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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Linne verhaeren

Uylenspieghel", lange verkannt, erst jetzt beachtet und geschätzt. Dann kam
Camille Lemonnier und weckte das Selbstgefühl der Belgier mit seinen kräftigen,
energievollen Romanen. Der früh verstorbene, melancholische Rodenbach besang
das tote Brügge, Maeterlink schuf seine mystischen Dramen und philosophischen
Werke, ihni ähnlich Hunsman und Georges Eckhout. Fernand Knopfh malte
seine Pastelle, der versonnene Georges Minne, der starke Konstantin Meunier
bildeten ihre Statuen und Büsten. Und nur noch einige Namen, um das rüstig
aufblühende Künstlertum zu kennzeichnen: Theo van Rvsselberghe, Fetialen Rops.
Albert Mockel, van der Stappen, Charles van Lerberghe, Albert Giraud.

Einer aber verdient es, besonders geliebt und verehrt zu werden: Emile
Verhaeren. Er ist am 22. Mai 1855 geboren in Se. Amand bei Anvers, ver¬
lebte seine Jugendjahre auf dem Lande und besuchte dann das Collöge Se. Barbe
in Gent. An der Universität von Louvain studierte er die Rechte, wurde Advokat,
gab aber diesen Beruf bald auf, unternahm größere Reisen und lebt jetzt teils
in Belgien, teils bei Paris. So viel über seinen äußeren Lebensgang. Seine
innere Entwickelung ist in seinen Büchern gegeben mit einer bezwingender Ehr¬
lichkeit und ehrfurchtgebietenden Selbstentäußerung. Er ist es, der zum ersten
Male das moderne Leben mit seinen Errungenschaften verstanden und nach¬
zubilden gewußt hat; alle Phasen des heutigen Kulturmenschen hat er an sich
selbst erlebt, und darum eben ist seine Dichtung eine einzige große, ergreifende
Konfession.

Verhaerens erstes Gedichtbuch erschien 1883; es waren die .,t^Iamanäe8".
Und hier gleich erkennt man die Wurzeln seiner Kraft: einen kühnen Realismus,
der aus echtester Bodenständigkeit entquillt. Dieses Buch hat zuerst viel Auf¬
sehen und viel Ablehnung erweckt. Man war entsetzt über die ungestüme Wahr¬
heitslust dieses jungen Vlamen und nannte ihn sogar den "Kot-Raffael".
Gewiß -- ungebändigte Urwüchsigkeit tobt und poltert sich hier aus, aber eine
gesunde und echte. Derb packt der Dichter zu. Nicht die traumhaften, weichen
Klänge eines Rodenbach umschmeicheln uns hier; wir sehen vielmehr Bilder
nach Art von Jordaens oder Brueghel. Lebenslust sprudelt, und Jauchzen der
Bauern und Dirnen kreischt. Die sinnlichen Farben eines Rubens werden wach.
Und dabei doch wieder eckige Verse und Reime,' hart und rauh! Noch ist die
alte Form der Parnassiens auch Verhaeren geläufig; das Sonett wird stark
bevorzugt. Hier eine Probe in der Übersetzung von Johannes Schlaf*):

Brotbacken.
Die Mägde hatten Brot zum Feiertag zu backen
Und mischten fette Milch und feinsten Weizen.
Geduckte heiße Köpfe. Ellbogen, die sich spreizen,
Und in die Träge tropft der Schweiß von Stirn und Nacken,


*) Aus einem schönen Aufsatz in "Westermanns Monatsheften", November 1909.
Wertvoll und mit Liebe ist auch das Büchlein über Verhaeren in der "Dichtung" (Schuster
u, Löffler, Berlin) geschrieben.
Linne verhaeren

Uylenspieghel", lange verkannt, erst jetzt beachtet und geschätzt. Dann kam
Camille Lemonnier und weckte das Selbstgefühl der Belgier mit seinen kräftigen,
energievollen Romanen. Der früh verstorbene, melancholische Rodenbach besang
das tote Brügge, Maeterlink schuf seine mystischen Dramen und philosophischen
Werke, ihni ähnlich Hunsman und Georges Eckhout. Fernand Knopfh malte
seine Pastelle, der versonnene Georges Minne, der starke Konstantin Meunier
bildeten ihre Statuen und Büsten. Und nur noch einige Namen, um das rüstig
aufblühende Künstlertum zu kennzeichnen: Theo van Rvsselberghe, Fetialen Rops.
Albert Mockel, van der Stappen, Charles van Lerberghe, Albert Giraud.

Einer aber verdient es, besonders geliebt und verehrt zu werden: Emile
Verhaeren. Er ist am 22. Mai 1855 geboren in Se. Amand bei Anvers, ver¬
lebte seine Jugendjahre auf dem Lande und besuchte dann das Collöge Se. Barbe
in Gent. An der Universität von Louvain studierte er die Rechte, wurde Advokat,
gab aber diesen Beruf bald auf, unternahm größere Reisen und lebt jetzt teils
in Belgien, teils bei Paris. So viel über seinen äußeren Lebensgang. Seine
innere Entwickelung ist in seinen Büchern gegeben mit einer bezwingender Ehr¬
lichkeit und ehrfurchtgebietenden Selbstentäußerung. Er ist es, der zum ersten
Male das moderne Leben mit seinen Errungenschaften verstanden und nach¬
zubilden gewußt hat; alle Phasen des heutigen Kulturmenschen hat er an sich
selbst erlebt, und darum eben ist seine Dichtung eine einzige große, ergreifende
Konfession.

Verhaerens erstes Gedichtbuch erschien 1883; es waren die .,t^Iamanäe8".
Und hier gleich erkennt man die Wurzeln seiner Kraft: einen kühnen Realismus,
der aus echtester Bodenständigkeit entquillt. Dieses Buch hat zuerst viel Auf¬
sehen und viel Ablehnung erweckt. Man war entsetzt über die ungestüme Wahr¬
heitslust dieses jungen Vlamen und nannte ihn sogar den „Kot-Raffael".
Gewiß — ungebändigte Urwüchsigkeit tobt und poltert sich hier aus, aber eine
gesunde und echte. Derb packt der Dichter zu. Nicht die traumhaften, weichen
Klänge eines Rodenbach umschmeicheln uns hier; wir sehen vielmehr Bilder
nach Art von Jordaens oder Brueghel. Lebenslust sprudelt, und Jauchzen der
Bauern und Dirnen kreischt. Die sinnlichen Farben eines Rubens werden wach.
Und dabei doch wieder eckige Verse und Reime,' hart und rauh! Noch ist die
alte Form der Parnassiens auch Verhaeren geläufig; das Sonett wird stark
bevorzugt. Hier eine Probe in der Übersetzung von Johannes Schlaf*):

Brotbacken.
Die Mägde hatten Brot zum Feiertag zu backen
Und mischten fette Milch und feinsten Weizen.
Geduckte heiße Köpfe. Ellbogen, die sich spreizen,
Und in die Träge tropft der Schweiß von Stirn und Nacken,


*) Aus einem schönen Aufsatz in „Westermanns Monatsheften", November 1909.
Wertvoll und mit Liebe ist auch das Büchlein über Verhaeren in der „Dichtung" (Schuster
u, Löffler, Berlin) geschrieben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/330>, abgerufen am 24.07.2024.