Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Koriolan

in Koriolans Verachtung des Volkes liegt anderseits die Wahrheit, daß das
Volk als Masse kein Recht auf Rücksicht besitzt, wenn es gilt, jenen echten
Aristokratismus im Staatsleben und in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen.

Man findet überall, und nicht zum wenigsten im "Volk", anständige "Kerle",
aristokratische Naturen mit angeborener Noblesse, die genug "vornehme" Gesinnung
haben, um sich zu den "Besten" im Shakespeareschen Sinne des Aristokratismus
zählen zu dürfen. Viele Männer des "vierten Standes" würden, wenn sie
unter anderen Verhältnissen geboren und aufgewachsen und von der Vorsehung
in einen anderen Wirkungskreis gestellt wären, auch äußerlich dem Aristokratismus
einer aristokratischen Partei zur Zierde gereichen. Wenn Verachtung äußerer
Ehren Aristokratismus ist, wie uns Koriolan lehrt, sind auch sie Aristokraten.
Wenn Streberei hassen das Kennzeichen eines echten Aristokraten wie Koriolan
ist, der vom Stimmenwerben bei Gelegenheit der Konsulatswahl sagt: "'s ist
eine Rolle, die ich erröten muß zu spielen", -- besitzen auch sie diesen Charakterzug.
Wenn Aristokratismus von dem rücksichtslosen Wahrheits- und Gerechtigkeitstrieb
Koriolans beseelt ist, haben auch sie ihn. Shakespeare hat das nicht leugnen
wollen. Er hat ausdrücklich einzelne Nebenrollen in das Drama gestellt, deren
Träger aus dem "Volke" sind und jene aristokratische Gesinnung zeigen. Sie
sind gerecht genug, dem "Verächter" des Volks das Verdienst zuzugestehen, das
ihm gebührt.

Aber die Masse ist nach Shakespeare ein vielköpfiges, verächtliches Ungeheuer.
Sie ist voller Verkehrtheit, Torheit, Unsinn, Disziplinlosigkeit, Ungerechtigkeit,
Lügenhaftigkeit. Auf sie ist die Anrede Koriolans anzuwenden, die er der
römischen Bürgerschaft eutgegenschleudert:


Ihr seid nicht zuverlässiger, als die glühende
Holzkohle ans dein Eis, als Hagelkörner
Im Sonnenschein (Akt I, Sz, 1),

Erst neuerdings wieder hat man die Eigenart der Masse wissenschaftlich
untersucht. Gustave Le Bons gibt in seiner "Psychologie der Massen" (Philo¬
sophisch-soziologische Bücherei, 2. Band, Verlag Dr. W. Klinkhardt, Leipzig)
eine Erklärung der Erscheinungen, die man beobachten kann, wenn Menschen
in großen Massen zusammenwirken. Derartige Volkshaufen werden sich stets
anders verhalten als die einzelnen Menschen, aus denen sie zusammengesetzt
sind. Die Gesamtheit fühlt sich weniger verantwortlich für alles, was geschieht,
sie wird zur Nachahmung hingerissen, tut gedankenlos mit, was einige tun.
Und so ist es kein Wunder, daß bei aller Hellsehigkeit des einzelnen die Masse
blindlings und unterschiedslos Recht und Unrecht, Nützliches und Schädliches
tut, woraus dann folgt, daß ihr Rechttun selbst als Unrechttun erscheint und
das Nützliche schädlich wird.

Ein Beispiel zu diesem psychologisch eigenartigen Verhalten der Massen
gibt uns Shakespeare in der Politik der beiden Volkstribunen Sicinius und
Brutus, von denen es heißt, "sie seien die Zungen des großen Mauls". Der


Koriolan

in Koriolans Verachtung des Volkes liegt anderseits die Wahrheit, daß das
Volk als Masse kein Recht auf Rücksicht besitzt, wenn es gilt, jenen echten
Aristokratismus im Staatsleben und in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen.

Man findet überall, und nicht zum wenigsten im „Volk", anständige „Kerle",
aristokratische Naturen mit angeborener Noblesse, die genug „vornehme" Gesinnung
haben, um sich zu den „Besten" im Shakespeareschen Sinne des Aristokratismus
zählen zu dürfen. Viele Männer des „vierten Standes" würden, wenn sie
unter anderen Verhältnissen geboren und aufgewachsen und von der Vorsehung
in einen anderen Wirkungskreis gestellt wären, auch äußerlich dem Aristokratismus
einer aristokratischen Partei zur Zierde gereichen. Wenn Verachtung äußerer
Ehren Aristokratismus ist, wie uns Koriolan lehrt, sind auch sie Aristokraten.
Wenn Streberei hassen das Kennzeichen eines echten Aristokraten wie Koriolan
ist, der vom Stimmenwerben bei Gelegenheit der Konsulatswahl sagt: „'s ist
eine Rolle, die ich erröten muß zu spielen", — besitzen auch sie diesen Charakterzug.
Wenn Aristokratismus von dem rücksichtslosen Wahrheits- und Gerechtigkeitstrieb
Koriolans beseelt ist, haben auch sie ihn. Shakespeare hat das nicht leugnen
wollen. Er hat ausdrücklich einzelne Nebenrollen in das Drama gestellt, deren
Träger aus dem „Volke" sind und jene aristokratische Gesinnung zeigen. Sie
sind gerecht genug, dem „Verächter" des Volks das Verdienst zuzugestehen, das
ihm gebührt.

Aber die Masse ist nach Shakespeare ein vielköpfiges, verächtliches Ungeheuer.
Sie ist voller Verkehrtheit, Torheit, Unsinn, Disziplinlosigkeit, Ungerechtigkeit,
Lügenhaftigkeit. Auf sie ist die Anrede Koriolans anzuwenden, die er der
römischen Bürgerschaft eutgegenschleudert:


Ihr seid nicht zuverlässiger, als die glühende
Holzkohle ans dein Eis, als Hagelkörner
Im Sonnenschein (Akt I, Sz, 1),

Erst neuerdings wieder hat man die Eigenart der Masse wissenschaftlich
untersucht. Gustave Le Bons gibt in seiner „Psychologie der Massen" (Philo¬
sophisch-soziologische Bücherei, 2. Band, Verlag Dr. W. Klinkhardt, Leipzig)
eine Erklärung der Erscheinungen, die man beobachten kann, wenn Menschen
in großen Massen zusammenwirken. Derartige Volkshaufen werden sich stets
anders verhalten als die einzelnen Menschen, aus denen sie zusammengesetzt
sind. Die Gesamtheit fühlt sich weniger verantwortlich für alles, was geschieht,
sie wird zur Nachahmung hingerissen, tut gedankenlos mit, was einige tun.
Und so ist es kein Wunder, daß bei aller Hellsehigkeit des einzelnen die Masse
blindlings und unterschiedslos Recht und Unrecht, Nützliches und Schädliches
tut, woraus dann folgt, daß ihr Rechttun selbst als Unrechttun erscheint und
das Nützliche schädlich wird.

Ein Beispiel zu diesem psychologisch eigenartigen Verhalten der Massen
gibt uns Shakespeare in der Politik der beiden Volkstribunen Sicinius und
Brutus, von denen es heißt, „sie seien die Zungen des großen Mauls". Der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317631"/>
          <fw type="header" place="top"> Koriolan</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_47" prev="#ID_46"> in Koriolans Verachtung des Volkes liegt anderseits die Wahrheit, daß das<lb/>
Volk als Masse kein Recht auf Rücksicht besitzt, wenn es gilt, jenen echten<lb/>
Aristokratismus im Staatsleben und in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_48"> Man findet überall, und nicht zum wenigsten im &#x201E;Volk", anständige &#x201E;Kerle",<lb/>
aristokratische Naturen mit angeborener Noblesse, die genug &#x201E;vornehme" Gesinnung<lb/>
haben, um sich zu den &#x201E;Besten" im Shakespeareschen Sinne des Aristokratismus<lb/>
zählen zu dürfen. Viele Männer des &#x201E;vierten Standes" würden, wenn sie<lb/>
unter anderen Verhältnissen geboren und aufgewachsen und von der Vorsehung<lb/>
in einen anderen Wirkungskreis gestellt wären, auch äußerlich dem Aristokratismus<lb/>
einer aristokratischen Partei zur Zierde gereichen. Wenn Verachtung äußerer<lb/>
Ehren Aristokratismus ist, wie uns Koriolan lehrt, sind auch sie Aristokraten.<lb/>
Wenn Streberei hassen das Kennzeichen eines echten Aristokraten wie Koriolan<lb/>
ist, der vom Stimmenwerben bei Gelegenheit der Konsulatswahl sagt: &#x201E;'s ist<lb/>
eine Rolle, die ich erröten muß zu spielen", &#x2014; besitzen auch sie diesen Charakterzug.<lb/>
Wenn Aristokratismus von dem rücksichtslosen Wahrheits- und Gerechtigkeitstrieb<lb/>
Koriolans beseelt ist, haben auch sie ihn. Shakespeare hat das nicht leugnen<lb/>
wollen. Er hat ausdrücklich einzelne Nebenrollen in das Drama gestellt, deren<lb/>
Träger aus dem &#x201E;Volke" sind und jene aristokratische Gesinnung zeigen. Sie<lb/>
sind gerecht genug, dem &#x201E;Verächter" des Volks das Verdienst zuzugestehen, das<lb/>
ihm gebührt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_49"> Aber die Masse ist nach Shakespeare ein vielköpfiges, verächtliches Ungeheuer.<lb/>
Sie ist voller Verkehrtheit, Torheit, Unsinn, Disziplinlosigkeit, Ungerechtigkeit,<lb/>
Lügenhaftigkeit. Auf sie ist die Anrede Koriolans anzuwenden, die er der<lb/>
römischen Bürgerschaft eutgegenschleudert:</p><lb/>
          <quote> Ihr seid nicht zuverlässiger, als die glühende<lb/>
Holzkohle ans dein Eis, als Hagelkörner<lb/>
Im Sonnenschein (Akt I, Sz, 1),</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_50"> Erst neuerdings wieder hat man die Eigenart der Masse wissenschaftlich<lb/>
untersucht. Gustave Le Bons gibt in seiner &#x201E;Psychologie der Massen" (Philo¬<lb/>
sophisch-soziologische Bücherei, 2. Band, Verlag Dr. W. Klinkhardt, Leipzig)<lb/>
eine Erklärung der Erscheinungen, die man beobachten kann, wenn Menschen<lb/>
in großen Massen zusammenwirken. Derartige Volkshaufen werden sich stets<lb/>
anders verhalten als die einzelnen Menschen, aus denen sie zusammengesetzt<lb/>
sind. Die Gesamtheit fühlt sich weniger verantwortlich für alles, was geschieht,<lb/>
sie wird zur Nachahmung hingerissen, tut gedankenlos mit, was einige tun.<lb/>
Und so ist es kein Wunder, daß bei aller Hellsehigkeit des einzelnen die Masse<lb/>
blindlings und unterschiedslos Recht und Unrecht, Nützliches und Schädliches<lb/>
tut, woraus dann folgt, daß ihr Rechttun selbst als Unrechttun erscheint und<lb/>
das Nützliche schädlich wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_51" next="#ID_52"> Ein Beispiel zu diesem psychologisch eigenartigen Verhalten der Massen<lb/>
gibt uns Shakespeare in der Politik der beiden Volkstribunen Sicinius und<lb/>
Brutus, von denen es heißt, &#x201E;sie seien die Zungen des großen Mauls". Der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0018] Koriolan in Koriolans Verachtung des Volkes liegt anderseits die Wahrheit, daß das Volk als Masse kein Recht auf Rücksicht besitzt, wenn es gilt, jenen echten Aristokratismus im Staatsleben und in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Man findet überall, und nicht zum wenigsten im „Volk", anständige „Kerle", aristokratische Naturen mit angeborener Noblesse, die genug „vornehme" Gesinnung haben, um sich zu den „Besten" im Shakespeareschen Sinne des Aristokratismus zählen zu dürfen. Viele Männer des „vierten Standes" würden, wenn sie unter anderen Verhältnissen geboren und aufgewachsen und von der Vorsehung in einen anderen Wirkungskreis gestellt wären, auch äußerlich dem Aristokratismus einer aristokratischen Partei zur Zierde gereichen. Wenn Verachtung äußerer Ehren Aristokratismus ist, wie uns Koriolan lehrt, sind auch sie Aristokraten. Wenn Streberei hassen das Kennzeichen eines echten Aristokraten wie Koriolan ist, der vom Stimmenwerben bei Gelegenheit der Konsulatswahl sagt: „'s ist eine Rolle, die ich erröten muß zu spielen", — besitzen auch sie diesen Charakterzug. Wenn Aristokratismus von dem rücksichtslosen Wahrheits- und Gerechtigkeitstrieb Koriolans beseelt ist, haben auch sie ihn. Shakespeare hat das nicht leugnen wollen. Er hat ausdrücklich einzelne Nebenrollen in das Drama gestellt, deren Träger aus dem „Volke" sind und jene aristokratische Gesinnung zeigen. Sie sind gerecht genug, dem „Verächter" des Volks das Verdienst zuzugestehen, das ihm gebührt. Aber die Masse ist nach Shakespeare ein vielköpfiges, verächtliches Ungeheuer. Sie ist voller Verkehrtheit, Torheit, Unsinn, Disziplinlosigkeit, Ungerechtigkeit, Lügenhaftigkeit. Auf sie ist die Anrede Koriolans anzuwenden, die er der römischen Bürgerschaft eutgegenschleudert: Ihr seid nicht zuverlässiger, als die glühende Holzkohle ans dein Eis, als Hagelkörner Im Sonnenschein (Akt I, Sz, 1), Erst neuerdings wieder hat man die Eigenart der Masse wissenschaftlich untersucht. Gustave Le Bons gibt in seiner „Psychologie der Massen" (Philo¬ sophisch-soziologische Bücherei, 2. Band, Verlag Dr. W. Klinkhardt, Leipzig) eine Erklärung der Erscheinungen, die man beobachten kann, wenn Menschen in großen Massen zusammenwirken. Derartige Volkshaufen werden sich stets anders verhalten als die einzelnen Menschen, aus denen sie zusammengesetzt sind. Die Gesamtheit fühlt sich weniger verantwortlich für alles, was geschieht, sie wird zur Nachahmung hingerissen, tut gedankenlos mit, was einige tun. Und so ist es kein Wunder, daß bei aller Hellsehigkeit des einzelnen die Masse blindlings und unterschiedslos Recht und Unrecht, Nützliches und Schädliches tut, woraus dann folgt, daß ihr Rechttun selbst als Unrechttun erscheint und das Nützliche schädlich wird. Ein Beispiel zu diesem psychologisch eigenartigen Verhalten der Massen gibt uns Shakespeare in der Politik der beiden Volkstribunen Sicinius und Brutus, von denen es heißt, „sie seien die Zungen des großen Mauls". Der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/18
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/18>, abgerufen am 24.07.2024.