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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Reichsspiegel
Politik

Die reichsländische Verfassungsfrage -- Kulturelle Stammeseigenart -- Geführdung der
Nordmnrk -- Versumpfung des Ansiedlungswerks -- Die preußische Regierung und Rom,

Als das vorige Grenzboten-Heft sich in Bewegung setzte, um in alle Himmels¬
richtungen zu flattern, wurde im Vogesenlande ein Telegramm der Straßburger
Post aus der Reichshauptstadt veröffentlicht, das den Elsaß-Lothringern die
neueste Phase der reichsländischen Verfassungsfrage auseinandersetzte.
Der Korrespondent, übrigens der Chefredakteur des genannten Blattes in eigenster
Person, scheint bei seinem Versuch, sich zu unterrichten, zufällig nur an Gegner des
Regierungsentwurfs geraten zu sein. Denn (wir müssen es mit Bedauern zu¬
geben) es besteht immer noch die Möglichkeit, daß die Reichslande durch den vor¬
liegenden Entwurf auf den Weg gebracht werden, der zum selbständigen Bundes¬
staat führt. Die Zahl der Gegner einer solchen Lösung der Frage ist zwar groß,
aber allem Anschein nach doch nicht mächtig genug, um einen Schritt zu ver¬
hindern, der zur Stärkung aller zentrifugalen Kräfte führen kann, zur Stärkung
der Französlinge und des ultramontanen Klerikalismus. Welchen Standpunkt
Regierung und Parteien tatsächlich einnehmen, hat inzwischen in allgemeinen
Umrissen die zweitägige Debatte gelegentlich der ersten Lesung des Regierungs¬
entwurfs im Reichstage gezeigt. Danach erscheinen wohl nur die National¬
liberalen geneigt, den Verfassungsentwurf ohne wesentliche Einschränkungen unter¬
stützen zu wollen. Der Abgeordnete Bassermann hat in seiner Rede eigentlich nur
an dem Wahlgesetzentwurf Anstoß genommen und auf die Einführung des
"Proporz" als Mittel des Ausgleichs hingewiesen. Im übrigen sind die Linken
unzufrieden, weil der Entwurf ihnen nicht radikal genug dem Vorteil der elsa߬
lothringischen Interessen dient, während die Rechten die Wahrnehmung der
deutschen Interessen vermissen. Das Zentrum treibt in der ganzen Frage aus¬
schließlich Parteipolitik und kann es auch, weil es wieder einmal das Zünglein
an der Wage bildet. Es wird jede Änderung gutheißen, die eine Vergrößerung
seines Einflusses nach sich ziehen könnte. Die konservativen Parteien vertreten
diesmal ausschließlich das Reichsinteresse, da sie lediglich als Partei aus den
Reichslanden keinen besonderen Nutzen zu ziehen vermögen. Es ist darum an¬
zunehmen, daß sie sich auf die Seite der Negierungsvorschläge stellen werden,
sobald Herr v. Bethmann gewisse die Neichssicherheit betreffende Garantien geben
kann und im Wahlrecht nicht zu große Konzessionen an die Liberalen macht. Bei
einer solchen Parteikonstellation ist anzunehmen, daß der Negierungsentwurf bei
einiger Geschicklichkeit am Ministertisch ohne tiefgehende Veränderungen zum Gesetz
erhoben werden wird.

Natürlich kann das unsere eigene Stellung zur Frage der elsaß-lothringischen
Verfassungs- und Wahlrechtsreform nicht ändern, und auch die Rede des Herrn
Reichskanzlers am Sonnabend ist eher geeignet, die Bedenken zu stärken als zu
zerstreuen. Angesichts der im Reiche herrschenden Zustände ist es nur ein schwacher
Trost, wenn der Herr Reichskanzler erklärt, "daß die verbündeten Regierungen
von der Forderung dieses (Zweikammer-) Systems nicht abgehen werden, und daß


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Die reichsländische Verfassungsfrage — Kulturelle Stammeseigenart — Geführdung der
Nordmnrk — Versumpfung des Ansiedlungswerks — Die preußische Regierung und Rom,

Als das vorige Grenzboten-Heft sich in Bewegung setzte, um in alle Himmels¬
richtungen zu flattern, wurde im Vogesenlande ein Telegramm der Straßburger
Post aus der Reichshauptstadt veröffentlicht, das den Elsaß-Lothringern die
neueste Phase der reichsländischen Verfassungsfrage auseinandersetzte.
Der Korrespondent, übrigens der Chefredakteur des genannten Blattes in eigenster
Person, scheint bei seinem Versuch, sich zu unterrichten, zufällig nur an Gegner des
Regierungsentwurfs geraten zu sein. Denn (wir müssen es mit Bedauern zu¬
geben) es besteht immer noch die Möglichkeit, daß die Reichslande durch den vor¬
liegenden Entwurf auf den Weg gebracht werden, der zum selbständigen Bundes¬
staat führt. Die Zahl der Gegner einer solchen Lösung der Frage ist zwar groß,
aber allem Anschein nach doch nicht mächtig genug, um einen Schritt zu ver¬
hindern, der zur Stärkung aller zentrifugalen Kräfte führen kann, zur Stärkung
der Französlinge und des ultramontanen Klerikalismus. Welchen Standpunkt
Regierung und Parteien tatsächlich einnehmen, hat inzwischen in allgemeinen
Umrissen die zweitägige Debatte gelegentlich der ersten Lesung des Regierungs¬
entwurfs im Reichstage gezeigt. Danach erscheinen wohl nur die National¬
liberalen geneigt, den Verfassungsentwurf ohne wesentliche Einschränkungen unter¬
stützen zu wollen. Der Abgeordnete Bassermann hat in seiner Rede eigentlich nur
an dem Wahlgesetzentwurf Anstoß genommen und auf die Einführung des
„Proporz" als Mittel des Ausgleichs hingewiesen. Im übrigen sind die Linken
unzufrieden, weil der Entwurf ihnen nicht radikal genug dem Vorteil der elsa߬
lothringischen Interessen dient, während die Rechten die Wahrnehmung der
deutschen Interessen vermissen. Das Zentrum treibt in der ganzen Frage aus¬
schließlich Parteipolitik und kann es auch, weil es wieder einmal das Zünglein
an der Wage bildet. Es wird jede Änderung gutheißen, die eine Vergrößerung
seines Einflusses nach sich ziehen könnte. Die konservativen Parteien vertreten
diesmal ausschließlich das Reichsinteresse, da sie lediglich als Partei aus den
Reichslanden keinen besonderen Nutzen zu ziehen vermögen. Es ist darum an¬
zunehmen, daß sie sich auf die Seite der Negierungsvorschläge stellen werden,
sobald Herr v. Bethmann gewisse die Neichssicherheit betreffende Garantien geben
kann und im Wahlrecht nicht zu große Konzessionen an die Liberalen macht. Bei
einer solchen Parteikonstellation ist anzunehmen, daß der Negierungsentwurf bei
einiger Geschicklichkeit am Ministertisch ohne tiefgehende Veränderungen zum Gesetz
erhoben werden wird.

Natürlich kann das unsere eigene Stellung zur Frage der elsaß-lothringischen
Verfassungs- und Wahlrechtsreform nicht ändern, und auch die Rede des Herrn
Reichskanzlers am Sonnabend ist eher geeignet, die Bedenken zu stärken als zu
zerstreuen. Angesichts der im Reiche herrschenden Zustände ist es nur ein schwacher
Trost, wenn der Herr Reichskanzler erklärt, „daß die verbündeten Regierungen
von der Forderung dieses (Zweikammer-) Systems nicht abgehen werden, und daß


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[0266] Reichsspiegel Reichsspiegel Politik Die reichsländische Verfassungsfrage — Kulturelle Stammeseigenart — Geführdung der Nordmnrk — Versumpfung des Ansiedlungswerks — Die preußische Regierung und Rom, Als das vorige Grenzboten-Heft sich in Bewegung setzte, um in alle Himmels¬ richtungen zu flattern, wurde im Vogesenlande ein Telegramm der Straßburger Post aus der Reichshauptstadt veröffentlicht, das den Elsaß-Lothringern die neueste Phase der reichsländischen Verfassungsfrage auseinandersetzte. Der Korrespondent, übrigens der Chefredakteur des genannten Blattes in eigenster Person, scheint bei seinem Versuch, sich zu unterrichten, zufällig nur an Gegner des Regierungsentwurfs geraten zu sein. Denn (wir müssen es mit Bedauern zu¬ geben) es besteht immer noch die Möglichkeit, daß die Reichslande durch den vor¬ liegenden Entwurf auf den Weg gebracht werden, der zum selbständigen Bundes¬ staat führt. Die Zahl der Gegner einer solchen Lösung der Frage ist zwar groß, aber allem Anschein nach doch nicht mächtig genug, um einen Schritt zu ver¬ hindern, der zur Stärkung aller zentrifugalen Kräfte führen kann, zur Stärkung der Französlinge und des ultramontanen Klerikalismus. Welchen Standpunkt Regierung und Parteien tatsächlich einnehmen, hat inzwischen in allgemeinen Umrissen die zweitägige Debatte gelegentlich der ersten Lesung des Regierungs¬ entwurfs im Reichstage gezeigt. Danach erscheinen wohl nur die National¬ liberalen geneigt, den Verfassungsentwurf ohne wesentliche Einschränkungen unter¬ stützen zu wollen. Der Abgeordnete Bassermann hat in seiner Rede eigentlich nur an dem Wahlgesetzentwurf Anstoß genommen und auf die Einführung des „Proporz" als Mittel des Ausgleichs hingewiesen. Im übrigen sind die Linken unzufrieden, weil der Entwurf ihnen nicht radikal genug dem Vorteil der elsa߬ lothringischen Interessen dient, während die Rechten die Wahrnehmung der deutschen Interessen vermissen. Das Zentrum treibt in der ganzen Frage aus¬ schließlich Parteipolitik und kann es auch, weil es wieder einmal das Zünglein an der Wage bildet. Es wird jede Änderung gutheißen, die eine Vergrößerung seines Einflusses nach sich ziehen könnte. Die konservativen Parteien vertreten diesmal ausschließlich das Reichsinteresse, da sie lediglich als Partei aus den Reichslanden keinen besonderen Nutzen zu ziehen vermögen. Es ist darum an¬ zunehmen, daß sie sich auf die Seite der Negierungsvorschläge stellen werden, sobald Herr v. Bethmann gewisse die Neichssicherheit betreffende Garantien geben kann und im Wahlrecht nicht zu große Konzessionen an die Liberalen macht. Bei einer solchen Parteikonstellation ist anzunehmen, daß der Negierungsentwurf bei einiger Geschicklichkeit am Ministertisch ohne tiefgehende Veränderungen zum Gesetz erhoben werden wird. Natürlich kann das unsere eigene Stellung zur Frage der elsaß-lothringischen Verfassungs- und Wahlrechtsreform nicht ändern, und auch die Rede des Herrn Reichskanzlers am Sonnabend ist eher geeignet, die Bedenken zu stärken als zu zerstreuen. Angesichts der im Reiche herrschenden Zustände ist es nur ein schwacher Trost, wenn der Herr Reichskanzler erklärt, „daß die verbündeten Regierungen von der Forderung dieses (Zweikammer-) Systems nicht abgehen werden, und daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/266>, abgerufen am 24.07.2024.