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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Ein Tendenzroman

darauf, die Unterstützung des Zentrums zu erhalten, wie sie sie auch tatsächlich
erhielten.

Seit den Reichstagswahlen des Jahres 1890 beginnt ein näheres Verhältnis
der Regierung zum Zentrum oder auch eine gewisse Abhängigkeit von ihm.
Naumann (S. 40) schildert spottend, wie aufmerksam alles gelauscht habe, wenn
der verstorbene Abgeordnete Lieber eine Rede hielt. Indessen was hat diese
Situation herbeigeführt? Nichts anderes als die wesentliche Verstärkung der
Freunde Naumanns, der Freisinnigen und Sozialisten, auf Kosten der National¬
liberalen bei den Wahlen von 1890. Die Freisinnigen waren so rabiat, daß
sie 1893 die Regierung zwangen, sogar bei den Polen eine Stütze zu suchen.
Hätte sie nicht an dem preußischen Abgeordnetenhaus einen Rückhalt gefunden *),
so hätte das Deutschtum in den östlichen Provinzen die schwersten Verluste erlitten.

Naumann selbst treibt es übrigens noch heute ähnlich wie die alten Frei¬
sinnigen, wenn er einerseits den Kulturkampf scharf verurteilt und es der
Frankfurter Zeitung zum höchsten Verdienst anrechnet**), daß sie ihn nicht
mitgemacht habe, und anderseits die Reichsregierung verspottet, weil sie den
Kulturkampf aufgegeben, um Bewilligungen für die Flotte zu erlangen (S. 73);
ein Zeichen nebenbei, daß Naumann in der Chronologie nicht fehr beschlagen ist.

Nach Naumann waren für Bismarck seit 1878 die Nationalliberalen die
"unbequemste" Partei; er wollte mit ihnen "Schicht machen" (s. z.B. S. 23 und 26).
In Wahrheit wandte er sich nicht sowohl gegen die Partei im ganzen, als
vielmehr gegen ihren linken Flügel, die späteren Sezesstonisten. Die Tiedemcmn-
schen Tagebücher zeigen, wie unangenehm ihm diese Kreise schon vor 1878
gewesen sind (das Scherzwort über Lasters Namen stammt bereits aus jener
Zeit). Dagegen hat er mit dem rechten Flügel der Nationalliberalen stets ein
gutes Verhältnis gesucht, auch bei sachlichen Differenzen die direkte Fehde gegen
ihn vermieden. Mehreres in Bismarcks Politik erklärt sich nur aus seinem
Bestreben, mit den echten Nationalliberalen auf guten: Fuß zu bleiben. Dies
zu betonen paßt freilich nicht in Naumanns Plan. Denn der Liberalismus
soll als etwas ganz Einheitliches erscheinen. Nach Naumann (S. 32) sind die
Nationalliberalen "von Bismarck zerdrückt" worden und zerdrückt eben gerade von
ihm. Gewiß hängt es teilweise mit der Bismarckschen Politik zusammen, wenn die
Konservativen auf Kosten der Nationalliberalen Fortschritte gemacht haben. In¬
dessen in größerem Umfang war der Kampf der Nationalliberalen um ihre
Existenz ein Kampf gegen Freisinnige und Sozialdemokraten, und Bismarck
wünschte dringend jenen den Sieg. Ein Erfolg der Nationalliberalen über
Freisinnige, Sozialisten oder Ultramontane galt stets als Erfolg Bismarcks.

Schon die Umstände, die wir hiermit hervorgehoben haben, beweisen, daß
das Schema Naumanns -- hier konservativ-klerikal mit der Regierung, dort
liberal-sozialistisch -- historisch gar nicht zutrifft. Und wie will er ferner die




") SM meine Schrift: "Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland." S. 55 f.
Vcfl, Grenzboten vom 13. Juli 1910, S. 62.
Ein Tendenzroman

darauf, die Unterstützung des Zentrums zu erhalten, wie sie sie auch tatsächlich
erhielten.

Seit den Reichstagswahlen des Jahres 1890 beginnt ein näheres Verhältnis
der Regierung zum Zentrum oder auch eine gewisse Abhängigkeit von ihm.
Naumann (S. 40) schildert spottend, wie aufmerksam alles gelauscht habe, wenn
der verstorbene Abgeordnete Lieber eine Rede hielt. Indessen was hat diese
Situation herbeigeführt? Nichts anderes als die wesentliche Verstärkung der
Freunde Naumanns, der Freisinnigen und Sozialisten, auf Kosten der National¬
liberalen bei den Wahlen von 1890. Die Freisinnigen waren so rabiat, daß
sie 1893 die Regierung zwangen, sogar bei den Polen eine Stütze zu suchen.
Hätte sie nicht an dem preußischen Abgeordnetenhaus einen Rückhalt gefunden *),
so hätte das Deutschtum in den östlichen Provinzen die schwersten Verluste erlitten.

Naumann selbst treibt es übrigens noch heute ähnlich wie die alten Frei¬
sinnigen, wenn er einerseits den Kulturkampf scharf verurteilt und es der
Frankfurter Zeitung zum höchsten Verdienst anrechnet**), daß sie ihn nicht
mitgemacht habe, und anderseits die Reichsregierung verspottet, weil sie den
Kulturkampf aufgegeben, um Bewilligungen für die Flotte zu erlangen (S. 73);
ein Zeichen nebenbei, daß Naumann in der Chronologie nicht fehr beschlagen ist.

Nach Naumann waren für Bismarck seit 1878 die Nationalliberalen die
„unbequemste" Partei; er wollte mit ihnen „Schicht machen" (s. z.B. S. 23 und 26).
In Wahrheit wandte er sich nicht sowohl gegen die Partei im ganzen, als
vielmehr gegen ihren linken Flügel, die späteren Sezesstonisten. Die Tiedemcmn-
schen Tagebücher zeigen, wie unangenehm ihm diese Kreise schon vor 1878
gewesen sind (das Scherzwort über Lasters Namen stammt bereits aus jener
Zeit). Dagegen hat er mit dem rechten Flügel der Nationalliberalen stets ein
gutes Verhältnis gesucht, auch bei sachlichen Differenzen die direkte Fehde gegen
ihn vermieden. Mehreres in Bismarcks Politik erklärt sich nur aus seinem
Bestreben, mit den echten Nationalliberalen auf guten: Fuß zu bleiben. Dies
zu betonen paßt freilich nicht in Naumanns Plan. Denn der Liberalismus
soll als etwas ganz Einheitliches erscheinen. Nach Naumann (S. 32) sind die
Nationalliberalen „von Bismarck zerdrückt" worden und zerdrückt eben gerade von
ihm. Gewiß hängt es teilweise mit der Bismarckschen Politik zusammen, wenn die
Konservativen auf Kosten der Nationalliberalen Fortschritte gemacht haben. In¬
dessen in größerem Umfang war der Kampf der Nationalliberalen um ihre
Existenz ein Kampf gegen Freisinnige und Sozialdemokraten, und Bismarck
wünschte dringend jenen den Sieg. Ein Erfolg der Nationalliberalen über
Freisinnige, Sozialisten oder Ultramontane galt stets als Erfolg Bismarcks.

Schon die Umstände, die wir hiermit hervorgehoben haben, beweisen, daß
das Schema Naumanns — hier konservativ-klerikal mit der Regierung, dort
liberal-sozialistisch — historisch gar nicht zutrifft. Und wie will er ferner die




") SM meine Schrift: „Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland." S. 55 f.
Vcfl, Grenzboten vom 13. Juli 1910, S. 62.
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[0341] Ein Tendenzroman darauf, die Unterstützung des Zentrums zu erhalten, wie sie sie auch tatsächlich erhielten. Seit den Reichstagswahlen des Jahres 1890 beginnt ein näheres Verhältnis der Regierung zum Zentrum oder auch eine gewisse Abhängigkeit von ihm. Naumann (S. 40) schildert spottend, wie aufmerksam alles gelauscht habe, wenn der verstorbene Abgeordnete Lieber eine Rede hielt. Indessen was hat diese Situation herbeigeführt? Nichts anderes als die wesentliche Verstärkung der Freunde Naumanns, der Freisinnigen und Sozialisten, auf Kosten der National¬ liberalen bei den Wahlen von 1890. Die Freisinnigen waren so rabiat, daß sie 1893 die Regierung zwangen, sogar bei den Polen eine Stütze zu suchen. Hätte sie nicht an dem preußischen Abgeordnetenhaus einen Rückhalt gefunden *), so hätte das Deutschtum in den östlichen Provinzen die schwersten Verluste erlitten. Naumann selbst treibt es übrigens noch heute ähnlich wie die alten Frei¬ sinnigen, wenn er einerseits den Kulturkampf scharf verurteilt und es der Frankfurter Zeitung zum höchsten Verdienst anrechnet**), daß sie ihn nicht mitgemacht habe, und anderseits die Reichsregierung verspottet, weil sie den Kulturkampf aufgegeben, um Bewilligungen für die Flotte zu erlangen (S. 73); ein Zeichen nebenbei, daß Naumann in der Chronologie nicht fehr beschlagen ist. Nach Naumann waren für Bismarck seit 1878 die Nationalliberalen die „unbequemste" Partei; er wollte mit ihnen „Schicht machen" (s. z.B. S. 23 und 26). In Wahrheit wandte er sich nicht sowohl gegen die Partei im ganzen, als vielmehr gegen ihren linken Flügel, die späteren Sezesstonisten. Die Tiedemcmn- schen Tagebücher zeigen, wie unangenehm ihm diese Kreise schon vor 1878 gewesen sind (das Scherzwort über Lasters Namen stammt bereits aus jener Zeit). Dagegen hat er mit dem rechten Flügel der Nationalliberalen stets ein gutes Verhältnis gesucht, auch bei sachlichen Differenzen die direkte Fehde gegen ihn vermieden. Mehreres in Bismarcks Politik erklärt sich nur aus seinem Bestreben, mit den echten Nationalliberalen auf guten: Fuß zu bleiben. Dies zu betonen paßt freilich nicht in Naumanns Plan. Denn der Liberalismus soll als etwas ganz Einheitliches erscheinen. Nach Naumann (S. 32) sind die Nationalliberalen „von Bismarck zerdrückt" worden und zerdrückt eben gerade von ihm. Gewiß hängt es teilweise mit der Bismarckschen Politik zusammen, wenn die Konservativen auf Kosten der Nationalliberalen Fortschritte gemacht haben. In¬ dessen in größerem Umfang war der Kampf der Nationalliberalen um ihre Existenz ein Kampf gegen Freisinnige und Sozialdemokraten, und Bismarck wünschte dringend jenen den Sieg. Ein Erfolg der Nationalliberalen über Freisinnige, Sozialisten oder Ultramontane galt stets als Erfolg Bismarcks. Schon die Umstände, die wir hiermit hervorgehoben haben, beweisen, daß das Schema Naumanns — hier konservativ-klerikal mit der Regierung, dort liberal-sozialistisch — historisch gar nicht zutrifft. Und wie will er ferner die ") SM meine Schrift: „Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland." S. 55 f. Vcfl, Grenzboten vom 13. Juli 1910, S. 62.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/341>, abgerufen am 30.12.2024.