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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Für das Erbrecht des Reiches

Mitleidenschaft zieht, so kann davon bei der Erbrcchtsreform nicht die Rede sein.
Denn das Erbrecht des Reiches wendet sich nicht im mindesten gegen die näheren
Angehörigen und die ihnen zugefallene Erbschaft, sondern nur gegen entferntere
Seitenverwandte und deren unsichere Erwartungen, die durch einen Federstrich
des Erblassers durchkreuzt werden können, wenn er nicht ohnehin im natürlichen
Lauf der Dinge heiratet und Kinder zeugt. Das Erbrecht des Reiches bildet
keine Abgabe, die zwangsweise beigetrieben wird. Das ist ja der besondere
Vorzug der Reform, daß sie keine Steuer ist, daß sie keinen Menschen betastet.
Man kann um so weniger behaupten, sie schädige den Zusammenhang des
F amilienverbandes, als es jeder Erblasser und damit die Familie völlig in der
Hand hat, durch Testament ohne Rücksicht auf die Reichskasse zugunsten von
Verwandten zu verfügen. Der freie Wille des Erblassers entscheidet, wem dereinst
sein Vermögen zufalle. Sollte die Reform gleichwohl nicht vereinbar sein mit
dem Familieninteresse, mit anderen Worten mit der Habsucht der Verwandten,
so wäre dies vollkommen gleichgültig. Denn es handelt sich bei der Frage um
die hohen Interessen des Reiches, hinter denen die privaten des einzelnen wie
der Familie zurückzutreten haben. Soll das Reich bestehen, so müssen finanzielle
Opfer gebracht werden, von dem einzelnen wie von der Familie. Wenn man
auf das Familienvermögen des früheren Rechts verweist, so werden damit gewiß
cunnuteude Bilder aus der deutschen Vergangenheit wachgerufen; doch sind diese
Erinnerungen untrennbar von der geschichtlichen Tatsache, daß die Macht des
alten Reiches in demselben Maße sank, als der Besitz und Einfluß der großen
Familien wuchs, -- Verhältnisse, deren Wiederkehr kein Freund des Vaterlandes
wünschen wird. Am wenigsten läßt sich'vom ethischen Standpunkte aus die
Ansicht vertreten, der Familienzusammenhang werde gefährdet, wenn das testamcnts-
lose Erbrecht der weiteren Seitenverwandten fortfällt. Es sind doch nur zwei
Fälle denkbar. Entweder ist der Znsannnenhang der Familie wirklich so fest,
wie dies wünschenswert erscheint: dann wird der Erblasser letztwillig zugunsten
der Verwandten verfügen, denen er etwas zuwenden will; es handelt sich dabei
um eine Arbeit, die fünf Minuten in Anspruch nimmt. (Die Fälle, in denen
die Errichtung eiues Testaments infolge von Geistesschwache oder kindlichen Alters
unmöglich ist, dürfen als Ausnahme außer Betracht bleiben.) Oder die ver¬
wandtschaftliche Zuneigung ist so schwach, daß der Erblasser sich nicht veranlaßt
fühlt, einen entfernten Verwandten einzusetzen, etwa weil dieser selbst vermögend
ist oder weil er sich schlecht benommen hat: dann fehlt jeder moralische und
gesetzgeberische Grund, ihm trotzdem das Vermögen des Verstorbenen in den
Schoß zu schütten. Sind diese Erwägungen zutreffend, so wird die Reform
gewissermaßen eine Probe auf das Exempel sein, sie wird den echten Familiensinn
zum Ausdruck bringen, ihn in seiner Reinheit hervortreten lassen. Nach jetzigem
Necht erbt freilich ein Verwandter beim Mangel Nähcrberechtigter auch dann,
wenn es feststeht, daß er nicht über die Schwelle des Verstorbenen treten durfte,
daß er von dem Nachlaß keinen Pfennig haben sollte. Solche und ähnliche Fälle


Für das Erbrecht des Reiches

Mitleidenschaft zieht, so kann davon bei der Erbrcchtsreform nicht die Rede sein.
Denn das Erbrecht des Reiches wendet sich nicht im mindesten gegen die näheren
Angehörigen und die ihnen zugefallene Erbschaft, sondern nur gegen entferntere
Seitenverwandte und deren unsichere Erwartungen, die durch einen Federstrich
des Erblassers durchkreuzt werden können, wenn er nicht ohnehin im natürlichen
Lauf der Dinge heiratet und Kinder zeugt. Das Erbrecht des Reiches bildet
keine Abgabe, die zwangsweise beigetrieben wird. Das ist ja der besondere
Vorzug der Reform, daß sie keine Steuer ist, daß sie keinen Menschen betastet.
Man kann um so weniger behaupten, sie schädige den Zusammenhang des
F amilienverbandes, als es jeder Erblasser und damit die Familie völlig in der
Hand hat, durch Testament ohne Rücksicht auf die Reichskasse zugunsten von
Verwandten zu verfügen. Der freie Wille des Erblassers entscheidet, wem dereinst
sein Vermögen zufalle. Sollte die Reform gleichwohl nicht vereinbar sein mit
dem Familieninteresse, mit anderen Worten mit der Habsucht der Verwandten,
so wäre dies vollkommen gleichgültig. Denn es handelt sich bei der Frage um
die hohen Interessen des Reiches, hinter denen die privaten des einzelnen wie
der Familie zurückzutreten haben. Soll das Reich bestehen, so müssen finanzielle
Opfer gebracht werden, von dem einzelnen wie von der Familie. Wenn man
auf das Familienvermögen des früheren Rechts verweist, so werden damit gewiß
cunnuteude Bilder aus der deutschen Vergangenheit wachgerufen; doch sind diese
Erinnerungen untrennbar von der geschichtlichen Tatsache, daß die Macht des
alten Reiches in demselben Maße sank, als der Besitz und Einfluß der großen
Familien wuchs, — Verhältnisse, deren Wiederkehr kein Freund des Vaterlandes
wünschen wird. Am wenigsten läßt sich'vom ethischen Standpunkte aus die
Ansicht vertreten, der Familienzusammenhang werde gefährdet, wenn das testamcnts-
lose Erbrecht der weiteren Seitenverwandten fortfällt. Es sind doch nur zwei
Fälle denkbar. Entweder ist der Znsannnenhang der Familie wirklich so fest,
wie dies wünschenswert erscheint: dann wird der Erblasser letztwillig zugunsten
der Verwandten verfügen, denen er etwas zuwenden will; es handelt sich dabei
um eine Arbeit, die fünf Minuten in Anspruch nimmt. (Die Fälle, in denen
die Errichtung eiues Testaments infolge von Geistesschwache oder kindlichen Alters
unmöglich ist, dürfen als Ausnahme außer Betracht bleiben.) Oder die ver¬
wandtschaftliche Zuneigung ist so schwach, daß der Erblasser sich nicht veranlaßt
fühlt, einen entfernten Verwandten einzusetzen, etwa weil dieser selbst vermögend
ist oder weil er sich schlecht benommen hat: dann fehlt jeder moralische und
gesetzgeberische Grund, ihm trotzdem das Vermögen des Verstorbenen in den
Schoß zu schütten. Sind diese Erwägungen zutreffend, so wird die Reform
gewissermaßen eine Probe auf das Exempel sein, sie wird den echten Familiensinn
zum Ausdruck bringen, ihn in seiner Reinheit hervortreten lassen. Nach jetzigem
Necht erbt freilich ein Verwandter beim Mangel Nähcrberechtigter auch dann,
wenn es feststeht, daß er nicht über die Schwelle des Verstorbenen treten durfte,
daß er von dem Nachlaß keinen Pfennig haben sollte. Solche und ähnliche Fälle


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[0291] Für das Erbrecht des Reiches Mitleidenschaft zieht, so kann davon bei der Erbrcchtsreform nicht die Rede sein. Denn das Erbrecht des Reiches wendet sich nicht im mindesten gegen die näheren Angehörigen und die ihnen zugefallene Erbschaft, sondern nur gegen entferntere Seitenverwandte und deren unsichere Erwartungen, die durch einen Federstrich des Erblassers durchkreuzt werden können, wenn er nicht ohnehin im natürlichen Lauf der Dinge heiratet und Kinder zeugt. Das Erbrecht des Reiches bildet keine Abgabe, die zwangsweise beigetrieben wird. Das ist ja der besondere Vorzug der Reform, daß sie keine Steuer ist, daß sie keinen Menschen betastet. Man kann um so weniger behaupten, sie schädige den Zusammenhang des F amilienverbandes, als es jeder Erblasser und damit die Familie völlig in der Hand hat, durch Testament ohne Rücksicht auf die Reichskasse zugunsten von Verwandten zu verfügen. Der freie Wille des Erblassers entscheidet, wem dereinst sein Vermögen zufalle. Sollte die Reform gleichwohl nicht vereinbar sein mit dem Familieninteresse, mit anderen Worten mit der Habsucht der Verwandten, so wäre dies vollkommen gleichgültig. Denn es handelt sich bei der Frage um die hohen Interessen des Reiches, hinter denen die privaten des einzelnen wie der Familie zurückzutreten haben. Soll das Reich bestehen, so müssen finanzielle Opfer gebracht werden, von dem einzelnen wie von der Familie. Wenn man auf das Familienvermögen des früheren Rechts verweist, so werden damit gewiß cunnuteude Bilder aus der deutschen Vergangenheit wachgerufen; doch sind diese Erinnerungen untrennbar von der geschichtlichen Tatsache, daß die Macht des alten Reiches in demselben Maße sank, als der Besitz und Einfluß der großen Familien wuchs, — Verhältnisse, deren Wiederkehr kein Freund des Vaterlandes wünschen wird. Am wenigsten läßt sich'vom ethischen Standpunkte aus die Ansicht vertreten, der Familienzusammenhang werde gefährdet, wenn das testamcnts- lose Erbrecht der weiteren Seitenverwandten fortfällt. Es sind doch nur zwei Fälle denkbar. Entweder ist der Znsannnenhang der Familie wirklich so fest, wie dies wünschenswert erscheint: dann wird der Erblasser letztwillig zugunsten der Verwandten verfügen, denen er etwas zuwenden will; es handelt sich dabei um eine Arbeit, die fünf Minuten in Anspruch nimmt. (Die Fälle, in denen die Errichtung eiues Testaments infolge von Geistesschwache oder kindlichen Alters unmöglich ist, dürfen als Ausnahme außer Betracht bleiben.) Oder die ver¬ wandtschaftliche Zuneigung ist so schwach, daß der Erblasser sich nicht veranlaßt fühlt, einen entfernten Verwandten einzusetzen, etwa weil dieser selbst vermögend ist oder weil er sich schlecht benommen hat: dann fehlt jeder moralische und gesetzgeberische Grund, ihm trotzdem das Vermögen des Verstorbenen in den Schoß zu schütten. Sind diese Erwägungen zutreffend, so wird die Reform gewissermaßen eine Probe auf das Exempel sein, sie wird den echten Familiensinn zum Ausdruck bringen, ihn in seiner Reinheit hervortreten lassen. Nach jetzigem Necht erbt freilich ein Verwandter beim Mangel Nähcrberechtigter auch dann, wenn es feststeht, daß er nicht über die Schwelle des Verstorbenen treten durfte, daß er von dem Nachlaß keinen Pfennig haben sollte. Solche und ähnliche Fälle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/291>, abgerufen am 24.07.2024.