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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühneiikunst in den letzten zwanzig Jahren

kostbarkeiten der Reinhardt-Regie in allen Ehren! Aber von dieser Seite ist
eine Versöhnung zwischen der durchgerüttelten Skepsis des Modernen und der
edlen Stilisiertheit des Klassischen vorderhand nicht zu erhoffen. Reinhardts
Größe liegt in der künstlerischen Kleinarbeit. Das haben wir oben ausgeführt.
Vorbildlich bleibt er da, wo er literarhistorische Stilscherze (hier spricht die
Erinnerung ans Überbrettl mit) sür die Menschen von heutzutage umschafft, wo
ein menschliches und künstlerisches "Über-der-Sache-Stehen" die erste Vorbedingung
für den Erfolg ist. Wir erinnern hier uur an seine mit prachtvoller Laune zum
Leben erweckten Shakespeareschen Lustspiele oder auch an seine Possenabende, denen
er durch eine bewußt ulkige Verzerrung ein gänzlich neues Aussehen gab. (Auf
diesem Gebiete hat er übrigens, soweit wir sehen, schon heute eine Reihe talent¬
voller Nachahmer gefunden.) Aber wenn seine vor Nuancen förmlich bebende Kraft
um das "große, gigantische Schicksal" Shakespearescher Trauerspiele ringt, muß
jeder Ernsthafte einen Schritt zurücktreten und seinen abweichenden Standpunkt
mit Entschiedenheit betonen.

Eine zweite Schattenseite der Reinhardtschen Mannigfaltigkeit muß in diesen:
Zusammenhange noch gestreift werden. Das gar zu bereitwillige Reagieren auf
Zeitströmungen hat diesen Theaterdirektor auf Abwege geführt, die er besser
niemals betreten hätte. Daß Max Reinhardt heute zum Modegötzen des
mondänen Berlin geworden ist, hat seinen Grund weniger in seinen wirklich
ernsthaften Eigenschaften, als vielmehr darin, daß er modischen und snobistischen
Firlefanzereien gar zu oft sein Ohr geliehen hat. Die auf der deutschen Bühne
schon bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Ausländerei hat er unterstützen zu müssen
geglaubt. Den widerwärtigen Ästhetenlaunen Wiens hat er ein gastliches Heult
bereitet. Immer in dem Drange, künstlerisches Neuland zu finden, hat er ferner
hier und da das nötige Rückgrat und das nötige Taktgefühl vermissen lassen, und
mehr als einmal hat er den Dichter vergewaltigt, um den Regisseur und den Bühnen¬
maler an seine Stelle zu setzen. So hat schließlich sein Ehrgeiz den Bogen zu
straff gespannt, die dichterische Absicht zugunsten des Dekorativen verdunkelt, zu
verschrobenen Deutungsversuchen sich herbeigelassen und dein Nebensächlichen eine
unerlaubte Wichtigkeit beigelegt.

Aber seine überragende künstlerische Bedeutung für die Bühne der Gegen¬
wart kann durch solche Ausstellungen nicht herabgemindert werden. Auch diesem
Regietalente sind natürliche Grenzen gesetzt. Und kritiklose Lobhudelei wäre hier
ebenso verfehlt wie ein einseitiges Herausheben des Anfechtbaren. In der
artistisch selbstherrlichen Genießerfreude des Regisseurs liegt Großes und Kleines,
sie birgt augenfälligen Fortschritt und bedenkliche Gefahren. Max Reinhardt
ist den Gefahren nicht aus dem Wege gegangen und ihnen oft genug unterlegen.
Aber er hat sich ebensooft als den berufensten Organisator der modernen Bühne
erwiesen. Er ist der geschworene Feind alles Stillstehens und aller Philiströsität,
und er bedeutet schon als solcher einen gar nicht zu ersetzenden Besitz für das
Theater der Gegenwart.


Grenzboten I 1911 16
Deutsche Bühneiikunst in den letzten zwanzig Jahren

kostbarkeiten der Reinhardt-Regie in allen Ehren! Aber von dieser Seite ist
eine Versöhnung zwischen der durchgerüttelten Skepsis des Modernen und der
edlen Stilisiertheit des Klassischen vorderhand nicht zu erhoffen. Reinhardts
Größe liegt in der künstlerischen Kleinarbeit. Das haben wir oben ausgeführt.
Vorbildlich bleibt er da, wo er literarhistorische Stilscherze (hier spricht die
Erinnerung ans Überbrettl mit) sür die Menschen von heutzutage umschafft, wo
ein menschliches und künstlerisches „Über-der-Sache-Stehen" die erste Vorbedingung
für den Erfolg ist. Wir erinnern hier uur an seine mit prachtvoller Laune zum
Leben erweckten Shakespeareschen Lustspiele oder auch an seine Possenabende, denen
er durch eine bewußt ulkige Verzerrung ein gänzlich neues Aussehen gab. (Auf
diesem Gebiete hat er übrigens, soweit wir sehen, schon heute eine Reihe talent¬
voller Nachahmer gefunden.) Aber wenn seine vor Nuancen förmlich bebende Kraft
um das „große, gigantische Schicksal" Shakespearescher Trauerspiele ringt, muß
jeder Ernsthafte einen Schritt zurücktreten und seinen abweichenden Standpunkt
mit Entschiedenheit betonen.

Eine zweite Schattenseite der Reinhardtschen Mannigfaltigkeit muß in diesen:
Zusammenhange noch gestreift werden. Das gar zu bereitwillige Reagieren auf
Zeitströmungen hat diesen Theaterdirektor auf Abwege geführt, die er besser
niemals betreten hätte. Daß Max Reinhardt heute zum Modegötzen des
mondänen Berlin geworden ist, hat seinen Grund weniger in seinen wirklich
ernsthaften Eigenschaften, als vielmehr darin, daß er modischen und snobistischen
Firlefanzereien gar zu oft sein Ohr geliehen hat. Die auf der deutschen Bühne
schon bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Ausländerei hat er unterstützen zu müssen
geglaubt. Den widerwärtigen Ästhetenlaunen Wiens hat er ein gastliches Heult
bereitet. Immer in dem Drange, künstlerisches Neuland zu finden, hat er ferner
hier und da das nötige Rückgrat und das nötige Taktgefühl vermissen lassen, und
mehr als einmal hat er den Dichter vergewaltigt, um den Regisseur und den Bühnen¬
maler an seine Stelle zu setzen. So hat schließlich sein Ehrgeiz den Bogen zu
straff gespannt, die dichterische Absicht zugunsten des Dekorativen verdunkelt, zu
verschrobenen Deutungsversuchen sich herbeigelassen und dein Nebensächlichen eine
unerlaubte Wichtigkeit beigelegt.

Aber seine überragende künstlerische Bedeutung für die Bühne der Gegen¬
wart kann durch solche Ausstellungen nicht herabgemindert werden. Auch diesem
Regietalente sind natürliche Grenzen gesetzt. Und kritiklose Lobhudelei wäre hier
ebenso verfehlt wie ein einseitiges Herausheben des Anfechtbaren. In der
artistisch selbstherrlichen Genießerfreude des Regisseurs liegt Großes und Kleines,
sie birgt augenfälligen Fortschritt und bedenkliche Gefahren. Max Reinhardt
ist den Gefahren nicht aus dem Wege gegangen und ihnen oft genug unterlegen.
Aber er hat sich ebensooft als den berufensten Organisator der modernen Bühne
erwiesen. Er ist der geschworene Feind alles Stillstehens und aller Philiströsität,
und er bedeutet schon als solcher einen gar nicht zu ersetzenden Besitz für das
Theater der Gegenwart.


Grenzboten I 1911 16
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/135>, abgerufen am 24.07.2024.