Zivil: Gelehrte und Ärzte der Kurie. Aber auch von den Logen der Galerie herab, hinter seidenen Gardinen hervor lugten forschende Blicke. Dort mochten Inquisitoren und Kardinäle, vielleicht der Heilige Vater selbst sich verbergen. All das schob und drängte sich durcheinander, reckte die Köpfe, spitzte die Ohren, tuschelte und flüsterte, labte sich an der Sensation. Zu einem Schauspiel hatten sie sich laden lassen, ins Theater der rätselhaftesten Vorgänge, der seltsamsten Gefühle, und waren's höchst zufrieden, daß es gratis geschah und überdies ihre gottselige Gesinnung wohltätig kitzelte. Der tiefe Widerwille, der mich jedesmal packte, so oft ich gezwungen war, öffentlich vor eine Menge zu treten, Redner und Akteur vor den: Publikum, dem schmutzigen Volke vorzustellen, stieg mir auch hier in die Kehle und erzeugte in nur das ach so seltene Bewußtsein meines Eigenwertes. Überall, wo die Bande herrschte, blieb mir nichts übrig, als den Bändiger zu spielen. Wo nur ein Mensch mir gegenüberstand, da mußte ich ihn lieben, vor zweien ward ich schon kühl und mühte mich, sie zu durchschauen, drei und vier fingen an, Gesellschaft zu bedeuten, reizten und peinigten mich mit dem dummen Selbstgefühl ihrer zusammen¬ geschweißten Kräfte; die Masse aber, zumal wenn sie einig war in ihren Natur¬ instinkten, hob mich noch weiter empor, schnellte mich wie einen Federball hoch über ihre dumpfen Schädel, daß ich vor ihrem Dunste davonflog hinein in den reinen Äther. Noch spürte ich in jenem Augenblicke nicht die höchste Kraft, die aufgespeichert für das jenseitige Leben in mir lag, aber daß ich Herr war über diesen Schwarm Grenzboten I 1911 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/447>, abgerufen am 30.12.2024.