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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Zwischen Alt- und Neu-Wien

Die Leute haben lange Not gelitten, und nun es ihnen etwas besser geht, kaufen
sie eine größere Menge Holz und Kohlen auf einmal. Solches Verfahren dünkt
allen Nachbarn eine Überhebung, ein völliger Frevel. Die Gassersche Familie
aber "umringte den Wagen mit einer Vorsicht, als ob er die französische Kriegs¬
entschädigung enthielte. ..." Wichtiger noch als solch ein Einkauf ist die Miete.
Am Quartalsbeginn herrscht vielfach bedrückte Stimmung -- "mit dem Zins
is halt a Kreuz", aber "der Zins is heilig", und wer ihn nicht zahlt, ist "ein
Gestndel".

Mit allen (nicht immer nur künstlerischen) Mitteln sucht Chiavacci für die
Notleidenden Mitleid zu erregen, und das gelingt ihm um so eher, als seine
Armen zumeist sehr gute und gar nicht habgierige Menschen sind. Er hegt eine
leidenschaftliche Zuneigung für genügsame Leute, und wenn man ihm in diesem
Punkt völlig glauben darf, gibt es in Wien oder gab es wenigstens im guten
alten Wien mehr genügsame Menschen als anderwärts, ja beruht die Wiener
Gemütlichkeit zum guten Teil eben auf solcher Genügsamkeit. Nach der Lektüre
Schlögls möchte ich uun allerdings meinen, ein kindlicher Optimismus habe
Chiavacci in dieser Beziehung einige gute Erfahrungen recht sehr verallgemeinern
lassen. Das hindert nicht, daß etliche dieser bescheiden zufriedenen Armen dem
Dichter in der Darstellung gerade besonders geglückt sind. Den "Zufriedenen",
der alt, arbeitslos, ohne Sparpfennig und dennoch satt und vergnügt ist, sieht
und hört man wirklich. Der Mann berichtet ausführlich über seine angenehme
Existenz. Irgendwo bekommt er Abfallessen, "Zigarrnstumpferln -- der beste
Tawak, sag i Ihna", finden sich auch, und sogar für Rasieren und Haar¬
schneiden ist gesorgt. "Da brauchen S' nur auf dö Innung der Friseure und
Raseure z' gehn, werd'n S' ganz umsunst bedient. Freili lernen die Lehrbuben
erhebt an Ihna, aber dös is ja auf der Klinik dasselbe. . . . A bißl 'nein-
g'schnitten werd'n S' manchmal; aber net der Rede wert. ..."

In sozialer Hinsicht wertvoller sind freilich die Erzählungen, in denen die
von der Not angerichteten geistigen und moralischen Verkrümmungen bloßgelegt
werden. Ganz läßt es Chiavacci auch hieran nicht fehlen; doch fühlt er sich
bei solchem härteren Tun nicht recht in seinem Element.

Eine derbe Gestalt zum mindesten aber ist ihm ohne alles Verzärteln und
Verbiegen völlig geraten, wohl weil er hier nichts Tragisches, viel Komisches
und doch auch einige rührende Dinge zu zeichnen fand. Es ist die in Wien
zur Berühmtheit gelangte Frau Sopherl vom Naschmarkt, die Gemüseverkäuferin,
deren drastische Standreden er zum Teil in dem Bande "Eine, die's versteht,"
zusammengefaßt hat. (Auch auf die Bühne brachte Chiavacci seine Lieblings¬
gestalt, wie er denn mehrmals, die Form erweiternd, über die Skizze hinaus
zum Volksstück strebte.) Im Grunde ist die behäbige Frau, die nach Chiavaccis
einleitender Aussage "den reichen Wortschatz des Wiener Dialekts und die
traditionelle Volksweisheit, wie sie in Sprichwörtern, Bildern und Gleichnissen
zum Ausdruck kommt, mit souveräner Gewalt beherrscht" -- im Grunde ist


Zwischen Alt- und Neu-Wien

Die Leute haben lange Not gelitten, und nun es ihnen etwas besser geht, kaufen
sie eine größere Menge Holz und Kohlen auf einmal. Solches Verfahren dünkt
allen Nachbarn eine Überhebung, ein völliger Frevel. Die Gassersche Familie
aber „umringte den Wagen mit einer Vorsicht, als ob er die französische Kriegs¬
entschädigung enthielte. ..." Wichtiger noch als solch ein Einkauf ist die Miete.
Am Quartalsbeginn herrscht vielfach bedrückte Stimmung — „mit dem Zins
is halt a Kreuz", aber „der Zins is heilig", und wer ihn nicht zahlt, ist „ein
Gestndel".

Mit allen (nicht immer nur künstlerischen) Mitteln sucht Chiavacci für die
Notleidenden Mitleid zu erregen, und das gelingt ihm um so eher, als seine
Armen zumeist sehr gute und gar nicht habgierige Menschen sind. Er hegt eine
leidenschaftliche Zuneigung für genügsame Leute, und wenn man ihm in diesem
Punkt völlig glauben darf, gibt es in Wien oder gab es wenigstens im guten
alten Wien mehr genügsame Menschen als anderwärts, ja beruht die Wiener
Gemütlichkeit zum guten Teil eben auf solcher Genügsamkeit. Nach der Lektüre
Schlögls möchte ich uun allerdings meinen, ein kindlicher Optimismus habe
Chiavacci in dieser Beziehung einige gute Erfahrungen recht sehr verallgemeinern
lassen. Das hindert nicht, daß etliche dieser bescheiden zufriedenen Armen dem
Dichter in der Darstellung gerade besonders geglückt sind. Den „Zufriedenen",
der alt, arbeitslos, ohne Sparpfennig und dennoch satt und vergnügt ist, sieht
und hört man wirklich. Der Mann berichtet ausführlich über seine angenehme
Existenz. Irgendwo bekommt er Abfallessen, „Zigarrnstumpferln — der beste
Tawak, sag i Ihna", finden sich auch, und sogar für Rasieren und Haar¬
schneiden ist gesorgt. „Da brauchen S' nur auf dö Innung der Friseure und
Raseure z' gehn, werd'n S' ganz umsunst bedient. Freili lernen die Lehrbuben
erhebt an Ihna, aber dös is ja auf der Klinik dasselbe. . . . A bißl 'nein-
g'schnitten werd'n S' manchmal; aber net der Rede wert. ..."

In sozialer Hinsicht wertvoller sind freilich die Erzählungen, in denen die
von der Not angerichteten geistigen und moralischen Verkrümmungen bloßgelegt
werden. Ganz läßt es Chiavacci auch hieran nicht fehlen; doch fühlt er sich
bei solchem härteren Tun nicht recht in seinem Element.

Eine derbe Gestalt zum mindesten aber ist ihm ohne alles Verzärteln und
Verbiegen völlig geraten, wohl weil er hier nichts Tragisches, viel Komisches
und doch auch einige rührende Dinge zu zeichnen fand. Es ist die in Wien
zur Berühmtheit gelangte Frau Sopherl vom Naschmarkt, die Gemüseverkäuferin,
deren drastische Standreden er zum Teil in dem Bande „Eine, die's versteht,"
zusammengefaßt hat. (Auch auf die Bühne brachte Chiavacci seine Lieblings¬
gestalt, wie er denn mehrmals, die Form erweiternd, über die Skizze hinaus
zum Volksstück strebte.) Im Grunde ist die behäbige Frau, die nach Chiavaccis
einleitender Aussage „den reichen Wortschatz des Wiener Dialekts und die
traditionelle Volksweisheit, wie sie in Sprichwörtern, Bildern und Gleichnissen
zum Ausdruck kommt, mit souveräner Gewalt beherrscht" — im Grunde ist


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[0237] Zwischen Alt- und Neu-Wien Die Leute haben lange Not gelitten, und nun es ihnen etwas besser geht, kaufen sie eine größere Menge Holz und Kohlen auf einmal. Solches Verfahren dünkt allen Nachbarn eine Überhebung, ein völliger Frevel. Die Gassersche Familie aber „umringte den Wagen mit einer Vorsicht, als ob er die französische Kriegs¬ entschädigung enthielte. ..." Wichtiger noch als solch ein Einkauf ist die Miete. Am Quartalsbeginn herrscht vielfach bedrückte Stimmung — „mit dem Zins is halt a Kreuz", aber „der Zins is heilig", und wer ihn nicht zahlt, ist „ein Gestndel". Mit allen (nicht immer nur künstlerischen) Mitteln sucht Chiavacci für die Notleidenden Mitleid zu erregen, und das gelingt ihm um so eher, als seine Armen zumeist sehr gute und gar nicht habgierige Menschen sind. Er hegt eine leidenschaftliche Zuneigung für genügsame Leute, und wenn man ihm in diesem Punkt völlig glauben darf, gibt es in Wien oder gab es wenigstens im guten alten Wien mehr genügsame Menschen als anderwärts, ja beruht die Wiener Gemütlichkeit zum guten Teil eben auf solcher Genügsamkeit. Nach der Lektüre Schlögls möchte ich uun allerdings meinen, ein kindlicher Optimismus habe Chiavacci in dieser Beziehung einige gute Erfahrungen recht sehr verallgemeinern lassen. Das hindert nicht, daß etliche dieser bescheiden zufriedenen Armen dem Dichter in der Darstellung gerade besonders geglückt sind. Den „Zufriedenen", der alt, arbeitslos, ohne Sparpfennig und dennoch satt und vergnügt ist, sieht und hört man wirklich. Der Mann berichtet ausführlich über seine angenehme Existenz. Irgendwo bekommt er Abfallessen, „Zigarrnstumpferln — der beste Tawak, sag i Ihna", finden sich auch, und sogar für Rasieren und Haar¬ schneiden ist gesorgt. „Da brauchen S' nur auf dö Innung der Friseure und Raseure z' gehn, werd'n S' ganz umsunst bedient. Freili lernen die Lehrbuben erhebt an Ihna, aber dös is ja auf der Klinik dasselbe. . . . A bißl 'nein- g'schnitten werd'n S' manchmal; aber net der Rede wert. ..." In sozialer Hinsicht wertvoller sind freilich die Erzählungen, in denen die von der Not angerichteten geistigen und moralischen Verkrümmungen bloßgelegt werden. Ganz läßt es Chiavacci auch hieran nicht fehlen; doch fühlt er sich bei solchem härteren Tun nicht recht in seinem Element. Eine derbe Gestalt zum mindesten aber ist ihm ohne alles Verzärteln und Verbiegen völlig geraten, wohl weil er hier nichts Tragisches, viel Komisches und doch auch einige rührende Dinge zu zeichnen fand. Es ist die in Wien zur Berühmtheit gelangte Frau Sopherl vom Naschmarkt, die Gemüseverkäuferin, deren drastische Standreden er zum Teil in dem Bande „Eine, die's versteht," zusammengefaßt hat. (Auch auf die Bühne brachte Chiavacci seine Lieblings¬ gestalt, wie er denn mehrmals, die Form erweiternd, über die Skizze hinaus zum Volksstück strebte.) Im Grunde ist die behäbige Frau, die nach Chiavaccis einleitender Aussage „den reichen Wortschatz des Wiener Dialekts und die traditionelle Volksweisheit, wie sie in Sprichwörtern, Bildern und Gleichnissen zum Ausdruck kommt, mit souveräner Gewalt beherrscht" — im Grunde ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/237>, abgerufen am 24.07.2024.