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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Richard Wagners Kunst im modernen Frankreich

"Aber ich verlange auch, ich für meinen Teil, daß man meine Freiheit achte,
die Freiheit, zu bewundern, was mir gefällt, und im übrigen nach Herzenslust
zu kritisieren: lang zu finden, was lang ist, dissonierend, was dissonierend,
absurd, was absurd ist. Und das wollen eben die Wagnerianer nicht zugeben.
Sie packen einen bei der Gurgel; man soll immer und jederzeit in Bewunderung
zerfließen. Wagner ist ihr Musikgott, es gab weder vor ihm noch nach ihm
Musik. ,Sie haben Wagner studiert, haben aus ihm Nutzen gezogen und wollen
ihn jetzt verleugnen?' ruft man mir zu. Nein, meine Herren, ich will ihn nicht
verleugnen; im Gegenteil, ich bin stolz darauf, ihn studiert, von ihm profitiert
zu haben, wie das mein gutes Recht, meine Pflicht ist. Ich habe es mit
Sebastian Bach, mit Haydn, Beethoven, Mozart, mit allen Meistern, allen
Schulen ebenso gemacht. Ich fühle mich deshalb nicht verpflichtet, jedem der
Reihe nach zu erklären, er sei der alleinige Gott und ich sei sein Prophet."
Saint-Saöns gesteht zu, daß er im Urteil wie im Schaffen der Kunst nun einmal
Eklektiker sei und deshalb nicht der Sekte der blindgehorsamen Wagnerianer bei¬
treten könne.

Die heranwachsende Generation der französischen Musiker aber richtet er
mit Worten auf, die Victor Hugo in seinem Buche "William Shakespeare" den
jungen Literaten zugerufen:

Wie wird man solcher Genies würdig? -- Indern man anders ist
als sie!

Dieses stolze Wort gibt Saint-Säens als Losung aus im jungen Frankreich.
Es bedeutet nicht einen Kampfruf gegen Wagner. Es ist ein Sammelruf der
tatkräftigen Elemente, sich nicht ihrer Eigenart zu entäußern, indem man dem
für Frankreich fremdartigen Wagnerphantom nachjage. Diese Worte aus dem
Munde des heutigen Veteranen der französischen Musik haben die Stellung
Wagners im modernen Frankreich geschaffen. Man zog in künstlerischer Vor¬
nehmheit daraus den Schluß, Wagner zu geben, was Wagners ist, den Fran¬
zosen, was der Franzosen ist.

Nicht in gleichem Maße wie bei uns verfiel man in Frankreich in
den Fehler, vor Wagner-Verehrung seine Nachahmer, ja seine Nachäffer zu
werden. Man hat, selten die politische Ruhe wiedergekehrt ist, Wagners
Genius die größten Huldigungen auf französischem Boden dargebracht; nach
und nach hat man auf den großen Bühnen Frankreichs alle Schöpfungen im
Sinne des Meisters in mustergültiger Weise zur Darstellung gebracht. Man
pilgerte nach Banreuth, um mit Hingebung und Andacht zu lauschen; in den
letzten Jahren hält dort das französische Idiom dem deutschen fast die Wage.
In Frankreich hat man so glänzende Vertreter der Wagner-Bühne herangebildet,
daß selbst Baureuth eine große Zahl französischer Sänger zur Mitwirkung an
den Festspielen berief.

Die zahllosen Schriften über Wagner und seine Kunst in Frankreich legen
deutlich Zeugnis ab für das Interesse, das sich gegenwärtig aller Schichten


Richard Wagners Kunst im modernen Frankreich

„Aber ich verlange auch, ich für meinen Teil, daß man meine Freiheit achte,
die Freiheit, zu bewundern, was mir gefällt, und im übrigen nach Herzenslust
zu kritisieren: lang zu finden, was lang ist, dissonierend, was dissonierend,
absurd, was absurd ist. Und das wollen eben die Wagnerianer nicht zugeben.
Sie packen einen bei der Gurgel; man soll immer und jederzeit in Bewunderung
zerfließen. Wagner ist ihr Musikgott, es gab weder vor ihm noch nach ihm
Musik. ,Sie haben Wagner studiert, haben aus ihm Nutzen gezogen und wollen
ihn jetzt verleugnen?' ruft man mir zu. Nein, meine Herren, ich will ihn nicht
verleugnen; im Gegenteil, ich bin stolz darauf, ihn studiert, von ihm profitiert
zu haben, wie das mein gutes Recht, meine Pflicht ist. Ich habe es mit
Sebastian Bach, mit Haydn, Beethoven, Mozart, mit allen Meistern, allen
Schulen ebenso gemacht. Ich fühle mich deshalb nicht verpflichtet, jedem der
Reihe nach zu erklären, er sei der alleinige Gott und ich sei sein Prophet."
Saint-Saöns gesteht zu, daß er im Urteil wie im Schaffen der Kunst nun einmal
Eklektiker sei und deshalb nicht der Sekte der blindgehorsamen Wagnerianer bei¬
treten könne.

Die heranwachsende Generation der französischen Musiker aber richtet er
mit Worten auf, die Victor Hugo in seinem Buche „William Shakespeare" den
jungen Literaten zugerufen:

Wie wird man solcher Genies würdig? — Indern man anders ist
als sie!

Dieses stolze Wort gibt Saint-Säens als Losung aus im jungen Frankreich.
Es bedeutet nicht einen Kampfruf gegen Wagner. Es ist ein Sammelruf der
tatkräftigen Elemente, sich nicht ihrer Eigenart zu entäußern, indem man dem
für Frankreich fremdartigen Wagnerphantom nachjage. Diese Worte aus dem
Munde des heutigen Veteranen der französischen Musik haben die Stellung
Wagners im modernen Frankreich geschaffen. Man zog in künstlerischer Vor¬
nehmheit daraus den Schluß, Wagner zu geben, was Wagners ist, den Fran¬
zosen, was der Franzosen ist.

Nicht in gleichem Maße wie bei uns verfiel man in Frankreich in
den Fehler, vor Wagner-Verehrung seine Nachahmer, ja seine Nachäffer zu
werden. Man hat, selten die politische Ruhe wiedergekehrt ist, Wagners
Genius die größten Huldigungen auf französischem Boden dargebracht; nach
und nach hat man auf den großen Bühnen Frankreichs alle Schöpfungen im
Sinne des Meisters in mustergültiger Weise zur Darstellung gebracht. Man
pilgerte nach Banreuth, um mit Hingebung und Andacht zu lauschen; in den
letzten Jahren hält dort das französische Idiom dem deutschen fast die Wage.
In Frankreich hat man so glänzende Vertreter der Wagner-Bühne herangebildet,
daß selbst Baureuth eine große Zahl französischer Sänger zur Mitwirkung an
den Festspielen berief.

Die zahllosen Schriften über Wagner und seine Kunst in Frankreich legen
deutlich Zeugnis ab für das Interesse, das sich gegenwärtig aller Schichten


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[0284] Richard Wagners Kunst im modernen Frankreich „Aber ich verlange auch, ich für meinen Teil, daß man meine Freiheit achte, die Freiheit, zu bewundern, was mir gefällt, und im übrigen nach Herzenslust zu kritisieren: lang zu finden, was lang ist, dissonierend, was dissonierend, absurd, was absurd ist. Und das wollen eben die Wagnerianer nicht zugeben. Sie packen einen bei der Gurgel; man soll immer und jederzeit in Bewunderung zerfließen. Wagner ist ihr Musikgott, es gab weder vor ihm noch nach ihm Musik. ,Sie haben Wagner studiert, haben aus ihm Nutzen gezogen und wollen ihn jetzt verleugnen?' ruft man mir zu. Nein, meine Herren, ich will ihn nicht verleugnen; im Gegenteil, ich bin stolz darauf, ihn studiert, von ihm profitiert zu haben, wie das mein gutes Recht, meine Pflicht ist. Ich habe es mit Sebastian Bach, mit Haydn, Beethoven, Mozart, mit allen Meistern, allen Schulen ebenso gemacht. Ich fühle mich deshalb nicht verpflichtet, jedem der Reihe nach zu erklären, er sei der alleinige Gott und ich sei sein Prophet." Saint-Saöns gesteht zu, daß er im Urteil wie im Schaffen der Kunst nun einmal Eklektiker sei und deshalb nicht der Sekte der blindgehorsamen Wagnerianer bei¬ treten könne. Die heranwachsende Generation der französischen Musiker aber richtet er mit Worten auf, die Victor Hugo in seinem Buche „William Shakespeare" den jungen Literaten zugerufen: Wie wird man solcher Genies würdig? — Indern man anders ist als sie! Dieses stolze Wort gibt Saint-Säens als Losung aus im jungen Frankreich. Es bedeutet nicht einen Kampfruf gegen Wagner. Es ist ein Sammelruf der tatkräftigen Elemente, sich nicht ihrer Eigenart zu entäußern, indem man dem für Frankreich fremdartigen Wagnerphantom nachjage. Diese Worte aus dem Munde des heutigen Veteranen der französischen Musik haben die Stellung Wagners im modernen Frankreich geschaffen. Man zog in künstlerischer Vor¬ nehmheit daraus den Schluß, Wagner zu geben, was Wagners ist, den Fran¬ zosen, was der Franzosen ist. Nicht in gleichem Maße wie bei uns verfiel man in Frankreich in den Fehler, vor Wagner-Verehrung seine Nachahmer, ja seine Nachäffer zu werden. Man hat, selten die politische Ruhe wiedergekehrt ist, Wagners Genius die größten Huldigungen auf französischem Boden dargebracht; nach und nach hat man auf den großen Bühnen Frankreichs alle Schöpfungen im Sinne des Meisters in mustergültiger Weise zur Darstellung gebracht. Man pilgerte nach Banreuth, um mit Hingebung und Andacht zu lauschen; in den letzten Jahren hält dort das französische Idiom dem deutschen fast die Wage. In Frankreich hat man so glänzende Vertreter der Wagner-Bühne herangebildet, daß selbst Baureuth eine große Zahl französischer Sänger zur Mitwirkung an den Festspielen berief. Die zahllosen Schriften über Wagner und seine Kunst in Frankreich legen deutlich Zeugnis ab für das Interesse, das sich gegenwärtig aller Schichten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/284>, abgerufen am 24.07.2024.