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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Geselligkeit, Geselligkeitsfonnen und Geselligteitssurrogate

wird, haben sie wenig zu tun. Das große Geselligkeitstaleitt der Franzosen
liegt sicher nicht zuletzt in ihrem gänzlich unmusikalischen Wesen begründet.

Zur Schwerflüssigkeit und Eigenbrödelei, zur Fähigkeit und Vorliebe für
die Einsamkeit und zum Mystizismus kommen beim Deutschen noch zwei heftige
Antipathien, die gegen alle Geselligkeit sprechen. Die eine dieser Antipathien
heißt die Verachtung aller Form. Form ist für germanische Tiefgründigkeit
nur allzulange ein Synonym für Oberflächlichkeit gewesen. Form, welcher
Art sie auch sein mochte, machte ihn mißtrauisch, war den: Deutschen unbequem
und darum verhaßt. Man muß nur selbst heute noch die umständlichen Vor¬
bereitungen sehen und das Gestöhne hören, wenn der Deutsche sich ungezwungen
gesellig benehmen oder den Frack anziehen soll. Der Frack! Die aller-
bescheidenste aller Formen, ja, die kaum den Namen der Form verdient, war
durch Jahre, Jahrzehnte ein Schreckgespenst in jeden: deutschen Haus. "Frack
und weiße Binde" -- wenn der Deutsche sie anlegen mußte, verging ihm alle
Laune und alle Lust. Das Feierkleid hob seine Stimmung nicht, sondern
machte ihn unfrei. Es ist noch gar nicht lange her, daß die englische Sitte,
auch beim einfachen Familienmahl sorgfältig gekleidet zu erscheinen, bei uns als
"spleenig" angesehen wurde. Bei uns zog man sich zum Essen nicht einen
guten Rock an, sondern zuweilen den schlechten noch aus. .. .

Hand in Hand mit der Antipathie gegen die Form ging die zweite
Antipathie: die Antipathie gegen die Dame. Die Dame war ungefähr dasselbe
wie der Frack; sie bedrückte den Mann und raubte ihm die Laune. Die
Erscheinung der Dame war ihm unangenehm, ihre geistigen Ansprüche erschienen
ihm lächerlich, ihre gesellschaftlichen verdrossen ihn. Eine Dame beherrschte die
Form und verlangte Form um sich her. Bei einer Dame gab's keine Ge¬
mütlichkeit, keinen abgetropften Hemdkragen und ähnlich anmutige Nuancen
der Männlichkeit. Sich einer Dame zu fügen, sei es auch nur im Salon,
wäre dem Deutschen herabwürdigend erschienen. Eine Dame -- da nahm er
Reißaus, vor ihrem Bezirk und ihrer Geselligkeit, bis er im Bezirk der
Männer und der gemütlichen Männergeselligkeit ankam, beim Wirtshausleben.

Nun ist der Deutsche des zwanzigsten Jahrhunderts ja sicher ein ganz
anderer Mensch als sein Vater und sein Großvater. Es gibt bei uns
jetzt immerhin eine Anzahl von Leuten, die wissen, daß Form nicht Ziererei,
sondern Feinheit ist; und die Dame, die noch in den achtziger Jahren dank
der großen Woge des Naturalismus sowohl in der Literatur wie im Leben
eine verfenite Existenz führte, die Dame, oder was man dafür hält, erfreut
sich jetzt, hauptsächlich in Ästhetenkreisen, einer gewissen Beachtung. Und
da somit gewissermaßen die Vorbedingungen zu einer Geselligkeit höherer Art
gegeben scheinen, sind auch schon die Reformer eifrig am Werk, um das flaue
bißchen Geselligkeit, oder sagen wir lieber, um die Einladungen, die wir haben,
zu verbessern, zu heben und ihnen ein geistiges Gepräge zu geben. Diese
Vorschläge sind sicher alle sehr gut gemeint, beweisen aber fast allesamt, daß


Geselligkeit, Geselligkeitsfonnen und Geselligteitssurrogate

wird, haben sie wenig zu tun. Das große Geselligkeitstaleitt der Franzosen
liegt sicher nicht zuletzt in ihrem gänzlich unmusikalischen Wesen begründet.

Zur Schwerflüssigkeit und Eigenbrödelei, zur Fähigkeit und Vorliebe für
die Einsamkeit und zum Mystizismus kommen beim Deutschen noch zwei heftige
Antipathien, die gegen alle Geselligkeit sprechen. Die eine dieser Antipathien
heißt die Verachtung aller Form. Form ist für germanische Tiefgründigkeit
nur allzulange ein Synonym für Oberflächlichkeit gewesen. Form, welcher
Art sie auch sein mochte, machte ihn mißtrauisch, war den: Deutschen unbequem
und darum verhaßt. Man muß nur selbst heute noch die umständlichen Vor¬
bereitungen sehen und das Gestöhne hören, wenn der Deutsche sich ungezwungen
gesellig benehmen oder den Frack anziehen soll. Der Frack! Die aller-
bescheidenste aller Formen, ja, die kaum den Namen der Form verdient, war
durch Jahre, Jahrzehnte ein Schreckgespenst in jeden: deutschen Haus. „Frack
und weiße Binde" — wenn der Deutsche sie anlegen mußte, verging ihm alle
Laune und alle Lust. Das Feierkleid hob seine Stimmung nicht, sondern
machte ihn unfrei. Es ist noch gar nicht lange her, daß die englische Sitte,
auch beim einfachen Familienmahl sorgfältig gekleidet zu erscheinen, bei uns als
„spleenig" angesehen wurde. Bei uns zog man sich zum Essen nicht einen
guten Rock an, sondern zuweilen den schlechten noch aus. .. .

Hand in Hand mit der Antipathie gegen die Form ging die zweite
Antipathie: die Antipathie gegen die Dame. Die Dame war ungefähr dasselbe
wie der Frack; sie bedrückte den Mann und raubte ihm die Laune. Die
Erscheinung der Dame war ihm unangenehm, ihre geistigen Ansprüche erschienen
ihm lächerlich, ihre gesellschaftlichen verdrossen ihn. Eine Dame beherrschte die
Form und verlangte Form um sich her. Bei einer Dame gab's keine Ge¬
mütlichkeit, keinen abgetropften Hemdkragen und ähnlich anmutige Nuancen
der Männlichkeit. Sich einer Dame zu fügen, sei es auch nur im Salon,
wäre dem Deutschen herabwürdigend erschienen. Eine Dame — da nahm er
Reißaus, vor ihrem Bezirk und ihrer Geselligkeit, bis er im Bezirk der
Männer und der gemütlichen Männergeselligkeit ankam, beim Wirtshausleben.

Nun ist der Deutsche des zwanzigsten Jahrhunderts ja sicher ein ganz
anderer Mensch als sein Vater und sein Großvater. Es gibt bei uns
jetzt immerhin eine Anzahl von Leuten, die wissen, daß Form nicht Ziererei,
sondern Feinheit ist; und die Dame, die noch in den achtziger Jahren dank
der großen Woge des Naturalismus sowohl in der Literatur wie im Leben
eine verfenite Existenz führte, die Dame, oder was man dafür hält, erfreut
sich jetzt, hauptsächlich in Ästhetenkreisen, einer gewissen Beachtung. Und
da somit gewissermaßen die Vorbedingungen zu einer Geselligkeit höherer Art
gegeben scheinen, sind auch schon die Reformer eifrig am Werk, um das flaue
bißchen Geselligkeit, oder sagen wir lieber, um die Einladungen, die wir haben,
zu verbessern, zu heben und ihnen ein geistiges Gepräge zu geben. Diese
Vorschläge sind sicher alle sehr gut gemeint, beweisen aber fast allesamt, daß


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[0180] Geselligkeit, Geselligkeitsfonnen und Geselligteitssurrogate wird, haben sie wenig zu tun. Das große Geselligkeitstaleitt der Franzosen liegt sicher nicht zuletzt in ihrem gänzlich unmusikalischen Wesen begründet. Zur Schwerflüssigkeit und Eigenbrödelei, zur Fähigkeit und Vorliebe für die Einsamkeit und zum Mystizismus kommen beim Deutschen noch zwei heftige Antipathien, die gegen alle Geselligkeit sprechen. Die eine dieser Antipathien heißt die Verachtung aller Form. Form ist für germanische Tiefgründigkeit nur allzulange ein Synonym für Oberflächlichkeit gewesen. Form, welcher Art sie auch sein mochte, machte ihn mißtrauisch, war den: Deutschen unbequem und darum verhaßt. Man muß nur selbst heute noch die umständlichen Vor¬ bereitungen sehen und das Gestöhne hören, wenn der Deutsche sich ungezwungen gesellig benehmen oder den Frack anziehen soll. Der Frack! Die aller- bescheidenste aller Formen, ja, die kaum den Namen der Form verdient, war durch Jahre, Jahrzehnte ein Schreckgespenst in jeden: deutschen Haus. „Frack und weiße Binde" — wenn der Deutsche sie anlegen mußte, verging ihm alle Laune und alle Lust. Das Feierkleid hob seine Stimmung nicht, sondern machte ihn unfrei. Es ist noch gar nicht lange her, daß die englische Sitte, auch beim einfachen Familienmahl sorgfältig gekleidet zu erscheinen, bei uns als „spleenig" angesehen wurde. Bei uns zog man sich zum Essen nicht einen guten Rock an, sondern zuweilen den schlechten noch aus. .. . Hand in Hand mit der Antipathie gegen die Form ging die zweite Antipathie: die Antipathie gegen die Dame. Die Dame war ungefähr dasselbe wie der Frack; sie bedrückte den Mann und raubte ihm die Laune. Die Erscheinung der Dame war ihm unangenehm, ihre geistigen Ansprüche erschienen ihm lächerlich, ihre gesellschaftlichen verdrossen ihn. Eine Dame beherrschte die Form und verlangte Form um sich her. Bei einer Dame gab's keine Ge¬ mütlichkeit, keinen abgetropften Hemdkragen und ähnlich anmutige Nuancen der Männlichkeit. Sich einer Dame zu fügen, sei es auch nur im Salon, wäre dem Deutschen herabwürdigend erschienen. Eine Dame — da nahm er Reißaus, vor ihrem Bezirk und ihrer Geselligkeit, bis er im Bezirk der Männer und der gemütlichen Männergeselligkeit ankam, beim Wirtshausleben. Nun ist der Deutsche des zwanzigsten Jahrhunderts ja sicher ein ganz anderer Mensch als sein Vater und sein Großvater. Es gibt bei uns jetzt immerhin eine Anzahl von Leuten, die wissen, daß Form nicht Ziererei, sondern Feinheit ist; und die Dame, die noch in den achtziger Jahren dank der großen Woge des Naturalismus sowohl in der Literatur wie im Leben eine verfenite Existenz führte, die Dame, oder was man dafür hält, erfreut sich jetzt, hauptsächlich in Ästhetenkreisen, einer gewissen Beachtung. Und da somit gewissermaßen die Vorbedingungen zu einer Geselligkeit höherer Art gegeben scheinen, sind auch schon die Reformer eifrig am Werk, um das flaue bißchen Geselligkeit, oder sagen wir lieber, um die Einladungen, die wir haben, zu verbessern, zu heben und ihnen ein geistiges Gepräge zu geben. Diese Vorschläge sind sicher alle sehr gut gemeint, beweisen aber fast allesamt, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/180>, abgerufen am 30.12.2024.