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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens

Suchende den Weg zu mir finden oder wieder zu mir zurückkehren wird; und
wenn er dies auch nicht tut, so "sündigt" er doch nicht, denn Suchen "ach
Wahrheit kann niemals Sünde sein, vielmehr ist es eine der besten Weisen,
Gott zu dienen.

Soviel ich zu beurteilen vermag, könnten die kirchlichen Organe, ohne gegen
das Dogma zu verstoßen, diese veränderte pädagogische Haltung einnehmen;
sie müßten eben nur mehr Vertrauen haben zu dem Wert ihrer eigenen Lehre,
zu dem Guten in der Menschennatur und vor allem zu der sittlichen Bedeutung
des Strebens nach Wahrheit. Auch müßten sie den Mut haben, aus der --
auch von der Kirche anerkannten -- Lehre, daß man niemals gegen das Ge¬
wissen handeln dürfe, alle Folgerungen zu ziehen. Ist es heute nicht so, daß
die Berufung auf das eigene Gewissen und das Handeln nach eigenem Gewissen
geradezu als Kennzeichen des Protestanten im Gegensatz zum Katholiken gilt?
Und doch hat selbst der si. Thomas von Aquin den Satz ausgesprochen: Jeder
Ausspruch des Gewissens, mag er in sich richtig oder falsch sein, hat verpflichtende
Kraft, so daß der sündigt, der gegen das Gewissen handelt. Aber wer wagt
es denn unter den Vertretern der Kirche, die Folgerung daraus zu ziehen, daß
derjenige ohne Sünde ist, der, seinein Gewissen folgend, Lehren der katholischen
Kirche bezweifelt oder verwirft oder aus der Kirche ausscheidet?

Das gewöhnliche Bedenken, das dagegen von kirchlicher Seite erhoben wird,
ist dies: damit würde alles dem Belieben des Einzelnen preisgegeben werden,
ein schrankenloser Subjektivismus und Individualismus würde einreihen, alles
objektiv Geltende, Wahrheiten so gut wie Werte und Normen, würde man
zerstören. Allein diese Befürchtungen sind übertrieben. Wir haben tatsächlich
einen Bereich unseres Kulturlebens, wo sich die vollste Freiheit des Subjekts,
das uneingeschränkte Recht auf eigenen Vernunftgebrauch und Kritik vereint mit
dem Erwerb und der zunehmenden Sicherung und Bereicherung objektiv gültiger
Erkenntnis und allgemein wertvoller Normen. Es ist das Gebiet der modernen
Wissenschaft. Wer von dem Geiste dieser Wissenschaft durchdrungen ist, der
vertraut auch auf die sieghafte Kraft der Wahrheit, der glaubt sie nicht durch
Machtgebote und künstliche Schranken behüten zu müssen. Ihn: ist jeder ver¬
nünftige Zweifel, jeder sachlich begründete Einwand, jedes ernsthafte Bedenken
gegen Sätze, die man bis dahin anerkannt hat, willkommen; denn entweder
werden diese dadurch als unrichtig oder halb richtig erkannt, oder sie bewähren
sich vor der kritischen Prüfung und werden so tiefer in ihrer Begründung erfaßt.
In beiden Füllen wird der Wahrheit gedient.

Kann aber die katholische Kirche -- und damit kommen wir zu unserer
zweiten Hauptfrage -- die Freiheit der Forschung und Lehre, wie sie das
innerste Prinzip unserer modernen Wissenschaft bildet, grundsätzlich anerkennen?

Schon seit mehr als drei Jahrzehnten besteht die "Görresgesellschaft" zur
Pflege der Wissenschaft in: katholischen Deutschland. Ihr langjähriger Präsident,
der Münchener Philosophieprofessor Georg v. Hertling, hat bei verschiedenen


Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens

Suchende den Weg zu mir finden oder wieder zu mir zurückkehren wird; und
wenn er dies auch nicht tut, so „sündigt" er doch nicht, denn Suchen «ach
Wahrheit kann niemals Sünde sein, vielmehr ist es eine der besten Weisen,
Gott zu dienen.

Soviel ich zu beurteilen vermag, könnten die kirchlichen Organe, ohne gegen
das Dogma zu verstoßen, diese veränderte pädagogische Haltung einnehmen;
sie müßten eben nur mehr Vertrauen haben zu dem Wert ihrer eigenen Lehre,
zu dem Guten in der Menschennatur und vor allem zu der sittlichen Bedeutung
des Strebens nach Wahrheit. Auch müßten sie den Mut haben, aus der —
auch von der Kirche anerkannten — Lehre, daß man niemals gegen das Ge¬
wissen handeln dürfe, alle Folgerungen zu ziehen. Ist es heute nicht so, daß
die Berufung auf das eigene Gewissen und das Handeln nach eigenem Gewissen
geradezu als Kennzeichen des Protestanten im Gegensatz zum Katholiken gilt?
Und doch hat selbst der si. Thomas von Aquin den Satz ausgesprochen: Jeder
Ausspruch des Gewissens, mag er in sich richtig oder falsch sein, hat verpflichtende
Kraft, so daß der sündigt, der gegen das Gewissen handelt. Aber wer wagt
es denn unter den Vertretern der Kirche, die Folgerung daraus zu ziehen, daß
derjenige ohne Sünde ist, der, seinein Gewissen folgend, Lehren der katholischen
Kirche bezweifelt oder verwirft oder aus der Kirche ausscheidet?

Das gewöhnliche Bedenken, das dagegen von kirchlicher Seite erhoben wird,
ist dies: damit würde alles dem Belieben des Einzelnen preisgegeben werden,
ein schrankenloser Subjektivismus und Individualismus würde einreihen, alles
objektiv Geltende, Wahrheiten so gut wie Werte und Normen, würde man
zerstören. Allein diese Befürchtungen sind übertrieben. Wir haben tatsächlich
einen Bereich unseres Kulturlebens, wo sich die vollste Freiheit des Subjekts,
das uneingeschränkte Recht auf eigenen Vernunftgebrauch und Kritik vereint mit
dem Erwerb und der zunehmenden Sicherung und Bereicherung objektiv gültiger
Erkenntnis und allgemein wertvoller Normen. Es ist das Gebiet der modernen
Wissenschaft. Wer von dem Geiste dieser Wissenschaft durchdrungen ist, der
vertraut auch auf die sieghafte Kraft der Wahrheit, der glaubt sie nicht durch
Machtgebote und künstliche Schranken behüten zu müssen. Ihn: ist jeder ver¬
nünftige Zweifel, jeder sachlich begründete Einwand, jedes ernsthafte Bedenken
gegen Sätze, die man bis dahin anerkannt hat, willkommen; denn entweder
werden diese dadurch als unrichtig oder halb richtig erkannt, oder sie bewähren
sich vor der kritischen Prüfung und werden so tiefer in ihrer Begründung erfaßt.
In beiden Füllen wird der Wahrheit gedient.

Kann aber die katholische Kirche — und damit kommen wir zu unserer
zweiten Hauptfrage — die Freiheit der Forschung und Lehre, wie sie das
innerste Prinzip unserer modernen Wissenschaft bildet, grundsätzlich anerkennen?

Schon seit mehr als drei Jahrzehnten besteht die „Görresgesellschaft" zur
Pflege der Wissenschaft in: katholischen Deutschland. Ihr langjähriger Präsident,
der Münchener Philosophieprofessor Georg v. Hertling, hat bei verschiedenen


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[0374] Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschens Suchende den Weg zu mir finden oder wieder zu mir zurückkehren wird; und wenn er dies auch nicht tut, so „sündigt" er doch nicht, denn Suchen «ach Wahrheit kann niemals Sünde sein, vielmehr ist es eine der besten Weisen, Gott zu dienen. Soviel ich zu beurteilen vermag, könnten die kirchlichen Organe, ohne gegen das Dogma zu verstoßen, diese veränderte pädagogische Haltung einnehmen; sie müßten eben nur mehr Vertrauen haben zu dem Wert ihrer eigenen Lehre, zu dem Guten in der Menschennatur und vor allem zu der sittlichen Bedeutung des Strebens nach Wahrheit. Auch müßten sie den Mut haben, aus der — auch von der Kirche anerkannten — Lehre, daß man niemals gegen das Ge¬ wissen handeln dürfe, alle Folgerungen zu ziehen. Ist es heute nicht so, daß die Berufung auf das eigene Gewissen und das Handeln nach eigenem Gewissen geradezu als Kennzeichen des Protestanten im Gegensatz zum Katholiken gilt? Und doch hat selbst der si. Thomas von Aquin den Satz ausgesprochen: Jeder Ausspruch des Gewissens, mag er in sich richtig oder falsch sein, hat verpflichtende Kraft, so daß der sündigt, der gegen das Gewissen handelt. Aber wer wagt es denn unter den Vertretern der Kirche, die Folgerung daraus zu ziehen, daß derjenige ohne Sünde ist, der, seinein Gewissen folgend, Lehren der katholischen Kirche bezweifelt oder verwirft oder aus der Kirche ausscheidet? Das gewöhnliche Bedenken, das dagegen von kirchlicher Seite erhoben wird, ist dies: damit würde alles dem Belieben des Einzelnen preisgegeben werden, ein schrankenloser Subjektivismus und Individualismus würde einreihen, alles objektiv Geltende, Wahrheiten so gut wie Werte und Normen, würde man zerstören. Allein diese Befürchtungen sind übertrieben. Wir haben tatsächlich einen Bereich unseres Kulturlebens, wo sich die vollste Freiheit des Subjekts, das uneingeschränkte Recht auf eigenen Vernunftgebrauch und Kritik vereint mit dem Erwerb und der zunehmenden Sicherung und Bereicherung objektiv gültiger Erkenntnis und allgemein wertvoller Normen. Es ist das Gebiet der modernen Wissenschaft. Wer von dem Geiste dieser Wissenschaft durchdrungen ist, der vertraut auch auf die sieghafte Kraft der Wahrheit, der glaubt sie nicht durch Machtgebote und künstliche Schranken behüten zu müssen. Ihn: ist jeder ver¬ nünftige Zweifel, jeder sachlich begründete Einwand, jedes ernsthafte Bedenken gegen Sätze, die man bis dahin anerkannt hat, willkommen; denn entweder werden diese dadurch als unrichtig oder halb richtig erkannt, oder sie bewähren sich vor der kritischen Prüfung und werden so tiefer in ihrer Begründung erfaßt. In beiden Füllen wird der Wahrheit gedient. Kann aber die katholische Kirche — und damit kommen wir zu unserer zweiten Hauptfrage — die Freiheit der Forschung und Lehre, wie sie das innerste Prinzip unserer modernen Wissenschaft bildet, grundsätzlich anerkennen? Schon seit mehr als drei Jahrzehnten besteht die „Görresgesellschaft" zur Pflege der Wissenschaft in: katholischen Deutschland. Ihr langjähriger Präsident, der Münchener Philosophieprofessor Georg v. Hertling, hat bei verschiedenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/374>, abgerufen am 24.07.2024.