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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschen?

Halt, ohne bestimmte Überzeugungen über das Woher? und Wohin? des Daseins
zu leben, und so finden sie bald wieder den Weg zur Kirche zurück.

Aber hat denn um derjenige, der nicht durch einen Willensakt seine Zweifel
unterdrückt, sondern durch klare Einsicht sie innerlich überwinden will, die Billi¬
gung der Kirche, wenn er so lange seine Zustimmung zum Glauben zurückhält,
bis er ihn wieder mit voller Überzeugung bejahen kann? Man sollte es meinen.
Auch dem außerhalb der Kirche Aufgewachsenen gegenüber beansprucht sie ja
zunächst keine sozusagen übermenschliche Autorität, sie wendet sich vielmehr mit
ihren apologetischen Beweisführungen an seine Vernunft, der sie also die Ent¬
scheidung zutraut. Allein diese Gleichsetzung des Katholiken mit dein Matholiken
lehnt die Kirche ab; das Vatikanische Konzil hat entschieden: "Wenn jemand
sagt, die Gläubigen befänden sich in der gleichen Lage mit jenen, welche noch
nicht zum allein wahren Glauben gelangt sind, so daß die Katholiken einen
gerechten Grund haben könnten, den Glauben, welchen sie unter dem Lehramt
der Kirche bereits angenommen haben, so lange mit einstweiliger Zurückhaltung
ihrer Zustimmung in Zweifel zu ziehen, bis sie den wissenschaftlichen Beweis
der Glaubwürdigkeit und der Wahrheit ihres Glaubens würden zu Ende geführt
haben --, so sei er im Banne."

Versagt damit nicht die Kirche dem Katholiken die Möglichkeit, wirklich
unbefangen die historischen und philosophischen Grundlagen des Glaubens (die
praeambula kiäsi) kritisch zu prüfen? Er darf ja während dieser Prüfung,
auch wenn sie jahrelang dauert, seinen Glauben nicht "suspendieren", er muß
vielmehr schon von vornherein überzeugt sein, daß das Ergebnis dieser Prüfung
nur eines sein kann: die Anerkennung der katholischen Lehre als der allein
wahren. Wo bleibt da die Freiheit des Denkens?

Allein die Verteidiger der Kirche erklären uns hier, mit dieser Konzils¬
entscheidung sei nur gemeint, im Inhalt der katholischen Lehre sei kein objektiver
Grund dafür gegeben, der den im Glauben Unterwiesenen zum Zweifel berechtige.

Aber wenn die Kirche nur feststellen wollte, daß ein Zweifel objektiv nicht
begründet sei, warum lehrt man da im katholischen Religionsunterricht und in
der katholischen Moral so nachdrücklich, daß jeder freiwillige Glaubenszweifel
Sünde sei? Unter "Sünde" versteht man eben nicht nur eine objektiv unrichtige
oder sachlich unbegründete Handlungsweise, sondern zugleich ein subjektives Ver¬
schulden, das den moralischen Wert der Person mindert und sie strafwürdig
erscheinen läßt. Und wie begründet man den Satz, daß niemand ohne Sünde
den Glauben in Zweifel ziehen oder gar von ihm abfallen könne? Auf die
Beweise der Kirche für ihre göttliche Stiftung darf man hier nicht wieder hin¬
weisen, denn wir fragen ja gerade: warum muß der Katholik sie schon als
stichhaltig gelten lassen, noch ehe er sie selbst geprüft? So viel ich sehe, läßt
es sich überhaupt nicht in verständlicher Weise begründen, mit welchem Recht
die Kirche dem eine innere Glaubenspflicht auferlegen kann, dem ihre Glaub¬
würdigkeit zweifelhaft geworden ist. Daß hier das Begründer zu Ende ist,


Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschen?

Halt, ohne bestimmte Überzeugungen über das Woher? und Wohin? des Daseins
zu leben, und so finden sie bald wieder den Weg zur Kirche zurück.

Aber hat denn um derjenige, der nicht durch einen Willensakt seine Zweifel
unterdrückt, sondern durch klare Einsicht sie innerlich überwinden will, die Billi¬
gung der Kirche, wenn er so lange seine Zustimmung zum Glauben zurückhält,
bis er ihn wieder mit voller Überzeugung bejahen kann? Man sollte es meinen.
Auch dem außerhalb der Kirche Aufgewachsenen gegenüber beansprucht sie ja
zunächst keine sozusagen übermenschliche Autorität, sie wendet sich vielmehr mit
ihren apologetischen Beweisführungen an seine Vernunft, der sie also die Ent¬
scheidung zutraut. Allein diese Gleichsetzung des Katholiken mit dein Matholiken
lehnt die Kirche ab; das Vatikanische Konzil hat entschieden: „Wenn jemand
sagt, die Gläubigen befänden sich in der gleichen Lage mit jenen, welche noch
nicht zum allein wahren Glauben gelangt sind, so daß die Katholiken einen
gerechten Grund haben könnten, den Glauben, welchen sie unter dem Lehramt
der Kirche bereits angenommen haben, so lange mit einstweiliger Zurückhaltung
ihrer Zustimmung in Zweifel zu ziehen, bis sie den wissenschaftlichen Beweis
der Glaubwürdigkeit und der Wahrheit ihres Glaubens würden zu Ende geführt
haben —, so sei er im Banne."

Versagt damit nicht die Kirche dem Katholiken die Möglichkeit, wirklich
unbefangen die historischen und philosophischen Grundlagen des Glaubens (die
praeambula kiäsi) kritisch zu prüfen? Er darf ja während dieser Prüfung,
auch wenn sie jahrelang dauert, seinen Glauben nicht „suspendieren", er muß
vielmehr schon von vornherein überzeugt sein, daß das Ergebnis dieser Prüfung
nur eines sein kann: die Anerkennung der katholischen Lehre als der allein
wahren. Wo bleibt da die Freiheit des Denkens?

Allein die Verteidiger der Kirche erklären uns hier, mit dieser Konzils¬
entscheidung sei nur gemeint, im Inhalt der katholischen Lehre sei kein objektiver
Grund dafür gegeben, der den im Glauben Unterwiesenen zum Zweifel berechtige.

Aber wenn die Kirche nur feststellen wollte, daß ein Zweifel objektiv nicht
begründet sei, warum lehrt man da im katholischen Religionsunterricht und in
der katholischen Moral so nachdrücklich, daß jeder freiwillige Glaubenszweifel
Sünde sei? Unter „Sünde" versteht man eben nicht nur eine objektiv unrichtige
oder sachlich unbegründete Handlungsweise, sondern zugleich ein subjektives Ver¬
schulden, das den moralischen Wert der Person mindert und sie strafwürdig
erscheinen läßt. Und wie begründet man den Satz, daß niemand ohne Sünde
den Glauben in Zweifel ziehen oder gar von ihm abfallen könne? Auf die
Beweise der Kirche für ihre göttliche Stiftung darf man hier nicht wieder hin¬
weisen, denn wir fragen ja gerade: warum muß der Katholik sie schon als
stichhaltig gelten lassen, noch ehe er sie selbst geprüft? So viel ich sehe, läßt
es sich überhaupt nicht in verständlicher Weise begründen, mit welchem Recht
die Kirche dem eine innere Glaubenspflicht auferlegen kann, dem ihre Glaub¬
würdigkeit zweifelhaft geworden ist. Daß hier das Begründer zu Ende ist,


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[0372] Katholische Kirche und Freiheit des Denkens und Forschen? Halt, ohne bestimmte Überzeugungen über das Woher? und Wohin? des Daseins zu leben, und so finden sie bald wieder den Weg zur Kirche zurück. Aber hat denn um derjenige, der nicht durch einen Willensakt seine Zweifel unterdrückt, sondern durch klare Einsicht sie innerlich überwinden will, die Billi¬ gung der Kirche, wenn er so lange seine Zustimmung zum Glauben zurückhält, bis er ihn wieder mit voller Überzeugung bejahen kann? Man sollte es meinen. Auch dem außerhalb der Kirche Aufgewachsenen gegenüber beansprucht sie ja zunächst keine sozusagen übermenschliche Autorität, sie wendet sich vielmehr mit ihren apologetischen Beweisführungen an seine Vernunft, der sie also die Ent¬ scheidung zutraut. Allein diese Gleichsetzung des Katholiken mit dein Matholiken lehnt die Kirche ab; das Vatikanische Konzil hat entschieden: „Wenn jemand sagt, die Gläubigen befänden sich in der gleichen Lage mit jenen, welche noch nicht zum allein wahren Glauben gelangt sind, so daß die Katholiken einen gerechten Grund haben könnten, den Glauben, welchen sie unter dem Lehramt der Kirche bereits angenommen haben, so lange mit einstweiliger Zurückhaltung ihrer Zustimmung in Zweifel zu ziehen, bis sie den wissenschaftlichen Beweis der Glaubwürdigkeit und der Wahrheit ihres Glaubens würden zu Ende geführt haben —, so sei er im Banne." Versagt damit nicht die Kirche dem Katholiken die Möglichkeit, wirklich unbefangen die historischen und philosophischen Grundlagen des Glaubens (die praeambula kiäsi) kritisch zu prüfen? Er darf ja während dieser Prüfung, auch wenn sie jahrelang dauert, seinen Glauben nicht „suspendieren", er muß vielmehr schon von vornherein überzeugt sein, daß das Ergebnis dieser Prüfung nur eines sein kann: die Anerkennung der katholischen Lehre als der allein wahren. Wo bleibt da die Freiheit des Denkens? Allein die Verteidiger der Kirche erklären uns hier, mit dieser Konzils¬ entscheidung sei nur gemeint, im Inhalt der katholischen Lehre sei kein objektiver Grund dafür gegeben, der den im Glauben Unterwiesenen zum Zweifel berechtige. Aber wenn die Kirche nur feststellen wollte, daß ein Zweifel objektiv nicht begründet sei, warum lehrt man da im katholischen Religionsunterricht und in der katholischen Moral so nachdrücklich, daß jeder freiwillige Glaubenszweifel Sünde sei? Unter „Sünde" versteht man eben nicht nur eine objektiv unrichtige oder sachlich unbegründete Handlungsweise, sondern zugleich ein subjektives Ver¬ schulden, das den moralischen Wert der Person mindert und sie strafwürdig erscheinen läßt. Und wie begründet man den Satz, daß niemand ohne Sünde den Glauben in Zweifel ziehen oder gar von ihm abfallen könne? Auf die Beweise der Kirche für ihre göttliche Stiftung darf man hier nicht wieder hin¬ weisen, denn wir fragen ja gerade: warum muß der Katholik sie schon als stichhaltig gelten lassen, noch ehe er sie selbst geprüft? So viel ich sehe, läßt es sich überhaupt nicht in verständlicher Weise begründen, mit welchem Recht die Kirche dem eine innere Glaubenspflicht auferlegen kann, dem ihre Glaub¬ würdigkeit zweifelhaft geworden ist. Daß hier das Begründer zu Ende ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/372>, abgerufen am 24.07.2024.