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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

man sagen: selbstverständlich) zu einer Ge¬
liebten, und das Nachwort tut noch ein übriges
dazu, indem eS -- zugleich einen weiteren
Band deS "Östlichen Diwans" verheißend! --
betont, daß den Frommen des Orients das
Weib durchaus nicht als die teuflische Ver¬
führerin "wie den meisten unserer Heiligen",
sondern als ein schönes, von Gott mit allem
Vorbedacht geschaffenes Wesen und deshalb
preisenswert und begeisterter Hymnen würdig
erscheint. Diese beiden Nachworte sind über¬
haupt wahre Sammelplätze antiquierter und
schiefer Meinungen in jenem Geist, der dem
Orient romcmtizistisch in allein die Priorität
erteilt. So kommt Hans Bethge zu dem
Satze: "Er (Hafis) lebte also und schrieb seine
kühnen , bilderreichen und leidenschaftlichen
Gedichte zu einer Zeit, da es bei uns im
Abendlande noch recht dunkel war." Es ist
das vierzehnte Jahrhundert gemeint, das
Jahrhundert Dantes, Petrarcas, Boccaccios,
der ersten Humanisten. . . .

Martin Büder scheint im Gegensatz hierzu
bei der Übertragung einer Auswahl der
"Reden und Gleichnisse des Tschncmg-The"
(Leipzig, Jnselverlng, 1910) neben den Über¬
setzungen, die er namhaft macht, auch den
Urtext herangezogen zu haben, obwohl dies
aus seinen Worten nicht klar hervorgeht und
es mir bisher nicht bekannt war, daß er,
sonst ein verdienter Vermittler jüdischer Über¬
lieferungen, sich auch des Chinesischen beflissen
habe. Da es sich um Prosa handelt und für
das Tcxtverständnis durch Glich und Legge
bereits alles getan war, ist über die Über¬
tragung selbst nichts weiter zu sagen, als daß
sie sich jedem Freunde philosophisch-ethischer
Betrachtungen empfiehlt. Das Nachwort freilich
leidet wieder um der romcmtizistischcn Gegen¬
überstellung von Orient und Okzident, die
durchaus keine Gegensätze, in ihrer Kultur
wenigstens, d. h. in den Äußerungen ihrer
Herrschervölker, sondern eine Einheit unter
sich bilden, wie man es in meiner "Welt¬
geschichte der Literatur" des Näheren dargelegt
sindet. Martin Büder kommt zu sehr von
der Bewegung des Chassidismus her, die für
ihn der eigentliche Ausdruck des Orients ist,
während wir in ihr doch nur einen Reflex,
westeuropäischer Geistesrichtungen sehen können.
Im einzelnen geht es z. B. nicht an, die

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Lehre vom Reich Gottes jüdisch-urchristlich zu
nennen. Diese Lehre ist vielmehr Parsisch;
Altes und Neues Testament bieten auch hier
nur Reflexe. Ebenso scheinen mir die Be¬
merkungen über den Inhalt des Begriffes Tao,
um den sich die ganze Lehre des mythischen
Lno-The und seines Hnuptnpostcls Tschuang-
Tse dreht, mehr Unter- als Auslegungen zu
sein. Ich selbst möchte in Tao den bekannten
allgemeinen Gottesnnmen Dian (indisch), Tiu
(altgermanisch) usw. sehen, dessen Laut nur
mit verschiedenen chinesischen Worten zusammen¬
fällt und danach dann "Weg" oder "Rede"
bedeutet (wie etwa List im slawischen "Blatt",
im Magyarischen "Mehl"). Auch hier scheint
sich mir zwischen den kulturbildenden Herrscher¬
völkern des Ostens und denen des Westens
eine Einheit zu erweisen.

Veto Hause
Kulturgeschichte

Zur Entwicklungsgeschichte der deutsche"
Persönlichkeit. Kuno Frnncke, Professor der
deutschen Kulturgeschichte und Kurator des
germanischen Museums an der Havard-Uni¬
versität in Cambridge (U. S. A.), hat seiner
deutschen Henne ein schönes Buch geschenkt:
"Die Kulturwerte der deutschen Literatur in
ihrer geschichtlichen Entwicklung", Band I:
Die Kulturwerte der deutschen Literatur des
Mittelalters. (Berlin, Weidmannsche Buch-
handlung, 6 M.) Frnncke gehört nicht zu den
Deutschen, die in der Fremde schnell der
Heimat vergessen; daran würde ihn ja auch
Wohl seine Tätigkeit hindern. Aber aus diesem
Buche quillt ein Strom der Begeisterung für
Deutschland, seine Vergangenheit und seine
Kultur. Der Germanist wird an manchem An¬
stoß nehmen. Das Hildebrandslied darf man
nicht glattweg altsächsisch nennen: nur Spuren
dieses Dialektes finden sich. Otfrids "Evan¬
gelienbuch" heißt nicht "Krist". Auch die
Beurteilung Wolframs ruft starken Widerspruch
hervor. Wolfram ist in vielen Punkten dunkel,
aber die lichten Stellen überwiegen doch, und
seine wenigen Lieder gehören ohne Frage zu
dem Schönsten unserer Lyrik überhaupt. Ferner
werden systematisierende Zusammenstellungen,
wie sie Francke gibt, nicht ungeteilten Beifall
finden, so: Hartmann als Seelenmaler, Wolf¬
ram als Dichter des Streben? zum Ideal,

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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man sagen: selbstverständlich) zu einer Ge¬
liebten, und das Nachwort tut noch ein übriges
dazu, indem eS — zugleich einen weiteren
Band deS „Östlichen Diwans" verheißend! —
betont, daß den Frommen des Orients das
Weib durchaus nicht als die teuflische Ver¬
führerin „wie den meisten unserer Heiligen",
sondern als ein schönes, von Gott mit allem
Vorbedacht geschaffenes Wesen und deshalb
preisenswert und begeisterter Hymnen würdig
erscheint. Diese beiden Nachworte sind über¬
haupt wahre Sammelplätze antiquierter und
schiefer Meinungen in jenem Geist, der dem
Orient romcmtizistisch in allein die Priorität
erteilt. So kommt Hans Bethge zu dem
Satze: „Er (Hafis) lebte also und schrieb seine
kühnen , bilderreichen und leidenschaftlichen
Gedichte zu einer Zeit, da es bei uns im
Abendlande noch recht dunkel war." Es ist
das vierzehnte Jahrhundert gemeint, das
Jahrhundert Dantes, Petrarcas, Boccaccios,
der ersten Humanisten. . . .

Martin Büder scheint im Gegensatz hierzu
bei der Übertragung einer Auswahl der
„Reden und Gleichnisse des Tschncmg-The"
(Leipzig, Jnselverlng, 1910) neben den Über¬
setzungen, die er namhaft macht, auch den
Urtext herangezogen zu haben, obwohl dies
aus seinen Worten nicht klar hervorgeht und
es mir bisher nicht bekannt war, daß er,
sonst ein verdienter Vermittler jüdischer Über¬
lieferungen, sich auch des Chinesischen beflissen
habe. Da es sich um Prosa handelt und für
das Tcxtverständnis durch Glich und Legge
bereits alles getan war, ist über die Über¬
tragung selbst nichts weiter zu sagen, als daß
sie sich jedem Freunde philosophisch-ethischer
Betrachtungen empfiehlt. Das Nachwort freilich
leidet wieder um der romcmtizistischcn Gegen¬
überstellung von Orient und Okzident, die
durchaus keine Gegensätze, in ihrer Kultur
wenigstens, d. h. in den Äußerungen ihrer
Herrschervölker, sondern eine Einheit unter
sich bilden, wie man es in meiner „Welt¬
geschichte der Literatur" des Näheren dargelegt
sindet. Martin Büder kommt zu sehr von
der Bewegung des Chassidismus her, die für
ihn der eigentliche Ausdruck des Orients ist,
während wir in ihr doch nur einen Reflex,
westeuropäischer Geistesrichtungen sehen können.
Im einzelnen geht es z. B. nicht an, die

[Spaltenumbruch]

Lehre vom Reich Gottes jüdisch-urchristlich zu
nennen. Diese Lehre ist vielmehr Parsisch;
Altes und Neues Testament bieten auch hier
nur Reflexe. Ebenso scheinen mir die Be¬
merkungen über den Inhalt des Begriffes Tao,
um den sich die ganze Lehre des mythischen
Lno-The und seines Hnuptnpostcls Tschuang-
Tse dreht, mehr Unter- als Auslegungen zu
sein. Ich selbst möchte in Tao den bekannten
allgemeinen Gottesnnmen Dian (indisch), Tiu
(altgermanisch) usw. sehen, dessen Laut nur
mit verschiedenen chinesischen Worten zusammen¬
fällt und danach dann „Weg" oder „Rede"
bedeutet (wie etwa List im slawischen „Blatt",
im Magyarischen „Mehl"). Auch hier scheint
sich mir zwischen den kulturbildenden Herrscher¬
völkern des Ostens und denen des Westens
eine Einheit zu erweisen.

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Kulturgeschichte

Zur Entwicklungsgeschichte der deutsche»
Persönlichkeit. Kuno Frnncke, Professor der
deutschen Kulturgeschichte und Kurator des
germanischen Museums an der Havard-Uni¬
versität in Cambridge (U. S. A.), hat seiner
deutschen Henne ein schönes Buch geschenkt:
„Die Kulturwerte der deutschen Literatur in
ihrer geschichtlichen Entwicklung", Band I:
Die Kulturwerte der deutschen Literatur des
Mittelalters. (Berlin, Weidmannsche Buch-
handlung, 6 M.) Frnncke gehört nicht zu den
Deutschen, die in der Fremde schnell der
Heimat vergessen; daran würde ihn ja auch
Wohl seine Tätigkeit hindern. Aber aus diesem
Buche quillt ein Strom der Begeisterung für
Deutschland, seine Vergangenheit und seine
Kultur. Der Germanist wird an manchem An¬
stoß nehmen. Das Hildebrandslied darf man
nicht glattweg altsächsisch nennen: nur Spuren
dieses Dialektes finden sich. Otfrids „Evan¬
gelienbuch" heißt nicht „Krist". Auch die
Beurteilung Wolframs ruft starken Widerspruch
hervor. Wolfram ist in vielen Punkten dunkel,
aber die lichten Stellen überwiegen doch, und
seine wenigen Lieder gehören ohne Frage zu
dem Schönsten unserer Lyrik überhaupt. Ferner
werden systematisierende Zusammenstellungen,
wie sie Francke gibt, nicht ungeteilten Beifall
finden, so: Hartmann als Seelenmaler, Wolf¬
ram als Dichter des Streben? zum Ideal,

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[0404] Maßgebliches und Unmaßgebliches man sagen: selbstverständlich) zu einer Ge¬ liebten, und das Nachwort tut noch ein übriges dazu, indem eS — zugleich einen weiteren Band deS „Östlichen Diwans" verheißend! — betont, daß den Frommen des Orients das Weib durchaus nicht als die teuflische Ver¬ führerin „wie den meisten unserer Heiligen", sondern als ein schönes, von Gott mit allem Vorbedacht geschaffenes Wesen und deshalb preisenswert und begeisterter Hymnen würdig erscheint. Diese beiden Nachworte sind über¬ haupt wahre Sammelplätze antiquierter und schiefer Meinungen in jenem Geist, der dem Orient romcmtizistisch in allein die Priorität erteilt. So kommt Hans Bethge zu dem Satze: „Er (Hafis) lebte also und schrieb seine kühnen , bilderreichen und leidenschaftlichen Gedichte zu einer Zeit, da es bei uns im Abendlande noch recht dunkel war." Es ist das vierzehnte Jahrhundert gemeint, das Jahrhundert Dantes, Petrarcas, Boccaccios, der ersten Humanisten. . . . Martin Büder scheint im Gegensatz hierzu bei der Übertragung einer Auswahl der „Reden und Gleichnisse des Tschncmg-The" (Leipzig, Jnselverlng, 1910) neben den Über¬ setzungen, die er namhaft macht, auch den Urtext herangezogen zu haben, obwohl dies aus seinen Worten nicht klar hervorgeht und es mir bisher nicht bekannt war, daß er, sonst ein verdienter Vermittler jüdischer Über¬ lieferungen, sich auch des Chinesischen beflissen habe. Da es sich um Prosa handelt und für das Tcxtverständnis durch Glich und Legge bereits alles getan war, ist über die Über¬ tragung selbst nichts weiter zu sagen, als daß sie sich jedem Freunde philosophisch-ethischer Betrachtungen empfiehlt. Das Nachwort freilich leidet wieder um der romcmtizistischcn Gegen¬ überstellung von Orient und Okzident, die durchaus keine Gegensätze, in ihrer Kultur wenigstens, d. h. in den Äußerungen ihrer Herrschervölker, sondern eine Einheit unter sich bilden, wie man es in meiner „Welt¬ geschichte der Literatur" des Näheren dargelegt sindet. Martin Büder kommt zu sehr von der Bewegung des Chassidismus her, die für ihn der eigentliche Ausdruck des Orients ist, während wir in ihr doch nur einen Reflex, westeuropäischer Geistesrichtungen sehen können. Im einzelnen geht es z. B. nicht an, die Lehre vom Reich Gottes jüdisch-urchristlich zu nennen. Diese Lehre ist vielmehr Parsisch; Altes und Neues Testament bieten auch hier nur Reflexe. Ebenso scheinen mir die Be¬ merkungen über den Inhalt des Begriffes Tao, um den sich die ganze Lehre des mythischen Lno-The und seines Hnuptnpostcls Tschuang- Tse dreht, mehr Unter- als Auslegungen zu sein. Ich selbst möchte in Tao den bekannten allgemeinen Gottesnnmen Dian (indisch), Tiu (altgermanisch) usw. sehen, dessen Laut nur mit verschiedenen chinesischen Worten zusammen¬ fällt und danach dann „Weg" oder „Rede" bedeutet (wie etwa List im slawischen „Blatt", im Magyarischen „Mehl"). Auch hier scheint sich mir zwischen den kulturbildenden Herrscher¬ völkern des Ostens und denen des Westens eine Einheit zu erweisen. Veto Hause Kulturgeschichte Zur Entwicklungsgeschichte der deutsche» Persönlichkeit. Kuno Frnncke, Professor der deutschen Kulturgeschichte und Kurator des germanischen Museums an der Havard-Uni¬ versität in Cambridge (U. S. A.), hat seiner deutschen Henne ein schönes Buch geschenkt: „Die Kulturwerte der deutschen Literatur in ihrer geschichtlichen Entwicklung", Band I: Die Kulturwerte der deutschen Literatur des Mittelalters. (Berlin, Weidmannsche Buch- handlung, 6 M.) Frnncke gehört nicht zu den Deutschen, die in der Fremde schnell der Heimat vergessen; daran würde ihn ja auch Wohl seine Tätigkeit hindern. Aber aus diesem Buche quillt ein Strom der Begeisterung für Deutschland, seine Vergangenheit und seine Kultur. Der Germanist wird an manchem An¬ stoß nehmen. Das Hildebrandslied darf man nicht glattweg altsächsisch nennen: nur Spuren dieses Dialektes finden sich. Otfrids „Evan¬ gelienbuch" heißt nicht „Krist". Auch die Beurteilung Wolframs ruft starken Widerspruch hervor. Wolfram ist in vielen Punkten dunkel, aber die lichten Stellen überwiegen doch, und seine wenigen Lieder gehören ohne Frage zu dem Schönsten unserer Lyrik überhaupt. Ferner werden systematisierende Zusammenstellungen, wie sie Francke gibt, nicht ungeteilten Beifall finden, so: Hartmann als Seelenmaler, Wolf¬ ram als Dichter des Streben? zum Ideal,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/404>, abgerufen am 24.07.2024.