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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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uns doch gewiß nicht in dem Maße, daß wir deshalb unser Zeitalter ein Zeit¬
alter der Bevormundung nennen dürften. Soweit eine solche heute besteht, wird
sie hauptsächlich ohne Zweifel durch die sozialpolitische Gesetzgebung hervor¬
gebracht. Wer aber diese als eine große Errungenschaft unserer Zeit ansieht, muß
sich auch die "Bevormundung" gefallen lassen. Die heftigen Klagen, die Naumann
gegen sie erhebt, sind wiederum charakteristisch für diesen Geschichtsschreiber.

Im Grunde ist es recht unpraktisch, daß Naumann, wenn er heute den
Liberalismus empfehlen will, sich in der Herabsetzung der Bismarckschen Ära
und ihrer Wirkungen so sehr ereifert. Es wäre viel klüger, wenn er darauf
hinweisen würde, daß in der Gegenwart die Freisinnigen das Gute aus dem
System Bismarcks sich anzueignen bemüht seien. Er könnte, statt den nackten
Freihandel zu proklamieren, z. B. hervorheben, daß die Freisinnigen in der
letzten Beratung über die Dampfersubvention mit größter Entschiedenheit für
diese eingetreten seien, während sie ihnen in Bismarcks Zeit stets Gegenstand
des Abscheus gewesen war. Aber ein solches Verfahren wird Naumann un¬
möglich gemacht durch seine Haupttendenz, die Einheit des Liberalismus mit der
Sozialdemokratie darzutun.

Wie ungünstig die Nationalliberalen historisch bei diesem Versuch der
Gewaltsamkeit fahren, das haben wir schon gesehen. Und in der Gegenwart
finden sie ebenfalls in Dingen, die ihnen am Herzen liegen, bei Naumann keine
Gnade: sie sind z. B. Schutzzöllner und fordern die Ausführung des Enteignungs-
gesetzes; er verurteilt mit den Freisinnigen und Sozialisten beides aufs schärfste.
Anderseits stehen heute die Freisinnigen in wichtigen Beziehungen den National¬
liberalen näher als in Bismarcks Zeit, in gemeinsamem Gegensatz gegen die
Sozialdemokratie.' in den Heeres- und Flottenfragen und der Kolonialpolitik.
Wenn nun alle diese Dinge es zum Rätsel machen, wie Naumann dabei seine
Formel "von Bassermann bis Bebel" durchführen will, so fragt es sich, ob er
wenigstens für seine persönliche Auffassung vom Liberalismus die Identität mit
dem Sozialismus zu erweisen vermag. Sein Hauptargument ist folgendes: Die
Unternehmer tun sich in Riesenverbänden zusammen, wodurch sie eine unheimliche
Macht über ihre Arbeitskräfte ausüben können. Hiergegen müssen sich die
Angestellten und Arbeiter ebenfalls in großen Verbänden zusammentun, und sie
zu schützen und zu stützen ist die identische Aufgabe des Liberalismus und
Sozialismus. Dieser Gedanke wird von Naumann ganz geistreich durchgeführt. Aber
er hat den Nachteil, daß er sich nicht recht verteidigen läßt. Naumann gerät mit dieser
These in Widerspruch gegen seine eigene Darstellung. Während er nämlich da,
wo er gegen Konservative und Zentrum und Bismarck spricht, stets das Recht


Gegenwirkung gegen die Attentate ist. Sodann haben sich mit ihm die bon Naumann
gefeierten Liberalen, z. B. Mommsen, leidlich abgefunden. Im übrigen mag zur Würdigung
des Sozialistengesetzes auf die Darstellung bon Th. Ziegler, "Die geistigen und sozialen
Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts" (Berlin, G. Bondi. 3. Aufl. 1910). hingewiesen.
Werden.
Gin Tendcnii'venar

uns doch gewiß nicht in dem Maße, daß wir deshalb unser Zeitalter ein Zeit¬
alter der Bevormundung nennen dürften. Soweit eine solche heute besteht, wird
sie hauptsächlich ohne Zweifel durch die sozialpolitische Gesetzgebung hervor¬
gebracht. Wer aber diese als eine große Errungenschaft unserer Zeit ansieht, muß
sich auch die „Bevormundung" gefallen lassen. Die heftigen Klagen, die Naumann
gegen sie erhebt, sind wiederum charakteristisch für diesen Geschichtsschreiber.

Im Grunde ist es recht unpraktisch, daß Naumann, wenn er heute den
Liberalismus empfehlen will, sich in der Herabsetzung der Bismarckschen Ära
und ihrer Wirkungen so sehr ereifert. Es wäre viel klüger, wenn er darauf
hinweisen würde, daß in der Gegenwart die Freisinnigen das Gute aus dem
System Bismarcks sich anzueignen bemüht seien. Er könnte, statt den nackten
Freihandel zu proklamieren, z. B. hervorheben, daß die Freisinnigen in der
letzten Beratung über die Dampfersubvention mit größter Entschiedenheit für
diese eingetreten seien, während sie ihnen in Bismarcks Zeit stets Gegenstand
des Abscheus gewesen war. Aber ein solches Verfahren wird Naumann un¬
möglich gemacht durch seine Haupttendenz, die Einheit des Liberalismus mit der
Sozialdemokratie darzutun.

Wie ungünstig die Nationalliberalen historisch bei diesem Versuch der
Gewaltsamkeit fahren, das haben wir schon gesehen. Und in der Gegenwart
finden sie ebenfalls in Dingen, die ihnen am Herzen liegen, bei Naumann keine
Gnade: sie sind z. B. Schutzzöllner und fordern die Ausführung des Enteignungs-
gesetzes; er verurteilt mit den Freisinnigen und Sozialisten beides aufs schärfste.
Anderseits stehen heute die Freisinnigen in wichtigen Beziehungen den National¬
liberalen näher als in Bismarcks Zeit, in gemeinsamem Gegensatz gegen die
Sozialdemokratie.' in den Heeres- und Flottenfragen und der Kolonialpolitik.
Wenn nun alle diese Dinge es zum Rätsel machen, wie Naumann dabei seine
Formel „von Bassermann bis Bebel" durchführen will, so fragt es sich, ob er
wenigstens für seine persönliche Auffassung vom Liberalismus die Identität mit
dem Sozialismus zu erweisen vermag. Sein Hauptargument ist folgendes: Die
Unternehmer tun sich in Riesenverbänden zusammen, wodurch sie eine unheimliche
Macht über ihre Arbeitskräfte ausüben können. Hiergegen müssen sich die
Angestellten und Arbeiter ebenfalls in großen Verbänden zusammentun, und sie
zu schützen und zu stützen ist die identische Aufgabe des Liberalismus und
Sozialismus. Dieser Gedanke wird von Naumann ganz geistreich durchgeführt. Aber
er hat den Nachteil, daß er sich nicht recht verteidigen läßt. Naumann gerät mit dieser
These in Widerspruch gegen seine eigene Darstellung. Während er nämlich da,
wo er gegen Konservative und Zentrum und Bismarck spricht, stets das Recht


Gegenwirkung gegen die Attentate ist. Sodann haben sich mit ihm die bon Naumann
gefeierten Liberalen, z. B. Mommsen, leidlich abgefunden. Im übrigen mag zur Würdigung
des Sozialistengesetzes auf die Darstellung bon Th. Ziegler, „Die geistigen und sozialen
Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts" (Berlin, G. Bondi. 3. Aufl. 1910). hingewiesen.
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[0347] Gin Tendcnii'venar uns doch gewiß nicht in dem Maße, daß wir deshalb unser Zeitalter ein Zeit¬ alter der Bevormundung nennen dürften. Soweit eine solche heute besteht, wird sie hauptsächlich ohne Zweifel durch die sozialpolitische Gesetzgebung hervor¬ gebracht. Wer aber diese als eine große Errungenschaft unserer Zeit ansieht, muß sich auch die „Bevormundung" gefallen lassen. Die heftigen Klagen, die Naumann gegen sie erhebt, sind wiederum charakteristisch für diesen Geschichtsschreiber. Im Grunde ist es recht unpraktisch, daß Naumann, wenn er heute den Liberalismus empfehlen will, sich in der Herabsetzung der Bismarckschen Ära und ihrer Wirkungen so sehr ereifert. Es wäre viel klüger, wenn er darauf hinweisen würde, daß in der Gegenwart die Freisinnigen das Gute aus dem System Bismarcks sich anzueignen bemüht seien. Er könnte, statt den nackten Freihandel zu proklamieren, z. B. hervorheben, daß die Freisinnigen in der letzten Beratung über die Dampfersubvention mit größter Entschiedenheit für diese eingetreten seien, während sie ihnen in Bismarcks Zeit stets Gegenstand des Abscheus gewesen war. Aber ein solches Verfahren wird Naumann un¬ möglich gemacht durch seine Haupttendenz, die Einheit des Liberalismus mit der Sozialdemokratie darzutun. Wie ungünstig die Nationalliberalen historisch bei diesem Versuch der Gewaltsamkeit fahren, das haben wir schon gesehen. Und in der Gegenwart finden sie ebenfalls in Dingen, die ihnen am Herzen liegen, bei Naumann keine Gnade: sie sind z. B. Schutzzöllner und fordern die Ausführung des Enteignungs- gesetzes; er verurteilt mit den Freisinnigen und Sozialisten beides aufs schärfste. Anderseits stehen heute die Freisinnigen in wichtigen Beziehungen den National¬ liberalen näher als in Bismarcks Zeit, in gemeinsamem Gegensatz gegen die Sozialdemokratie.' in den Heeres- und Flottenfragen und der Kolonialpolitik. Wenn nun alle diese Dinge es zum Rätsel machen, wie Naumann dabei seine Formel „von Bassermann bis Bebel" durchführen will, so fragt es sich, ob er wenigstens für seine persönliche Auffassung vom Liberalismus die Identität mit dem Sozialismus zu erweisen vermag. Sein Hauptargument ist folgendes: Die Unternehmer tun sich in Riesenverbänden zusammen, wodurch sie eine unheimliche Macht über ihre Arbeitskräfte ausüben können. Hiergegen müssen sich die Angestellten und Arbeiter ebenfalls in großen Verbänden zusammentun, und sie zu schützen und zu stützen ist die identische Aufgabe des Liberalismus und Sozialismus. Dieser Gedanke wird von Naumann ganz geistreich durchgeführt. Aber er hat den Nachteil, daß er sich nicht recht verteidigen läßt. Naumann gerät mit dieser These in Widerspruch gegen seine eigene Darstellung. Während er nämlich da, wo er gegen Konservative und Zentrum und Bismarck spricht, stets das Recht Gegenwirkung gegen die Attentate ist. Sodann haben sich mit ihm die bon Naumann gefeierten Liberalen, z. B. Mommsen, leidlich abgefunden. Im übrigen mag zur Würdigung des Sozialistengesetzes auf die Darstellung bon Th. Ziegler, „Die geistigen und sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts" (Berlin, G. Bondi. 3. Aufl. 1910). hingewiesen. Werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/347>, abgerufen am 24.07.2024.