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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Homosexualität und neuer Strafgesetzentwurf

Es wird um daraus hingewiesen, daß in anderen Ländern, wo man eine
Sondergesetzgebung gegen Homosexuelle nicht kenne, das Laster nicht verbreiteter
sei, oder in seinen Äußerungen mehr hervortrete als bei uns. Hierauf ist zu
erwidern, daß anderswo auch sonst bisweilen andere geschlechtliche Anschauungen
herrschen, die sür Deutschland keineswegs maßgebend sind. Ob die sittlichen
Zustände Frankreichs besonders vorbildlich sind, möchten wir bezweifeln. Das
äußere Kennzeichen, die geringe Bevölkerungszunahme, bildet für wohlmeinende
Franzosen die ernsteste Sorge um die Zukunft ihres Vaterlandes. Anders
Italien; da steht die geschlechtliche Sittlichkeit augenblicklich, meines Erachtens,
höher als bei uns, außer in Neapel mit Zubehör. Italien ist ein Stadtland,
besitzt aber nicht so große Städte wie wir, die Industrie wurde nur in Mailand
gleich stark ausgebildet, und proletarisiert die Menschen weniger als bei uns.
Die Italienerin lebt unter viel schärferer Beobachtung, als man sie in Deutsch¬
land kennt; der Gedanke des Nichterlaubten ist dort stärker ausgebildet, geht es
doch noch so weit, daß ein Mädchen unterer Stände keinen Hut tragen darf;
überdies sitzt der Dolch dort lose, was der Homosexualität nicht gerade zustatten
kommt, ebensowenig die Tatsache, daß der Romane weibersüchtiger ist als der
Germane. Zu diesen inneren Dingen gesellen sich äußere, zumal die Tatsache,
daß der Romane dasteht als Träger einer alten Kultur, die sich ihn nie
so weit vergessen läßt, wie es Deutsche und Slawo-Deutsche nur zu oft tun.
In Berlin z. B. gibt es eine förmliche gleichgeschlechtliche Prostitution auf der
Straße, in gewissen Restaurants und Kaffeehäusern; ja selbst Homosexuellenbälle,
die sogenannten Pupenbälle, werden derart öffentlich abgehalten, daß jeder sie für
ein geringes Eintrittsgeld besuchen kann.

Wenn Eulenburg meint, daß jedem Erwachsenen die freie Verfügung über
seine Person, seinen Körper zukomme, so erwidern wir, daß jede Freiheit nur
in der Beschränkung besteht und bestehen kann, denn sonst führt sie zur Un-
gebundenheit und Verwilderung. D. h. in einem geordneten Staat und in einer
gesitteten Gesellschaft ist der einzelne nur insofern frei, als Staat und Gesellschaft
es erlauben, es für sich selber und ihre Gesundheit fordern müssen. Bei völlig
freier Verfügung über seinen Körper könnte man nackt auf der Friedrichstraße
in Berlin herumspazieren, ohne daß jemand etwas dagegen einwenden dürfte,
oder mit demselben Rechte ließen sich öffentlich die unzüchtigsten Handlungen
vornehmen, wenn beide Teile damit einverstanden wären. Man sieht, wie
unhaltbar solche wissenschaftlichen Schlagworte sind; wenn man sie in die Wirk¬
lichkeit überträgt, werden sie zu Unfug und Schrecken. Auch in der französischen
Revolution predigte man Freiheit und Gleichheit, -- und wo allein hat man
sie gefunden? -- unterm Henkerbeil.

Ein weiterer Grund gegen die Straffälligkeit der Homosexuellen wird in
einem zunehmenden Denunziantenwesen gesucht. Mit solchen Nebengründen kann
man ziemlich jedes Gesetz zu Fall bringen. Man darf da getrost sagen,
Zuchthausstrafe muß verboten sein, weil sie nachteilig auf die Gesundheit


Homosexualität und neuer Strafgesetzentwurf

Es wird um daraus hingewiesen, daß in anderen Ländern, wo man eine
Sondergesetzgebung gegen Homosexuelle nicht kenne, das Laster nicht verbreiteter
sei, oder in seinen Äußerungen mehr hervortrete als bei uns. Hierauf ist zu
erwidern, daß anderswo auch sonst bisweilen andere geschlechtliche Anschauungen
herrschen, die sür Deutschland keineswegs maßgebend sind. Ob die sittlichen
Zustände Frankreichs besonders vorbildlich sind, möchten wir bezweifeln. Das
äußere Kennzeichen, die geringe Bevölkerungszunahme, bildet für wohlmeinende
Franzosen die ernsteste Sorge um die Zukunft ihres Vaterlandes. Anders
Italien; da steht die geschlechtliche Sittlichkeit augenblicklich, meines Erachtens,
höher als bei uns, außer in Neapel mit Zubehör. Italien ist ein Stadtland,
besitzt aber nicht so große Städte wie wir, die Industrie wurde nur in Mailand
gleich stark ausgebildet, und proletarisiert die Menschen weniger als bei uns.
Die Italienerin lebt unter viel schärferer Beobachtung, als man sie in Deutsch¬
land kennt; der Gedanke des Nichterlaubten ist dort stärker ausgebildet, geht es
doch noch so weit, daß ein Mädchen unterer Stände keinen Hut tragen darf;
überdies sitzt der Dolch dort lose, was der Homosexualität nicht gerade zustatten
kommt, ebensowenig die Tatsache, daß der Romane weibersüchtiger ist als der
Germane. Zu diesen inneren Dingen gesellen sich äußere, zumal die Tatsache,
daß der Romane dasteht als Träger einer alten Kultur, die sich ihn nie
so weit vergessen läßt, wie es Deutsche und Slawo-Deutsche nur zu oft tun.
In Berlin z. B. gibt es eine förmliche gleichgeschlechtliche Prostitution auf der
Straße, in gewissen Restaurants und Kaffeehäusern; ja selbst Homosexuellenbälle,
die sogenannten Pupenbälle, werden derart öffentlich abgehalten, daß jeder sie für
ein geringes Eintrittsgeld besuchen kann.

Wenn Eulenburg meint, daß jedem Erwachsenen die freie Verfügung über
seine Person, seinen Körper zukomme, so erwidern wir, daß jede Freiheit nur
in der Beschränkung besteht und bestehen kann, denn sonst führt sie zur Un-
gebundenheit und Verwilderung. D. h. in einem geordneten Staat und in einer
gesitteten Gesellschaft ist der einzelne nur insofern frei, als Staat und Gesellschaft
es erlauben, es für sich selber und ihre Gesundheit fordern müssen. Bei völlig
freier Verfügung über seinen Körper könnte man nackt auf der Friedrichstraße
in Berlin herumspazieren, ohne daß jemand etwas dagegen einwenden dürfte,
oder mit demselben Rechte ließen sich öffentlich die unzüchtigsten Handlungen
vornehmen, wenn beide Teile damit einverstanden wären. Man sieht, wie
unhaltbar solche wissenschaftlichen Schlagworte sind; wenn man sie in die Wirk¬
lichkeit überträgt, werden sie zu Unfug und Schrecken. Auch in der französischen
Revolution predigte man Freiheit und Gleichheit, — und wo allein hat man
sie gefunden? — unterm Henkerbeil.

Ein weiterer Grund gegen die Straffälligkeit der Homosexuellen wird in
einem zunehmenden Denunziantenwesen gesucht. Mit solchen Nebengründen kann
man ziemlich jedes Gesetz zu Fall bringen. Man darf da getrost sagen,
Zuchthausstrafe muß verboten sein, weil sie nachteilig auf die Gesundheit


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[0245] Homosexualität und neuer Strafgesetzentwurf Es wird um daraus hingewiesen, daß in anderen Ländern, wo man eine Sondergesetzgebung gegen Homosexuelle nicht kenne, das Laster nicht verbreiteter sei, oder in seinen Äußerungen mehr hervortrete als bei uns. Hierauf ist zu erwidern, daß anderswo auch sonst bisweilen andere geschlechtliche Anschauungen herrschen, die sür Deutschland keineswegs maßgebend sind. Ob die sittlichen Zustände Frankreichs besonders vorbildlich sind, möchten wir bezweifeln. Das äußere Kennzeichen, die geringe Bevölkerungszunahme, bildet für wohlmeinende Franzosen die ernsteste Sorge um die Zukunft ihres Vaterlandes. Anders Italien; da steht die geschlechtliche Sittlichkeit augenblicklich, meines Erachtens, höher als bei uns, außer in Neapel mit Zubehör. Italien ist ein Stadtland, besitzt aber nicht so große Städte wie wir, die Industrie wurde nur in Mailand gleich stark ausgebildet, und proletarisiert die Menschen weniger als bei uns. Die Italienerin lebt unter viel schärferer Beobachtung, als man sie in Deutsch¬ land kennt; der Gedanke des Nichterlaubten ist dort stärker ausgebildet, geht es doch noch so weit, daß ein Mädchen unterer Stände keinen Hut tragen darf; überdies sitzt der Dolch dort lose, was der Homosexualität nicht gerade zustatten kommt, ebensowenig die Tatsache, daß der Romane weibersüchtiger ist als der Germane. Zu diesen inneren Dingen gesellen sich äußere, zumal die Tatsache, daß der Romane dasteht als Träger einer alten Kultur, die sich ihn nie so weit vergessen läßt, wie es Deutsche und Slawo-Deutsche nur zu oft tun. In Berlin z. B. gibt es eine förmliche gleichgeschlechtliche Prostitution auf der Straße, in gewissen Restaurants und Kaffeehäusern; ja selbst Homosexuellenbälle, die sogenannten Pupenbälle, werden derart öffentlich abgehalten, daß jeder sie für ein geringes Eintrittsgeld besuchen kann. Wenn Eulenburg meint, daß jedem Erwachsenen die freie Verfügung über seine Person, seinen Körper zukomme, so erwidern wir, daß jede Freiheit nur in der Beschränkung besteht und bestehen kann, denn sonst führt sie zur Un- gebundenheit und Verwilderung. D. h. in einem geordneten Staat und in einer gesitteten Gesellschaft ist der einzelne nur insofern frei, als Staat und Gesellschaft es erlauben, es für sich selber und ihre Gesundheit fordern müssen. Bei völlig freier Verfügung über seinen Körper könnte man nackt auf der Friedrichstraße in Berlin herumspazieren, ohne daß jemand etwas dagegen einwenden dürfte, oder mit demselben Rechte ließen sich öffentlich die unzüchtigsten Handlungen vornehmen, wenn beide Teile damit einverstanden wären. Man sieht, wie unhaltbar solche wissenschaftlichen Schlagworte sind; wenn man sie in die Wirk¬ lichkeit überträgt, werden sie zu Unfug und Schrecken. Auch in der französischen Revolution predigte man Freiheit und Gleichheit, — und wo allein hat man sie gefunden? — unterm Henkerbeil. Ein weiterer Grund gegen die Straffälligkeit der Homosexuellen wird in einem zunehmenden Denunziantenwesen gesucht. Mit solchen Nebengründen kann man ziemlich jedes Gesetz zu Fall bringen. Man darf da getrost sagen, Zuchthausstrafe muß verboten sein, weil sie nachteilig auf die Gesundheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/245>, abgerufen am 24.07.2024.