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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Homosexualität und neuer Strafgcsctzentwurf

gefühlen getrieben, literarisch zum Schutze der Verfolgten und Bedrängten ein¬
traten und in einer mehr als dreitausend Unterschriften tragenden Eingabe die
Aufhebung jener Bestimmung befürworteten. In gleichem Sinne wirkte viele
Jahre hindurch ein eigens oder doch hauptsächlich zu diesem Zwecke ins Leben
gerufenes "Wissenschaftlich-Humanitäres Komitee", an dessen Spitze Dr. Magnus
Hirschfeld stand. Alle diese Bestrebungen schienen auch einen gewissen Erfolg
zu versprechen, als die sensationellen Vorgänge der letzten Zeit, welche sich an
die Namen Lynar, Moltke-Harden, Brand, Fürst Eulenburg usw. knüpften,
alles mit Sturmgewalt über den Haufen warfen. "Scharfmacherisch" war man
an der Arbeit, den längst fallreifen Paragraphen noch zu erweitern.

Dieser bedroht die "widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen
Geschlechts" mit Gefängnis bis zu fünf Jahren. In dem an seiner Stelle
beabsichtigten Z 250 wird die Strafbestimmung nicht nur beibehalten, sondern
auch auf das weibliche Geschlecht ausgedehnt, weil es ganz allgemein heißt:
"Die widernatürliche Unzucht mit einer Person gleichen Geschlechts wird mit
Gefängnis bestraft." Für besonders schwere Fälle werden die Strafbestimmungen
noch verschärft. Im letzten Augenblick, ehe der dem Reichstag vorzulegende
Entwurf zum Gesetz erhoben wird, muß man die Frage nach der Notwendigkeit
und Nützlichkeit dieses Paragraphen aufwerfen und der weiteren Öffentlichkeit
unterbreiten.

Die wissenschaftlichen Erforschungen haben zu dem Ergebnisse geführt, daß
die Strafbestimmung des ß 175 vor allem deswegen verwerflich und ungerecht
ist, weil es sich bei der Homosexualität nicht um ein "Laster", eine geschlechtliche
"Verirrung", eine "Perversität", sondern um eine in der Organisation des
betreffenden Individuums von vornherein festbegründete, angeborene natürliche
Veranlagung handelt. Vom Standpunkt dieser Homosexuellen aus kann also
von einer zu bestrafenden "widernatürlichen" Unzucht selbstverständlich gar keine
Rede sein, denn für sie ist das auf Angehörige des eigenen Geschlechts gerichtete
Geschlechtsziel das natürliche. Von der Ungerechtigkeit abgesehen, erscheint die
Gesetzesbestimmung auch unpraktisch, weil sie tatsächlich undurchführbar ist. Bei
der ungeheuren Anzahl der Homosexuellen, die mindestens 1 Prozent der
erwachsenen männlichen Bevölkerung ausmacht, läßt sich nicht der kleinste Teil
derselben strafrechtlich verfolgen. Weiter kommt hinzu, daß die Bestimmungen
überaus verderblich wirken, weil sie einem systematisch betriebenen, besonders in
Großstädten wild wuchernden Erpressertum die Wege bereiten, einem der gefähr¬
lichsten, bösartigsten und immer zunehmenden Schmarotzergewächse. Endlich muß
man darauf hinweisen, daß in Ländern, wo mau eine homosexuelle Sonder-
gesetzgebnng nicht kennt, wie in Frankreich, Italien, Holland und Belgien, die
Homosexualität nicht häufiger ist.

Von juristischer Seite wurde dem § 175 vielfach mit Recht entgegengehalten,
daß es sich bei dem betreffenden Vergehen gar nicht um Verletzung eines wirk¬
lichen Nechtsgntes handelt, da jedem Mündigen die freie Verfügung über seine


Homosexualität und neuer Strafgcsctzentwurf

gefühlen getrieben, literarisch zum Schutze der Verfolgten und Bedrängten ein¬
traten und in einer mehr als dreitausend Unterschriften tragenden Eingabe die
Aufhebung jener Bestimmung befürworteten. In gleichem Sinne wirkte viele
Jahre hindurch ein eigens oder doch hauptsächlich zu diesem Zwecke ins Leben
gerufenes „Wissenschaftlich-Humanitäres Komitee", an dessen Spitze Dr. Magnus
Hirschfeld stand. Alle diese Bestrebungen schienen auch einen gewissen Erfolg
zu versprechen, als die sensationellen Vorgänge der letzten Zeit, welche sich an
die Namen Lynar, Moltke-Harden, Brand, Fürst Eulenburg usw. knüpften,
alles mit Sturmgewalt über den Haufen warfen. „Scharfmacherisch" war man
an der Arbeit, den längst fallreifen Paragraphen noch zu erweitern.

Dieser bedroht die „widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen
Geschlechts" mit Gefängnis bis zu fünf Jahren. In dem an seiner Stelle
beabsichtigten Z 250 wird die Strafbestimmung nicht nur beibehalten, sondern
auch auf das weibliche Geschlecht ausgedehnt, weil es ganz allgemein heißt:
„Die widernatürliche Unzucht mit einer Person gleichen Geschlechts wird mit
Gefängnis bestraft." Für besonders schwere Fälle werden die Strafbestimmungen
noch verschärft. Im letzten Augenblick, ehe der dem Reichstag vorzulegende
Entwurf zum Gesetz erhoben wird, muß man die Frage nach der Notwendigkeit
und Nützlichkeit dieses Paragraphen aufwerfen und der weiteren Öffentlichkeit
unterbreiten.

Die wissenschaftlichen Erforschungen haben zu dem Ergebnisse geführt, daß
die Strafbestimmung des ß 175 vor allem deswegen verwerflich und ungerecht
ist, weil es sich bei der Homosexualität nicht um ein „Laster", eine geschlechtliche
„Verirrung", eine „Perversität", sondern um eine in der Organisation des
betreffenden Individuums von vornherein festbegründete, angeborene natürliche
Veranlagung handelt. Vom Standpunkt dieser Homosexuellen aus kann also
von einer zu bestrafenden „widernatürlichen" Unzucht selbstverständlich gar keine
Rede sein, denn für sie ist das auf Angehörige des eigenen Geschlechts gerichtete
Geschlechtsziel das natürliche. Von der Ungerechtigkeit abgesehen, erscheint die
Gesetzesbestimmung auch unpraktisch, weil sie tatsächlich undurchführbar ist. Bei
der ungeheuren Anzahl der Homosexuellen, die mindestens 1 Prozent der
erwachsenen männlichen Bevölkerung ausmacht, läßt sich nicht der kleinste Teil
derselben strafrechtlich verfolgen. Weiter kommt hinzu, daß die Bestimmungen
überaus verderblich wirken, weil sie einem systematisch betriebenen, besonders in
Großstädten wild wuchernden Erpressertum die Wege bereiten, einem der gefähr¬
lichsten, bösartigsten und immer zunehmenden Schmarotzergewächse. Endlich muß
man darauf hinweisen, daß in Ländern, wo mau eine homosexuelle Sonder-
gesetzgebnng nicht kennt, wie in Frankreich, Italien, Holland und Belgien, die
Homosexualität nicht häufiger ist.

Von juristischer Seite wurde dem § 175 vielfach mit Recht entgegengehalten,
daß es sich bei dem betreffenden Vergehen gar nicht um Verletzung eines wirk¬
lichen Nechtsgntes handelt, da jedem Mündigen die freie Verfügung über seine


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[0241] Homosexualität und neuer Strafgcsctzentwurf gefühlen getrieben, literarisch zum Schutze der Verfolgten und Bedrängten ein¬ traten und in einer mehr als dreitausend Unterschriften tragenden Eingabe die Aufhebung jener Bestimmung befürworteten. In gleichem Sinne wirkte viele Jahre hindurch ein eigens oder doch hauptsächlich zu diesem Zwecke ins Leben gerufenes „Wissenschaftlich-Humanitäres Komitee", an dessen Spitze Dr. Magnus Hirschfeld stand. Alle diese Bestrebungen schienen auch einen gewissen Erfolg zu versprechen, als die sensationellen Vorgänge der letzten Zeit, welche sich an die Namen Lynar, Moltke-Harden, Brand, Fürst Eulenburg usw. knüpften, alles mit Sturmgewalt über den Haufen warfen. „Scharfmacherisch" war man an der Arbeit, den längst fallreifen Paragraphen noch zu erweitern. Dieser bedroht die „widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts" mit Gefängnis bis zu fünf Jahren. In dem an seiner Stelle beabsichtigten Z 250 wird die Strafbestimmung nicht nur beibehalten, sondern auch auf das weibliche Geschlecht ausgedehnt, weil es ganz allgemein heißt: „Die widernatürliche Unzucht mit einer Person gleichen Geschlechts wird mit Gefängnis bestraft." Für besonders schwere Fälle werden die Strafbestimmungen noch verschärft. Im letzten Augenblick, ehe der dem Reichstag vorzulegende Entwurf zum Gesetz erhoben wird, muß man die Frage nach der Notwendigkeit und Nützlichkeit dieses Paragraphen aufwerfen und der weiteren Öffentlichkeit unterbreiten. Die wissenschaftlichen Erforschungen haben zu dem Ergebnisse geführt, daß die Strafbestimmung des ß 175 vor allem deswegen verwerflich und ungerecht ist, weil es sich bei der Homosexualität nicht um ein „Laster", eine geschlechtliche „Verirrung", eine „Perversität", sondern um eine in der Organisation des betreffenden Individuums von vornherein festbegründete, angeborene natürliche Veranlagung handelt. Vom Standpunkt dieser Homosexuellen aus kann also von einer zu bestrafenden „widernatürlichen" Unzucht selbstverständlich gar keine Rede sein, denn für sie ist das auf Angehörige des eigenen Geschlechts gerichtete Geschlechtsziel das natürliche. Von der Ungerechtigkeit abgesehen, erscheint die Gesetzesbestimmung auch unpraktisch, weil sie tatsächlich undurchführbar ist. Bei der ungeheuren Anzahl der Homosexuellen, die mindestens 1 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung ausmacht, läßt sich nicht der kleinste Teil derselben strafrechtlich verfolgen. Weiter kommt hinzu, daß die Bestimmungen überaus verderblich wirken, weil sie einem systematisch betriebenen, besonders in Großstädten wild wuchernden Erpressertum die Wege bereiten, einem der gefähr¬ lichsten, bösartigsten und immer zunehmenden Schmarotzergewächse. Endlich muß man darauf hinweisen, daß in Ländern, wo mau eine homosexuelle Sonder- gesetzgebnng nicht kennt, wie in Frankreich, Italien, Holland und Belgien, die Homosexualität nicht häufiger ist. Von juristischer Seite wurde dem § 175 vielfach mit Recht entgegengehalten, daß es sich bei dem betreffenden Vergehen gar nicht um Verletzung eines wirk¬ lichen Nechtsgntes handelt, da jedem Mündigen die freie Verfügung über seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/241>, abgerufen am 24.07.2024.