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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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tausend Stimmen Majorität, und daß insbesondere ein Paktieren mit einem
Stand und mit einer Konfession oder mit der Regierung selbst um materieller
Vorteile willen (man denke an Zentrum und Bund der Landwirte) nur dazu
dienen muß, sich selbst aufzugeben und sich selbst untreu zu werden, womit das
Ende des wahren Aristokratismus besiegelt wäre. Es scheint fast, als ob gerade
die, welche es vor allen angeht, die rechten Maße für aristokratisches Verhalten
in politischen Dingen ein wenig verloren haben. Manche Regierung scheint
bedauerlicherweise mehr aus Volksstimmungen zu hören, als ihre Entscheidung
nach den Gesetzen eines Aristokratismus zu treffen, der das Beste zum Ziel hat.

Der einzelnen Persönlichkeit, dem Repräsentanten und Träger des Aristo¬
kratismus mehr Recht! Mit dieser Forderung freilich verquickt sich ein tragisches
Motiv der Menschheit. Recht ist ein sozialer Begriff. Recht gründet sich auf
Gemeinschaft und ist entstanden aus der Gemeinschaft und ihren Bedürfnissen
heraus. Innerhalb dieser Gemeinschaft hat auch die einzelne Persönlichkeit zu
verzichten auf das, was sie als ihr Recht in Anspruch nehmen zu dürfen glaubt,
sobald es mit dem Recht der Gemeinschaft in Widerstreit kommt. Wenn sie
diesen Verzicht nicht leistet und nicht leisten kann aus ihrer Überzeugung heraus,
dann kommt's zum tragischen Konflikt, und um so tiefer und erschütternder
wird er sein, je mehr in der Persönlichkeit der echte Aristokratismus lebendig ist.

Allerdings hat die Geschichte das Recht des Rechtes der Persönlichkeit von
je erwiesen. Sie hat gezeigt, daß nur immer einzelne Individuen der Menschheit
Blüten und Früchte brachten! Aber sind wohl irgendeinem Großen in der
Geschichte -- abgesehen von Jesus, dem Menschensohn, in welchem freilich die
Tragik des Konfliktes zwischen Persönlichkeit und sozialer Gemeinschaft aufs
höchste verschärft war! -- tragische Konflikte mit der Umwelt ganz erspart
geblieben? Sie alle haben den Fluch tragen müssen, Mensch unter Menschen,
einer unter vielen, ein Aufwärtsschreitender unter der Menge zu sein.

Auch die Größten der Welt stehen und fallen unter dem Gesetz der Mensch¬
lichkeit. Auch ihnen ist Menschliches, Allzumenschliches nicht fern. Mensch sein
aber heißt dem Irrtum, der Unvollkommenheit, der Fehlerhaftigkeit unterworfen
sein. Je größer aber ein Mensch wird, je mehr sich seine natürlichen Kräfte
zu Tugenden entwickeln, um so höher wächst auch seine Kraft zur Ungerechtigkeit.
Alle seine Tugenden sind Medaillen, die ihre dunkle Kehrseite haben. Das lehrt
uns die Geschichte des Christentums, das lehren uns die Tragödien Shakespeares,
des christlichsten Dichters, auf erschütternde Weise.

Auch auf dem Gebiete der Politik ist es nicht anders, und hier ist das
glänzendste Beispiel der Mann, der die größten Verdienste um die Sozietät
seiner Vaterstadt hat, der sich aber auch seiner Verdienste bewußt ist, und der
insbesondere weiß, daß er seine Verdienste am allerwenigsten den: "Volk" ver¬
dankt. Mit Koriolans Größe wächst sein Stolz, mit der Erkenntnis seiner
Bedeutung, mit seinem aristokratischen Selbstbewußtsein wächst die Verachtung
der Umwelt. Und hier kommt noch ein Motiv hinzu, das einerseits seine


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tausend Stimmen Majorität, und daß insbesondere ein Paktieren mit einem
Stand und mit einer Konfession oder mit der Regierung selbst um materieller
Vorteile willen (man denke an Zentrum und Bund der Landwirte) nur dazu
dienen muß, sich selbst aufzugeben und sich selbst untreu zu werden, womit das
Ende des wahren Aristokratismus besiegelt wäre. Es scheint fast, als ob gerade
die, welche es vor allen angeht, die rechten Maße für aristokratisches Verhalten
in politischen Dingen ein wenig verloren haben. Manche Regierung scheint
bedauerlicherweise mehr aus Volksstimmungen zu hören, als ihre Entscheidung
nach den Gesetzen eines Aristokratismus zu treffen, der das Beste zum Ziel hat.

Der einzelnen Persönlichkeit, dem Repräsentanten und Träger des Aristo¬
kratismus mehr Recht! Mit dieser Forderung freilich verquickt sich ein tragisches
Motiv der Menschheit. Recht ist ein sozialer Begriff. Recht gründet sich auf
Gemeinschaft und ist entstanden aus der Gemeinschaft und ihren Bedürfnissen
heraus. Innerhalb dieser Gemeinschaft hat auch die einzelne Persönlichkeit zu
verzichten auf das, was sie als ihr Recht in Anspruch nehmen zu dürfen glaubt,
sobald es mit dem Recht der Gemeinschaft in Widerstreit kommt. Wenn sie
diesen Verzicht nicht leistet und nicht leisten kann aus ihrer Überzeugung heraus,
dann kommt's zum tragischen Konflikt, und um so tiefer und erschütternder
wird er sein, je mehr in der Persönlichkeit der echte Aristokratismus lebendig ist.

Allerdings hat die Geschichte das Recht des Rechtes der Persönlichkeit von
je erwiesen. Sie hat gezeigt, daß nur immer einzelne Individuen der Menschheit
Blüten und Früchte brachten! Aber sind wohl irgendeinem Großen in der
Geschichte — abgesehen von Jesus, dem Menschensohn, in welchem freilich die
Tragik des Konfliktes zwischen Persönlichkeit und sozialer Gemeinschaft aufs
höchste verschärft war! — tragische Konflikte mit der Umwelt ganz erspart
geblieben? Sie alle haben den Fluch tragen müssen, Mensch unter Menschen,
einer unter vielen, ein Aufwärtsschreitender unter der Menge zu sein.

Auch die Größten der Welt stehen und fallen unter dem Gesetz der Mensch¬
lichkeit. Auch ihnen ist Menschliches, Allzumenschliches nicht fern. Mensch sein
aber heißt dem Irrtum, der Unvollkommenheit, der Fehlerhaftigkeit unterworfen
sein. Je größer aber ein Mensch wird, je mehr sich seine natürlichen Kräfte
zu Tugenden entwickeln, um so höher wächst auch seine Kraft zur Ungerechtigkeit.
Alle seine Tugenden sind Medaillen, die ihre dunkle Kehrseite haben. Das lehrt
uns die Geschichte des Christentums, das lehren uns die Tragödien Shakespeares,
des christlichsten Dichters, auf erschütternde Weise.

Auch auf dem Gebiete der Politik ist es nicht anders, und hier ist das
glänzendste Beispiel der Mann, der die größten Verdienste um die Sozietät
seiner Vaterstadt hat, der sich aber auch seiner Verdienste bewußt ist, und der
insbesondere weiß, daß er seine Verdienste am allerwenigsten den: „Volk" ver¬
dankt. Mit Koriolans Größe wächst sein Stolz, mit der Erkenntnis seiner
Bedeutung, mit seinem aristokratischen Selbstbewußtsein wächst die Verachtung
der Umwelt. Und hier kommt noch ein Motiv hinzu, das einerseits seine


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[0020] Uoriolcm tausend Stimmen Majorität, und daß insbesondere ein Paktieren mit einem Stand und mit einer Konfession oder mit der Regierung selbst um materieller Vorteile willen (man denke an Zentrum und Bund der Landwirte) nur dazu dienen muß, sich selbst aufzugeben und sich selbst untreu zu werden, womit das Ende des wahren Aristokratismus besiegelt wäre. Es scheint fast, als ob gerade die, welche es vor allen angeht, die rechten Maße für aristokratisches Verhalten in politischen Dingen ein wenig verloren haben. Manche Regierung scheint bedauerlicherweise mehr aus Volksstimmungen zu hören, als ihre Entscheidung nach den Gesetzen eines Aristokratismus zu treffen, der das Beste zum Ziel hat. Der einzelnen Persönlichkeit, dem Repräsentanten und Träger des Aristo¬ kratismus mehr Recht! Mit dieser Forderung freilich verquickt sich ein tragisches Motiv der Menschheit. Recht ist ein sozialer Begriff. Recht gründet sich auf Gemeinschaft und ist entstanden aus der Gemeinschaft und ihren Bedürfnissen heraus. Innerhalb dieser Gemeinschaft hat auch die einzelne Persönlichkeit zu verzichten auf das, was sie als ihr Recht in Anspruch nehmen zu dürfen glaubt, sobald es mit dem Recht der Gemeinschaft in Widerstreit kommt. Wenn sie diesen Verzicht nicht leistet und nicht leisten kann aus ihrer Überzeugung heraus, dann kommt's zum tragischen Konflikt, und um so tiefer und erschütternder wird er sein, je mehr in der Persönlichkeit der echte Aristokratismus lebendig ist. Allerdings hat die Geschichte das Recht des Rechtes der Persönlichkeit von je erwiesen. Sie hat gezeigt, daß nur immer einzelne Individuen der Menschheit Blüten und Früchte brachten! Aber sind wohl irgendeinem Großen in der Geschichte — abgesehen von Jesus, dem Menschensohn, in welchem freilich die Tragik des Konfliktes zwischen Persönlichkeit und sozialer Gemeinschaft aufs höchste verschärft war! — tragische Konflikte mit der Umwelt ganz erspart geblieben? Sie alle haben den Fluch tragen müssen, Mensch unter Menschen, einer unter vielen, ein Aufwärtsschreitender unter der Menge zu sein. Auch die Größten der Welt stehen und fallen unter dem Gesetz der Mensch¬ lichkeit. Auch ihnen ist Menschliches, Allzumenschliches nicht fern. Mensch sein aber heißt dem Irrtum, der Unvollkommenheit, der Fehlerhaftigkeit unterworfen sein. Je größer aber ein Mensch wird, je mehr sich seine natürlichen Kräfte zu Tugenden entwickeln, um so höher wächst auch seine Kraft zur Ungerechtigkeit. Alle seine Tugenden sind Medaillen, die ihre dunkle Kehrseite haben. Das lehrt uns die Geschichte des Christentums, das lehren uns die Tragödien Shakespeares, des christlichsten Dichters, auf erschütternde Weise. Auch auf dem Gebiete der Politik ist es nicht anders, und hier ist das glänzendste Beispiel der Mann, der die größten Verdienste um die Sozietät seiner Vaterstadt hat, der sich aber auch seiner Verdienste bewußt ist, und der insbesondere weiß, daß er seine Verdienste am allerwenigsten den: „Volk" ver¬ dankt. Mit Koriolans Größe wächst sein Stolz, mit der Erkenntnis seiner Bedeutung, mit seinem aristokratischen Selbstbewußtsein wächst die Verachtung der Umwelt. Und hier kommt noch ein Motiv hinzu, das einerseits seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/20>, abgerufen am 24.07.2024.