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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Homosexualität und "euer Strafgesetzcntwnrf

Menschen festbegründete Eigenschaft. Uns ist nicht bekannt, daß sich dies beweisen
läßt. Wir erwarteten dann wirkliche Veränderungen, Abnormitäten oder der¬
gleichen im Organismus. Das ist aber nur selten der Fall, etwa bei Männern und
weibischer, bei Frauen mit rauher Männerstimme, bei Männern mit weiblichen, bei
Frauen und männlichen Körperformen u. tgi. Der "Urning" steht da weit gegen
den "geborenen" Verbrecher zurück, den die Natur durch eigene Schädelbildung,
einen besonderen Gesichtsausdruck, den sogenannten Verbrechertypus, kennzeichnete.
Der Verbrecher ist also dem Homosexuellen in der Vererbung weit überlegen,
und dennoch soll man ihn bestrafen, seinen gehätschelten Kollegen aber nicht.
Nun kommt noch hinzu, daß wir unserseits die Vererbung oder das Angeborensein
nicht in dem Umfange zugestehen, als Eulenburg und mit ihm die meisten Ver¬
teidiger der Homosexualität wissenschaftlich annehmen. Der theoretischen, medi¬
zinischen Auktorität wagen wir eine praktische, gewerbsmäßige entgegenzustellen:
die der Berliner Prostituierten. Von diesen glaubt fast keine an Erblichkeit
des Lasters, wohl aber an nachträgliche Erwerbung. Sie behaupten, die meisten
männlichen Homosexuellen seien ursprünglich ganz normal gewesen, hätten sich
aber in jungen Jahren und Weibern übernommen oder Geschlechtskrankheiten
bekommen, infolgedessen sich eine Abstumpfung, sogar Abneigung gegen das
weibliche Geschlecht, bis zur vollen Impotenz, eingestellt habe. Da sie nun aber
noch jung seien und der Geschlechtstrieb wirke, so würfen sie sich dem gleichen
Geschlecht in die Arme, worin sie dann Charakterschwäche, Gewohnheit und
Schuldbewußtsein festhielten. Eine ähnliche Wirkung kann Selbstbefleckung in
der Jugend oder Püderastie in den Schulen erzielen. Wie wenig wir für
gewöhnlich Berliner Prostituierten glauben möchten, hier sind sie unseres Erachtens
Kenner von Fach. So beim männlichen Geschlecht, beim weiblichen kommen
vielfach andere Ursachen in Betracht. Wohl am seltensten ist der Fall, wo sich
die einzelne an Männern übernommen und sie "satt gekriegt" hat; das ist bei
Frauen stets mehr Theorie als Praxis. Weit wichtiger erscheint uns, daß so viele
Mädchen unverehelicht bleiben, die in Schaustellungen, Bildwerken, Schriften,
Kleidung, ungenügenden Wohnungsverhältnissen und Beobachtungen des täglichen
Lebens (z. B. Liebespaare) fortwährend geschlechtlich gereizt, bisweilen auf¬
gestachelt werden, aber durch die Furcht vor den Folgen männlichen Umgangs
oder den Mangel eines solchen zu Homosexualität, selbst zu Wahnsinn getrieben
werden.

Nimmt man nun an, daß die Homosexualität keineswegs immer angeboren
ist, so liegt nicht der Schatten eines Grundes vor, das Widernatürliche nicht auch
als solches zu behandeln. Und selbst, wenn es angeboren wäre, hat die
Gesetzgebung und die Gesellschaft das Recht, sich dagegen zu wehren. Unser
Volk ist durch Überkultur und Nervenüberreizung schon von so vielen Gefahren
bedroht, durch Laxheit und Überhumanität schon moralisch und teilweise selbst
physisch so abgewirtschaftet, daß das Recht zur Gegenwehr zu einer ernsten, heiligen
Pflicht zu werden beginnt.


Homosexualität und »euer Strafgesetzcntwnrf

Menschen festbegründete Eigenschaft. Uns ist nicht bekannt, daß sich dies beweisen
läßt. Wir erwarteten dann wirkliche Veränderungen, Abnormitäten oder der¬
gleichen im Organismus. Das ist aber nur selten der Fall, etwa bei Männern und
weibischer, bei Frauen mit rauher Männerstimme, bei Männern mit weiblichen, bei
Frauen und männlichen Körperformen u. tgi. Der „Urning" steht da weit gegen
den „geborenen" Verbrecher zurück, den die Natur durch eigene Schädelbildung,
einen besonderen Gesichtsausdruck, den sogenannten Verbrechertypus, kennzeichnete.
Der Verbrecher ist also dem Homosexuellen in der Vererbung weit überlegen,
und dennoch soll man ihn bestrafen, seinen gehätschelten Kollegen aber nicht.
Nun kommt noch hinzu, daß wir unserseits die Vererbung oder das Angeborensein
nicht in dem Umfange zugestehen, als Eulenburg und mit ihm die meisten Ver¬
teidiger der Homosexualität wissenschaftlich annehmen. Der theoretischen, medi¬
zinischen Auktorität wagen wir eine praktische, gewerbsmäßige entgegenzustellen:
die der Berliner Prostituierten. Von diesen glaubt fast keine an Erblichkeit
des Lasters, wohl aber an nachträgliche Erwerbung. Sie behaupten, die meisten
männlichen Homosexuellen seien ursprünglich ganz normal gewesen, hätten sich
aber in jungen Jahren und Weibern übernommen oder Geschlechtskrankheiten
bekommen, infolgedessen sich eine Abstumpfung, sogar Abneigung gegen das
weibliche Geschlecht, bis zur vollen Impotenz, eingestellt habe. Da sie nun aber
noch jung seien und der Geschlechtstrieb wirke, so würfen sie sich dem gleichen
Geschlecht in die Arme, worin sie dann Charakterschwäche, Gewohnheit und
Schuldbewußtsein festhielten. Eine ähnliche Wirkung kann Selbstbefleckung in
der Jugend oder Püderastie in den Schulen erzielen. Wie wenig wir für
gewöhnlich Berliner Prostituierten glauben möchten, hier sind sie unseres Erachtens
Kenner von Fach. So beim männlichen Geschlecht, beim weiblichen kommen
vielfach andere Ursachen in Betracht. Wohl am seltensten ist der Fall, wo sich
die einzelne an Männern übernommen und sie „satt gekriegt" hat; das ist bei
Frauen stets mehr Theorie als Praxis. Weit wichtiger erscheint uns, daß so viele
Mädchen unverehelicht bleiben, die in Schaustellungen, Bildwerken, Schriften,
Kleidung, ungenügenden Wohnungsverhältnissen und Beobachtungen des täglichen
Lebens (z. B. Liebespaare) fortwährend geschlechtlich gereizt, bisweilen auf¬
gestachelt werden, aber durch die Furcht vor den Folgen männlichen Umgangs
oder den Mangel eines solchen zu Homosexualität, selbst zu Wahnsinn getrieben
werden.

Nimmt man nun an, daß die Homosexualität keineswegs immer angeboren
ist, so liegt nicht der Schatten eines Grundes vor, das Widernatürliche nicht auch
als solches zu behandeln. Und selbst, wenn es angeboren wäre, hat die
Gesetzgebung und die Gesellschaft das Recht, sich dagegen zu wehren. Unser
Volk ist durch Überkultur und Nervenüberreizung schon von so vielen Gefahren
bedroht, durch Laxheit und Überhumanität schon moralisch und teilweise selbst
physisch so abgewirtschaftet, daß das Recht zur Gegenwehr zu einer ernsten, heiligen
Pflicht zu werden beginnt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/244>, abgerufen am 24.07.2024.