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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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hat. Diese Tatsache bleibt auch da offenbar, wo nach allgemeiner Ansicht der
Mensch sich recht energisch von der Gesellschaft abwendet, um nur sich und dem
Wesen seiner Wahl zu leben, in der Liebe des Mannes zum Weibe. Es sei
nur erinnert an Romeo und Julia, an Troilus und Kressida, an die Liebes¬
paare in den Lustspielen. Die Lustspiele sind überhaupt recht lehrreich für die
Erkenntnis des politischen Charakters der Shakespeareschen Schöpfungen. Und
es liegt die Vermutung nahe, das; Tolstoi, der Shakespeare als Aristokraten
haßt, sich in der Richtung seines Hasses ein wenig irrt. Die politische Kultur
zu Shakespeares Zeiten ist es, die dem russischen Sozialpolitiker nicht
schmackhaft erscheint, und die in Shakespeares Dramen eine der geheimen
Kräfte und starken Unterströmungen ist, nach denen die dramatischen Gestalten
gelenkt werden.

Shakespeare läßt uns in seinen Dramen gerade von den: politischen Zustand
seiner Zeit ein klares Bild entstehen. Er hat dazu Farben gemischt, wie nur
das Genie sie mischen kann. Der politische Zustand seiner Zeit ist uns vertraut,
denn er ist dem Zustand unserer Zeit verwandt. Die Menschentypen, die er
geschaffen, unter uns in ihren politischen Handlungen und Empfindungen an
wie unsere Zeitgenossen, allerdings ins Große und manchmal ins Ungeheuere
gebildet. So erscheint uns dieser Poet als der modernste der Modernen, so ist
er -- "aktuell", und zwar gerade auch in bezug auf eine besondere Frage der
Politik, die in neuester Zeit bedeutungsvoll geworden ist.

Es wird behauptet, wir lebten in einem demokratischen Zeitalter. Und in
der Tat hat sich die Zahl der Anhänger der demokratischen Weltanschauung
überraschend vermehrt, wie denn auch viele ihrer Forderungen sich durchgesetzt
und gesetzliche Anerkennung gefunden haben. Bei jeder neuen Reichstagswahl
macht sie sich geltend. Sie hat einige ihrer Grundsätze selbst bei den Parteien
zur Geltung gebracht, die sie als ihre Erbfeindin bekämpfen. Es ist aus¬
geschlossen, daß ein Aristokrat in den Reichstag gewählt würde, wenn er den
Grundsätzen der Demokratie keine Konzessionen machen wollte. Liegt doch
schon darin das erste entscheidende Zugeständnis, daß er sich überhaupt als
Reichstagskandidat aufstellen läßt.

Dazu kommt, daß Ereignisse, die sich in jüngster Zeit abgespielt haben,
die Aufwärtsbewegung der Demokratie zu bestätigen scheinen: die Revolution
in Portugal, der Generalstreik der Eisenbahner in Frankreich, die Straßentumulte
in der Reichshauptstadt. Aber dieser Weltanschauung steht auch heute noch
lebendig und lebenskräftig die des Aristokratismus gegenüber, die ihre Berechtigung
schon darin zeigt, daß ihre Anhänger selbst in den radikalsten Parteien der
Linken, ob sie es auch nicht zugestehen wollen, zu finden sind.

Shakespeare hat die Frage nach dem Werte und dem Vorzuge einer
aristokratischen oder demokratischen Weltanschauung mehrfach behandelt. Es sei nur
erinnert an "Julius Cäsar" und an die Volksszenen dieses Dramas, ferner an
die geniale Darstellung der Rebellion Hans Katch in "König Heinrich dem


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hat. Diese Tatsache bleibt auch da offenbar, wo nach allgemeiner Ansicht der
Mensch sich recht energisch von der Gesellschaft abwendet, um nur sich und dem
Wesen seiner Wahl zu leben, in der Liebe des Mannes zum Weibe. Es sei
nur erinnert an Romeo und Julia, an Troilus und Kressida, an die Liebes¬
paare in den Lustspielen. Die Lustspiele sind überhaupt recht lehrreich für die
Erkenntnis des politischen Charakters der Shakespeareschen Schöpfungen. Und
es liegt die Vermutung nahe, das; Tolstoi, der Shakespeare als Aristokraten
haßt, sich in der Richtung seines Hasses ein wenig irrt. Die politische Kultur
zu Shakespeares Zeiten ist es, die dem russischen Sozialpolitiker nicht
schmackhaft erscheint, und die in Shakespeares Dramen eine der geheimen
Kräfte und starken Unterströmungen ist, nach denen die dramatischen Gestalten
gelenkt werden.

Shakespeare läßt uns in seinen Dramen gerade von den: politischen Zustand
seiner Zeit ein klares Bild entstehen. Er hat dazu Farben gemischt, wie nur
das Genie sie mischen kann. Der politische Zustand seiner Zeit ist uns vertraut,
denn er ist dem Zustand unserer Zeit verwandt. Die Menschentypen, die er
geschaffen, unter uns in ihren politischen Handlungen und Empfindungen an
wie unsere Zeitgenossen, allerdings ins Große und manchmal ins Ungeheuere
gebildet. So erscheint uns dieser Poet als der modernste der Modernen, so ist
er — „aktuell", und zwar gerade auch in bezug auf eine besondere Frage der
Politik, die in neuester Zeit bedeutungsvoll geworden ist.

Es wird behauptet, wir lebten in einem demokratischen Zeitalter. Und in
der Tat hat sich die Zahl der Anhänger der demokratischen Weltanschauung
überraschend vermehrt, wie denn auch viele ihrer Forderungen sich durchgesetzt
und gesetzliche Anerkennung gefunden haben. Bei jeder neuen Reichstagswahl
macht sie sich geltend. Sie hat einige ihrer Grundsätze selbst bei den Parteien
zur Geltung gebracht, die sie als ihre Erbfeindin bekämpfen. Es ist aus¬
geschlossen, daß ein Aristokrat in den Reichstag gewählt würde, wenn er den
Grundsätzen der Demokratie keine Konzessionen machen wollte. Liegt doch
schon darin das erste entscheidende Zugeständnis, daß er sich überhaupt als
Reichstagskandidat aufstellen läßt.

Dazu kommt, daß Ereignisse, die sich in jüngster Zeit abgespielt haben,
die Aufwärtsbewegung der Demokratie zu bestätigen scheinen: die Revolution
in Portugal, der Generalstreik der Eisenbahner in Frankreich, die Straßentumulte
in der Reichshauptstadt. Aber dieser Weltanschauung steht auch heute noch
lebendig und lebenskräftig die des Aristokratismus gegenüber, die ihre Berechtigung
schon darin zeigt, daß ihre Anhänger selbst in den radikalsten Parteien der
Linken, ob sie es auch nicht zugestehen wollen, zu finden sind.

Shakespeare hat die Frage nach dem Werte und dem Vorzuge einer
aristokratischen oder demokratischen Weltanschauung mehrfach behandelt. Es sei nur
erinnert an „Julius Cäsar" und an die Volksszenen dieses Dramas, ferner an
die geniale Darstellung der Rebellion Hans Katch in „König Heinrich dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/16>, abgerufen am 24.07.2024.