Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.Marokkanischer Brief eines spanischen Anarchistenattentats nicht ausgeschlossen schien, denn Tanger ist Als das Kaisergeschwader nachmittags Tanger wieder verlassen hatte, herrschte Was wird diese Aussprache bringen, Krieg oder Frieden? war die bange Marokkanischer Brief eines spanischen Anarchistenattentats nicht ausgeschlossen schien, denn Tanger ist Als das Kaisergeschwader nachmittags Tanger wieder verlassen hatte, herrschte Was wird diese Aussprache bringen, Krieg oder Frieden? war die bange <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0144" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317757"/> <fw type="header" place="top"> Marokkanischer Brief</fw><lb/> <p xml:id="ID_640" prev="#ID_639"> eines spanischen Anarchistenattentats nicht ausgeschlossen schien, denn Tanger ist<lb/> ein beliebter Zufluchtsort für solche spanischen Elemente, denen der Boden<lb/> diesseits der Meerenge aus irgendwelchen Gründen zu heiß mürb.</p><lb/> <p xml:id="ID_641"> Als das Kaisergeschwader nachmittags Tanger wieder verlassen hatte, herrschte<lb/> in der Stadt unbeschreibliche Aufregung; besonders die marokkanische Bevölkerung<lb/> hatte die politische Bedeutung des Kaiserbesuches sehr schnell erfaßt und dem<lb/> Kaiser als dem „Sultan del Pruß" mit ungeheuer Begeisterung zugejubelt.<lb/> Die Nachricht von dem Ereignis verbreitete sich mit Windeseile durch das<lb/> ganze Land, und als Deutscher kounte man jetzt getrost und ungefährdet in<lb/> Gegenden eindringen, die sonst selten eines Europäers Fuß betreten hatte.<lb/> Natürlich waren sich wohl nur die wenigsten dessen bewußt, daß die Kaiserfahrt<lb/> nach Tanger nicht in erster Linie der Unabhängigkeit des Scherifenreiches und<lb/> der Verteidigung der dortigen deutschen Interessen dienen sollte; hierfür hätte<lb/> es eines Kaiserbesuchs nicht bedurftI Der wahre Zweck war vielmehr der, durch<lb/> eine unerschrockene und imposante Kundgebung der Welt unzweideutig zu erklären,<lb/> daß Deutschland nicht gesonnen war, sich durch die neue Koalition von seinem<lb/> Platz an der Sonne verdrängen zu lassen. So wurde die marokkanische Frage<lb/> der Anlaß — nicht etwa die Ursache — zu einer durch die neue Gruppierung<lb/> der Mächte und die DelcaMche Provokationspolitik heraufbeschworenen ernsten<lb/> Aussprache über die neue internationale Lage!</p><lb/> <p xml:id="ID_642" next="#ID_643"> Was wird diese Aussprache bringen, Krieg oder Frieden? war die bange<lb/> Frage. — Wird die westliche Koalition mächtig genug sein, Europa ihren<lb/> Willen zu diktieren, oder wird Deutschland, nötigenfalls allein, die Kraft haben,<lb/> das europäische Gleichgewicht zu wahren? — Nach langen Wochen und Monaten,<lb/> in denen das Schwert schon halb aus der Scheide gezogen war, gelang es der<lb/> deutschen Politik, die Gegner auf den völkerrechtlichen Boden der Madrider<lb/> Konvention zurückzuzwingen; die Weststaaten entschlossen sich, wenn auch nur<lb/> widerwillig, zum Gang nach Algeciras. Dies bedeutete unbestreitbar einen<lb/> außerordentlichen Erfolg der kaiserlichen Politik, denn England und Frankreich<lb/> gaben damit zu, daß die marokkanischen Angelegenheiten nur international,<lb/> nicht aber einseitig zwischen drei Mächten uuter Ausschluß der übrigen Kontrahenten<lb/> der Madrider Konvention geregelt werden konnten. Freilich war dieser große<lb/> Erfolg zunächst nur ein formeller; dahinter erhob sich die Frage, ob die<lb/> Gruppierung der Mächte auf der Konferenz das Übergewicht der Weststaaten<lb/> bestätigen würde oder nicht; allein mit der Bereitwilligkeit der Mächte, nach<lb/> Algeciras zu gehen, war sür Deutschland im wesentlichen zunächst ein Appell<lb/> an die Waffen unnötig geworden, denn mit der Konferenz war die ganze Frage<lb/> von der internationalen mehr auf die rein nmrokkanische Basis gerückt worden.<lb/> Daß auch diese noch reichlich Gefahren in sich barg, wurde recht drastisch durch<lb/> eine Ansichtskarte illustriert, die seinerzeit in Algeciras verkauft, aber bald<lb/> konfisziert worden war. Eine sogenannte Wippe, wie sie Kinder zum Schaukeln<lb/> benutzen, ruht in ihrer Mitte auf dem gekrümmten Rücken des an der Erde</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0144]
Marokkanischer Brief
eines spanischen Anarchistenattentats nicht ausgeschlossen schien, denn Tanger ist
ein beliebter Zufluchtsort für solche spanischen Elemente, denen der Boden
diesseits der Meerenge aus irgendwelchen Gründen zu heiß mürb.
Als das Kaisergeschwader nachmittags Tanger wieder verlassen hatte, herrschte
in der Stadt unbeschreibliche Aufregung; besonders die marokkanische Bevölkerung
hatte die politische Bedeutung des Kaiserbesuches sehr schnell erfaßt und dem
Kaiser als dem „Sultan del Pruß" mit ungeheuer Begeisterung zugejubelt.
Die Nachricht von dem Ereignis verbreitete sich mit Windeseile durch das
ganze Land, und als Deutscher kounte man jetzt getrost und ungefährdet in
Gegenden eindringen, die sonst selten eines Europäers Fuß betreten hatte.
Natürlich waren sich wohl nur die wenigsten dessen bewußt, daß die Kaiserfahrt
nach Tanger nicht in erster Linie der Unabhängigkeit des Scherifenreiches und
der Verteidigung der dortigen deutschen Interessen dienen sollte; hierfür hätte
es eines Kaiserbesuchs nicht bedurftI Der wahre Zweck war vielmehr der, durch
eine unerschrockene und imposante Kundgebung der Welt unzweideutig zu erklären,
daß Deutschland nicht gesonnen war, sich durch die neue Koalition von seinem
Platz an der Sonne verdrängen zu lassen. So wurde die marokkanische Frage
der Anlaß — nicht etwa die Ursache — zu einer durch die neue Gruppierung
der Mächte und die DelcaMche Provokationspolitik heraufbeschworenen ernsten
Aussprache über die neue internationale Lage!
Was wird diese Aussprache bringen, Krieg oder Frieden? war die bange
Frage. — Wird die westliche Koalition mächtig genug sein, Europa ihren
Willen zu diktieren, oder wird Deutschland, nötigenfalls allein, die Kraft haben,
das europäische Gleichgewicht zu wahren? — Nach langen Wochen und Monaten,
in denen das Schwert schon halb aus der Scheide gezogen war, gelang es der
deutschen Politik, die Gegner auf den völkerrechtlichen Boden der Madrider
Konvention zurückzuzwingen; die Weststaaten entschlossen sich, wenn auch nur
widerwillig, zum Gang nach Algeciras. Dies bedeutete unbestreitbar einen
außerordentlichen Erfolg der kaiserlichen Politik, denn England und Frankreich
gaben damit zu, daß die marokkanischen Angelegenheiten nur international,
nicht aber einseitig zwischen drei Mächten uuter Ausschluß der übrigen Kontrahenten
der Madrider Konvention geregelt werden konnten. Freilich war dieser große
Erfolg zunächst nur ein formeller; dahinter erhob sich die Frage, ob die
Gruppierung der Mächte auf der Konferenz das Übergewicht der Weststaaten
bestätigen würde oder nicht; allein mit der Bereitwilligkeit der Mächte, nach
Algeciras zu gehen, war sür Deutschland im wesentlichen zunächst ein Appell
an die Waffen unnötig geworden, denn mit der Konferenz war die ganze Frage
von der internationalen mehr auf die rein nmrokkanische Basis gerückt worden.
Daß auch diese noch reichlich Gefahren in sich barg, wurde recht drastisch durch
eine Ansichtskarte illustriert, die seinerzeit in Algeciras verkauft, aber bald
konfisziert worden war. Eine sogenannte Wippe, wie sie Kinder zum Schaukeln
benutzen, ruht in ihrer Mitte auf dem gekrümmten Rücken des an der Erde
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