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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Die Bedeutung der Allegorie

tioneller Symbole. Daher das Überschwengliche in den Kunstwerken des Mittel¬
alters. Die Phantasie machte entsetzliche Anstrengungen, sie stülpte den Pelion
auf den Ararat und den Parnaß auf den Libanon, um ja den Himmel zu
erreichen. Die antike Kunst bietet Bilder, die mittelalterliche Sinnbilder. Was
die Griechen plastisch wiedergaben, war identisch mit dem Vorbild. Die Irrfahrten
des Odysseus sollten gar nichts anderes bedeuten als die Irrfahrten des Mannes,
der ein Sohn des Laertes und Gemahl der Penelope war und Odysseus hieß.
Anders ist es in der mystischen christlichen Kunst. Da haben die Irrfahrten
eines Ritters noch eine esoterische Bedeutung. Sie umkleiden etwa die Irrfahrten
des Lebens überhaupt. Ein bezwungener Drache soll die Sünde sein, Trost
oder Leid, wie es dem Ritter begegnet, findet noch tiefen Sinn und philosophische
Erklärung. Wenn Homer die Rüstung eines Helden schildert, so ist es eben
nichts anderes als eine gute Rüstung, die soundso viel Ochsen gekostet hat.
Wenn aber ein Mönch des Mittelalters die Gewänder einer Heiligen beschreibt,
so kann man sich darauf verlassen, daß er unter diesen Gewändern ebenso viele
Tugenden versteht und einen religiösen Moralbegriff in jedem Satz verbirgt.

Auch die klassische Götterwelt und die im Altertum bekannten Personi¬
fikationen, wie Fortuna, Viktoria, Psyche, sind in den Neigen der christlichen
Allegorien aufgenommen. Das herrlichste Beispiel heidnisch ausgeschmückter,
christlicher Allegorie ist Dantes "Göttliche Komödie". Man hat das himmel¬
aufstrebende Gebäude seiner Dichtung mit einem gotischen Dom verglichen. Der
Vergleich ist auch darin richtig, daß die Härte und Kälte der Abstraktion mit
der Gewalt der Begeisterung besiegt, durchleuchtet, lebendig gemacht ist, wie bei
den gotischen Kirchen der Stein überwunden, fast gespenstisch durchleuchtet erscheint.
Die spitzfindigste Allegorie blüht gleich einer natürlichen Blume. Drachen,
Zentauren und heidnische Götter schmücken und stützen das Gebäude so selbst¬
verständlich, als gehörten sie hinein. Die heterogensten Dinge, die am weitesten
auseinanderliegenden Begriffe erscheinen durch die Kühnheit großartiger Symbolik
verbunden und vermählt.

Auch Christus kommt in den verschiedensten Gestalten bei mittelalterlichen
Dichtern vor, als guter Hirt, als Kreuzfahrer und in einigen besonders schönen
Mirakelspielen als Orpheus -- im Sinn der uralten Legende, wie sie die Wand¬
bilder der Katakomben zeigen. Man ging bisweilen so weit, die christlichen
Religionsideen ganz in das Gewand griechischer Mythologie zu kleiden. So
wurde die Allegorie doppelt, wie zum Beispiel in Calderons "Amor und Psyche",
wo Amor Christus und Psyche die Kirche bedeutet. Diese spitzfindige Verquickung
von Mythologie und Legende erhielt sich an: längsten und am naivsten in
Spanien. Sie hat aber auch in der italienischen Dichtung teils schöne, teils
höchst seltsame Blüten getrieben. Zu den entzückendsten gehören Petrarcas
"Trionfi", zu den eigenartigsten der "Nimfale d'Ameto" des Boccaccio. In
diesem Nimfale erblickt der Schäfer Ameto sieben reizende Nymphen, deren
Schönheit mit naivster Unmittelbarkeit beschrieben ist und den entsprechenden


Grenzboten I 1911 47
Die Bedeutung der Allegorie

tioneller Symbole. Daher das Überschwengliche in den Kunstwerken des Mittel¬
alters. Die Phantasie machte entsetzliche Anstrengungen, sie stülpte den Pelion
auf den Ararat und den Parnaß auf den Libanon, um ja den Himmel zu
erreichen. Die antike Kunst bietet Bilder, die mittelalterliche Sinnbilder. Was
die Griechen plastisch wiedergaben, war identisch mit dem Vorbild. Die Irrfahrten
des Odysseus sollten gar nichts anderes bedeuten als die Irrfahrten des Mannes,
der ein Sohn des Laertes und Gemahl der Penelope war und Odysseus hieß.
Anders ist es in der mystischen christlichen Kunst. Da haben die Irrfahrten
eines Ritters noch eine esoterische Bedeutung. Sie umkleiden etwa die Irrfahrten
des Lebens überhaupt. Ein bezwungener Drache soll die Sünde sein, Trost
oder Leid, wie es dem Ritter begegnet, findet noch tiefen Sinn und philosophische
Erklärung. Wenn Homer die Rüstung eines Helden schildert, so ist es eben
nichts anderes als eine gute Rüstung, die soundso viel Ochsen gekostet hat.
Wenn aber ein Mönch des Mittelalters die Gewänder einer Heiligen beschreibt,
so kann man sich darauf verlassen, daß er unter diesen Gewändern ebenso viele
Tugenden versteht und einen religiösen Moralbegriff in jedem Satz verbirgt.

Auch die klassische Götterwelt und die im Altertum bekannten Personi¬
fikationen, wie Fortuna, Viktoria, Psyche, sind in den Neigen der christlichen
Allegorien aufgenommen. Das herrlichste Beispiel heidnisch ausgeschmückter,
christlicher Allegorie ist Dantes „Göttliche Komödie". Man hat das himmel¬
aufstrebende Gebäude seiner Dichtung mit einem gotischen Dom verglichen. Der
Vergleich ist auch darin richtig, daß die Härte und Kälte der Abstraktion mit
der Gewalt der Begeisterung besiegt, durchleuchtet, lebendig gemacht ist, wie bei
den gotischen Kirchen der Stein überwunden, fast gespenstisch durchleuchtet erscheint.
Die spitzfindigste Allegorie blüht gleich einer natürlichen Blume. Drachen,
Zentauren und heidnische Götter schmücken und stützen das Gebäude so selbst¬
verständlich, als gehörten sie hinein. Die heterogensten Dinge, die am weitesten
auseinanderliegenden Begriffe erscheinen durch die Kühnheit großartiger Symbolik
verbunden und vermählt.

Auch Christus kommt in den verschiedensten Gestalten bei mittelalterlichen
Dichtern vor, als guter Hirt, als Kreuzfahrer und in einigen besonders schönen
Mirakelspielen als Orpheus — im Sinn der uralten Legende, wie sie die Wand¬
bilder der Katakomben zeigen. Man ging bisweilen so weit, die christlichen
Religionsideen ganz in das Gewand griechischer Mythologie zu kleiden. So
wurde die Allegorie doppelt, wie zum Beispiel in Calderons „Amor und Psyche",
wo Amor Christus und Psyche die Kirche bedeutet. Diese spitzfindige Verquickung
von Mythologie und Legende erhielt sich an: längsten und am naivsten in
Spanien. Sie hat aber auch in der italienischen Dichtung teils schöne, teils
höchst seltsame Blüten getrieben. Zu den entzückendsten gehören Petrarcas
„Trionfi", zu den eigenartigsten der „Nimfale d'Ameto" des Boccaccio. In
diesem Nimfale erblickt der Schäfer Ameto sieben reizende Nymphen, deren
Schönheit mit naivster Unmittelbarkeit beschrieben ist und den entsprechenden


Grenzboten I 1911 47
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[0383] Die Bedeutung der Allegorie tioneller Symbole. Daher das Überschwengliche in den Kunstwerken des Mittel¬ alters. Die Phantasie machte entsetzliche Anstrengungen, sie stülpte den Pelion auf den Ararat und den Parnaß auf den Libanon, um ja den Himmel zu erreichen. Die antike Kunst bietet Bilder, die mittelalterliche Sinnbilder. Was die Griechen plastisch wiedergaben, war identisch mit dem Vorbild. Die Irrfahrten des Odysseus sollten gar nichts anderes bedeuten als die Irrfahrten des Mannes, der ein Sohn des Laertes und Gemahl der Penelope war und Odysseus hieß. Anders ist es in der mystischen christlichen Kunst. Da haben die Irrfahrten eines Ritters noch eine esoterische Bedeutung. Sie umkleiden etwa die Irrfahrten des Lebens überhaupt. Ein bezwungener Drache soll die Sünde sein, Trost oder Leid, wie es dem Ritter begegnet, findet noch tiefen Sinn und philosophische Erklärung. Wenn Homer die Rüstung eines Helden schildert, so ist es eben nichts anderes als eine gute Rüstung, die soundso viel Ochsen gekostet hat. Wenn aber ein Mönch des Mittelalters die Gewänder einer Heiligen beschreibt, so kann man sich darauf verlassen, daß er unter diesen Gewändern ebenso viele Tugenden versteht und einen religiösen Moralbegriff in jedem Satz verbirgt. Auch die klassische Götterwelt und die im Altertum bekannten Personi¬ fikationen, wie Fortuna, Viktoria, Psyche, sind in den Neigen der christlichen Allegorien aufgenommen. Das herrlichste Beispiel heidnisch ausgeschmückter, christlicher Allegorie ist Dantes „Göttliche Komödie". Man hat das himmel¬ aufstrebende Gebäude seiner Dichtung mit einem gotischen Dom verglichen. Der Vergleich ist auch darin richtig, daß die Härte und Kälte der Abstraktion mit der Gewalt der Begeisterung besiegt, durchleuchtet, lebendig gemacht ist, wie bei den gotischen Kirchen der Stein überwunden, fast gespenstisch durchleuchtet erscheint. Die spitzfindigste Allegorie blüht gleich einer natürlichen Blume. Drachen, Zentauren und heidnische Götter schmücken und stützen das Gebäude so selbst¬ verständlich, als gehörten sie hinein. Die heterogensten Dinge, die am weitesten auseinanderliegenden Begriffe erscheinen durch die Kühnheit großartiger Symbolik verbunden und vermählt. Auch Christus kommt in den verschiedensten Gestalten bei mittelalterlichen Dichtern vor, als guter Hirt, als Kreuzfahrer und in einigen besonders schönen Mirakelspielen als Orpheus — im Sinn der uralten Legende, wie sie die Wand¬ bilder der Katakomben zeigen. Man ging bisweilen so weit, die christlichen Religionsideen ganz in das Gewand griechischer Mythologie zu kleiden. So wurde die Allegorie doppelt, wie zum Beispiel in Calderons „Amor und Psyche", wo Amor Christus und Psyche die Kirche bedeutet. Diese spitzfindige Verquickung von Mythologie und Legende erhielt sich an: längsten und am naivsten in Spanien. Sie hat aber auch in der italienischen Dichtung teils schöne, teils höchst seltsame Blüten getrieben. Zu den entzückendsten gehören Petrarcas „Trionfi", zu den eigenartigsten der „Nimfale d'Ameto" des Boccaccio. In diesem Nimfale erblickt der Schäfer Ameto sieben reizende Nymphen, deren Schönheit mit naivster Unmittelbarkeit beschrieben ist und den entsprechenden Grenzboten I 1911 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/383>, abgerufen am 30.12.2024.