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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Linne verhaeren

sich Verhaerens das dumpfe Gefühl der Trostlosigkeit: alles versinkt, ist müde,
verbraucht, nutzlos. Kein Glaube, kein Lichtstrahl! Ein Gebet aus jener Zeit
(in eigener Übertragung) möge dafür Zeugnis geben:

Fromm,
Die Mitternacht hebt ihren reine" Kelch zum Himmel! Und mich aus meinem dunklen Herzen steige"
Gebete, Herr, i" deine fahle Runde!
lind weis; es doch, du hast für mich nur Schweige"
Und nichts, woran mein sterbend Herz gesunde.
Ich weiß dich Lüge, meine Lippen flehen lind meine Knie, doch deine Hände säumen,
Dein Ange will den lauten Schmerz nicht sehen,
Und ich schuf mir die Welt aus leere" Träume",
Hab' Gnade, Herr, Null dir's auch Wahusin" scheine",
Ich "msz mein Leid in deine Stille weinen!,,. Die Wintenincht hebt ihre" reinen Kelch znni Himmel!

Und da kommt die Verzweiflung, das Bangen, die jagende Verfolgung.
Es schleicht heran, langsam, langsam, blickt ihn an mit glutenden Augen, reckt
die schwarzen großen Arme -- der Wahnsinn naht! Es zeigt uns nun einen
Willensakt von größter Bedeutung, von bewundernswerter Selbstentäußerung,
daß Verhaeren Kraft und Mut besaß, zu gestalten, was ihn zerfleischte und
marterte. Und eben in dieser Tat ruht die Erlösung, ist die Befreiung vor¬
bereitet. Noch war ja der Wille nicht erlahmt! Mit hellen, geisterhaft auf¬
gerissenen Augen wandelt der Einsame am Abgrund hin, mit grausiger Gelassenheit
blickt er in die lockende, geheimnisvolle Tiefe, -- wird er hinunterstürzen, soll
er den Sprung wagen? Mit krankhafter Wollust steigert er die vernichtenden
Reize, immer in der Erwartung des Zusammenbruchs, immer mit der Frage:
Wie lange noch? Der Wahnsinn soll ihm Retter sein. Wer denkt da nicht
an Nietzsche, der diesen Weg genommen und hinuntersank in die ewige,
schweigende Nacht? Aber hier eben, hart an der Grenze, vollzieht sich in
Verhaeren der ergreifende Umschwung: er hat den Weg durchmessen bis zum
letzten Meilenstein, wo ihm ein Nichts entgegengähnt, wo ihm nichts mehr
übrigbleibt. Und da -- blitzartig -- leuchtet die Erkenntnis auf:! ich habe die
Prüfung bestanden, denn ich begreife ja mit wachem Sinn, was mich starr
umfangen hielt; ich sehe ja das Ende vor mir, ich fühle, wie es mich kalt und
leer anwehe. Und mit Aufbietung aller Kraft, mit der Wucht der letzten Energie
wendet sich Verhaeren zurück -- zum anderen Ende. Nun weiß er, daß, er
allein dort Genesung und Erstarkung finden kann. Die Polarität hat eingesetzt.
Ein heißer, edler, tiefster Bewunderung würdiger Sieg ist errungen! Alle Phasen
des Schmerzes hat der herrliche Dichter durchkämpft, vor keiner Gefahr ist er
gewichen. "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn," -- strahlend steht das
Wort über seinem Leben. Er hat es sich schwer erstreiten müssen; als Held
und Überwinder hat er bestanden. Wenn je eine Entwickelung folgenschwer


Linne verhaeren

sich Verhaerens das dumpfe Gefühl der Trostlosigkeit: alles versinkt, ist müde,
verbraucht, nutzlos. Kein Glaube, kein Lichtstrahl! Ein Gebet aus jener Zeit
(in eigener Übertragung) möge dafür Zeugnis geben:

Fromm,
Die Mitternacht hebt ihren reine» Kelch zum Himmel! Und mich aus meinem dunklen Herzen steige»
Gebete, Herr, i» deine fahle Runde!
lind weis; es doch, du hast für mich nur Schweige»
Und nichts, woran mein sterbend Herz gesunde.
Ich weiß dich Lüge, meine Lippen flehen lind meine Knie, doch deine Hände säumen,
Dein Ange will den lauten Schmerz nicht sehen,
Und ich schuf mir die Welt aus leere» Träume»,
Hab' Gnade, Herr, Null dir's auch Wahusin» scheine»,
Ich »msz mein Leid in deine Stille weinen!,,. Die Wintenincht hebt ihre» reinen Kelch znni Himmel!

Und da kommt die Verzweiflung, das Bangen, die jagende Verfolgung.
Es schleicht heran, langsam, langsam, blickt ihn an mit glutenden Augen, reckt
die schwarzen großen Arme — der Wahnsinn naht! Es zeigt uns nun einen
Willensakt von größter Bedeutung, von bewundernswerter Selbstentäußerung,
daß Verhaeren Kraft und Mut besaß, zu gestalten, was ihn zerfleischte und
marterte. Und eben in dieser Tat ruht die Erlösung, ist die Befreiung vor¬
bereitet. Noch war ja der Wille nicht erlahmt! Mit hellen, geisterhaft auf¬
gerissenen Augen wandelt der Einsame am Abgrund hin, mit grausiger Gelassenheit
blickt er in die lockende, geheimnisvolle Tiefe, — wird er hinunterstürzen, soll
er den Sprung wagen? Mit krankhafter Wollust steigert er die vernichtenden
Reize, immer in der Erwartung des Zusammenbruchs, immer mit der Frage:
Wie lange noch? Der Wahnsinn soll ihm Retter sein. Wer denkt da nicht
an Nietzsche, der diesen Weg genommen und hinuntersank in die ewige,
schweigende Nacht? Aber hier eben, hart an der Grenze, vollzieht sich in
Verhaeren der ergreifende Umschwung: er hat den Weg durchmessen bis zum
letzten Meilenstein, wo ihm ein Nichts entgegengähnt, wo ihm nichts mehr
übrigbleibt. Und da — blitzartig — leuchtet die Erkenntnis auf:! ich habe die
Prüfung bestanden, denn ich begreife ja mit wachem Sinn, was mich starr
umfangen hielt; ich sehe ja das Ende vor mir, ich fühle, wie es mich kalt und
leer anwehe. Und mit Aufbietung aller Kraft, mit der Wucht der letzten Energie
wendet sich Verhaeren zurück — zum anderen Ende. Nun weiß er, daß, er
allein dort Genesung und Erstarkung finden kann. Die Polarität hat eingesetzt.
Ein heißer, edler, tiefster Bewunderung würdiger Sieg ist errungen! Alle Phasen
des Schmerzes hat der herrliche Dichter durchkämpft, vor keiner Gefahr ist er
gewichen. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn," — strahlend steht das
Wort über seinem Leben. Er hat es sich schwer erstreiten müssen; als Held
und Überwinder hat er bestanden. Wenn je eine Entwickelung folgenschwer


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[0333] Linne verhaeren sich Verhaerens das dumpfe Gefühl der Trostlosigkeit: alles versinkt, ist müde, verbraucht, nutzlos. Kein Glaube, kein Lichtstrahl! Ein Gebet aus jener Zeit (in eigener Übertragung) möge dafür Zeugnis geben: Fromm, Die Mitternacht hebt ihren reine» Kelch zum Himmel! Und mich aus meinem dunklen Herzen steige» Gebete, Herr, i» deine fahle Runde! lind weis; es doch, du hast für mich nur Schweige» Und nichts, woran mein sterbend Herz gesunde. Ich weiß dich Lüge, meine Lippen flehen lind meine Knie, doch deine Hände säumen, Dein Ange will den lauten Schmerz nicht sehen, Und ich schuf mir die Welt aus leere» Träume», Hab' Gnade, Herr, Null dir's auch Wahusin» scheine», Ich »msz mein Leid in deine Stille weinen!,,. Die Wintenincht hebt ihre» reinen Kelch znni Himmel! Und da kommt die Verzweiflung, das Bangen, die jagende Verfolgung. Es schleicht heran, langsam, langsam, blickt ihn an mit glutenden Augen, reckt die schwarzen großen Arme — der Wahnsinn naht! Es zeigt uns nun einen Willensakt von größter Bedeutung, von bewundernswerter Selbstentäußerung, daß Verhaeren Kraft und Mut besaß, zu gestalten, was ihn zerfleischte und marterte. Und eben in dieser Tat ruht die Erlösung, ist die Befreiung vor¬ bereitet. Noch war ja der Wille nicht erlahmt! Mit hellen, geisterhaft auf¬ gerissenen Augen wandelt der Einsame am Abgrund hin, mit grausiger Gelassenheit blickt er in die lockende, geheimnisvolle Tiefe, — wird er hinunterstürzen, soll er den Sprung wagen? Mit krankhafter Wollust steigert er die vernichtenden Reize, immer in der Erwartung des Zusammenbruchs, immer mit der Frage: Wie lange noch? Der Wahnsinn soll ihm Retter sein. Wer denkt da nicht an Nietzsche, der diesen Weg genommen und hinuntersank in die ewige, schweigende Nacht? Aber hier eben, hart an der Grenze, vollzieht sich in Verhaeren der ergreifende Umschwung: er hat den Weg durchmessen bis zum letzten Meilenstein, wo ihm ein Nichts entgegengähnt, wo ihm nichts mehr übrigbleibt. Und da — blitzartig — leuchtet die Erkenntnis auf:! ich habe die Prüfung bestanden, denn ich begreife ja mit wachem Sinn, was mich starr umfangen hielt; ich sehe ja das Ende vor mir, ich fühle, wie es mich kalt und leer anwehe. Und mit Aufbietung aller Kraft, mit der Wucht der letzten Energie wendet sich Verhaeren zurück — zum anderen Ende. Nun weiß er, daß, er allein dort Genesung und Erstarkung finden kann. Die Polarität hat eingesetzt. Ein heißer, edler, tiefster Bewunderung würdiger Sieg ist errungen! Alle Phasen des Schmerzes hat der herrliche Dichter durchkämpft, vor keiner Gefahr ist er gewichen. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn," — strahlend steht das Wort über seinem Leben. Er hat es sich schwer erstreiten müssen; als Held und Überwinder hat er bestanden. Wenn je eine Entwickelung folgenschwer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/333>, abgerufen am 24.07.2024.