Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Kunst unseres Zeitalters ahnen. E. T. A. Hoffmann und Achin v. Arnim
waren Mode geworden. Die deutsche Romantik schien wieder erwacht.

In den Dienst dieser Zeitströmungen trat nun das auf intime Wirkungen
gestellte künstlerische Brettl, dessen Gründer fessellosen Künstlerhumor, scharf¬
äugige Intelligenz, durchgerüttelte Skepsis und schmiegsame Nachempfindungs¬
fähigkeit vereinigten. Die Bewegung als solche, deren ernsthaften Kern man
nicht verkennen kann, ist durch geschäftstüchtige Ausbeuter und skrupellose Nach¬
ahmer leider sehr bald herabgewürdigt und in Verruf gebracht worden. Sie
lebt heilte noch fort in der höchst unerfreulichen Erscheinung jener großstädtischen
Kabaretts, die sich in: wesentlichen darauf beschränken, eine mehr oder weniger
elegante Halbwelt mit plumpen Zoten zu füttern. Die geistigen Väter des
Überbrettls sind heute die ersten, die sich vor den: entarteten Kinde bekreuzigen.
Denn das, was sie davon erträumt, war ernsthaft und wertvoll und hatte mit
Frivolität ganz und gar nichts zu tun. Das Wolzogen-Theater in Berlin, die
Zickelsche Sezessionsbühne, vor allen Dingen aber das entzückend intime Künstler¬
brettl der "Elf Scharfrichter" in München sind nichr als ein müßiger Künstler¬
scherz gewesen. Ihre Arbeit war nicht umsonst. Denn aus ihrem Lager kam
dem deutschen Theater der neue große Anreger und Weiterbildner, nach dem
die veränderte Situation so stürmisch verlangte.

Der Anreger hieß Max Reinhardt und war ein Schauspieler aus dem
Ibsen-Ensemble Otto Brechens. Das übermütige Künstlerbrettl, das er mit einem
Häuflein Gleichgesinnter unter dem Namen "Schall und Rauch" zu Berlin ins
Leben rief, war der Ausgangspunkt einer neuen theatergeschichtlichen Epoche.
Wie der Name Otto Brahm dem Jahrzehnt von 1890 bis 1900 die Signatur
gegeben hatte, so der Name Max Reinhardt den: folgenden Dezennium. Wieder
war es Berlin, das die Entwicklung, den Fortschritt brachte. Wieder mußten
sich Wien und München und Dresden und alle anderen deutschen Städte der
natürlichen Vorherrschaft des gern etwas verachteten Spreeathens unterwerfen.

Die zeitgeschichtliche Bedeutung Max Reinhardts ist für den Chronisten nicht
ganz einfach zu fassen*). Die Aktualität, die ihm noch heute anhaftet, verbietet
eine ruhige kritische Würdigung ganz von selbst. Die Wirksamkeit Otto Brahms
als Literat und als Theaterdirektor gehört schon längst der Geschichte. Er selbst
hat den Strich unter die Rechnung gemacht und die Bilanz seines Lebens gezogen.
Max Reinhardt dagegen ist noch immer die leibhaftige Gegenwart, zu der uns
jede, aber auch jede Distanz fehlt. Ein Feld unbegrenzter Möglichkeiten
sozusagen, das im besten Falle Prophezeiungen und Sympathieerklürungen, niemals
aber grundlegende Endurteile zuläßt.

Vielleicht fassen wir die Werte, die er in sich verkörpert, am besten so:
In einer Zeit verdächtiger Stagnation wurde er der Sprecher der Jugend, die
mit neuen geheimnisvollen Schätzen beladen an den Türen des deutschen Theaters



") Einen derartigen Versuch hat ganz neuerdings Siegfried Jakobsohn in seinein Buche
"Max Reinhardt" (bei Erich Reiß, Berlin) gemacht.
Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Kunst unseres Zeitalters ahnen. E. T. A. Hoffmann und Achin v. Arnim
waren Mode geworden. Die deutsche Romantik schien wieder erwacht.

In den Dienst dieser Zeitströmungen trat nun das auf intime Wirkungen
gestellte künstlerische Brettl, dessen Gründer fessellosen Künstlerhumor, scharf¬
äugige Intelligenz, durchgerüttelte Skepsis und schmiegsame Nachempfindungs¬
fähigkeit vereinigten. Die Bewegung als solche, deren ernsthaften Kern man
nicht verkennen kann, ist durch geschäftstüchtige Ausbeuter und skrupellose Nach¬
ahmer leider sehr bald herabgewürdigt und in Verruf gebracht worden. Sie
lebt heilte noch fort in der höchst unerfreulichen Erscheinung jener großstädtischen
Kabaretts, die sich in: wesentlichen darauf beschränken, eine mehr oder weniger
elegante Halbwelt mit plumpen Zoten zu füttern. Die geistigen Väter des
Überbrettls sind heute die ersten, die sich vor den: entarteten Kinde bekreuzigen.
Denn das, was sie davon erträumt, war ernsthaft und wertvoll und hatte mit
Frivolität ganz und gar nichts zu tun. Das Wolzogen-Theater in Berlin, die
Zickelsche Sezessionsbühne, vor allen Dingen aber das entzückend intime Künstler¬
brettl der „Elf Scharfrichter" in München sind nichr als ein müßiger Künstler¬
scherz gewesen. Ihre Arbeit war nicht umsonst. Denn aus ihrem Lager kam
dem deutschen Theater der neue große Anreger und Weiterbildner, nach dem
die veränderte Situation so stürmisch verlangte.

Der Anreger hieß Max Reinhardt und war ein Schauspieler aus dem
Ibsen-Ensemble Otto Brechens. Das übermütige Künstlerbrettl, das er mit einem
Häuflein Gleichgesinnter unter dem Namen „Schall und Rauch" zu Berlin ins
Leben rief, war der Ausgangspunkt einer neuen theatergeschichtlichen Epoche.
Wie der Name Otto Brahm dem Jahrzehnt von 1890 bis 1900 die Signatur
gegeben hatte, so der Name Max Reinhardt den: folgenden Dezennium. Wieder
war es Berlin, das die Entwicklung, den Fortschritt brachte. Wieder mußten
sich Wien und München und Dresden und alle anderen deutschen Städte der
natürlichen Vorherrschaft des gern etwas verachteten Spreeathens unterwerfen.

Die zeitgeschichtliche Bedeutung Max Reinhardts ist für den Chronisten nicht
ganz einfach zu fassen*). Die Aktualität, die ihm noch heute anhaftet, verbietet
eine ruhige kritische Würdigung ganz von selbst. Die Wirksamkeit Otto Brahms
als Literat und als Theaterdirektor gehört schon längst der Geschichte. Er selbst
hat den Strich unter die Rechnung gemacht und die Bilanz seines Lebens gezogen.
Max Reinhardt dagegen ist noch immer die leibhaftige Gegenwart, zu der uns
jede, aber auch jede Distanz fehlt. Ein Feld unbegrenzter Möglichkeiten
sozusagen, das im besten Falle Prophezeiungen und Sympathieerklürungen, niemals
aber grundlegende Endurteile zuläßt.

Vielleicht fassen wir die Werte, die er in sich verkörpert, am besten so:
In einer Zeit verdächtiger Stagnation wurde er der Sprecher der Jugend, die
mit neuen geheimnisvollen Schätzen beladen an den Türen des deutschen Theaters



") Einen derartigen Versuch hat ganz neuerdings Siegfried Jakobsohn in seinein Buche
„Max Reinhardt" (bei Erich Reiß, Berlin) gemacht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0130" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317743"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_583" prev="#ID_582"> Kunst unseres Zeitalters ahnen. E. T. A. Hoffmann und Achin v. Arnim<lb/>
waren Mode geworden.  Die deutsche Romantik schien wieder erwacht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_584"> In den Dienst dieser Zeitströmungen trat nun das auf intime Wirkungen<lb/>
gestellte künstlerische Brettl, dessen Gründer fessellosen Künstlerhumor, scharf¬<lb/>
äugige Intelligenz, durchgerüttelte Skepsis und schmiegsame Nachempfindungs¬<lb/>
fähigkeit vereinigten. Die Bewegung als solche, deren ernsthaften Kern man<lb/>
nicht verkennen kann, ist durch geschäftstüchtige Ausbeuter und skrupellose Nach¬<lb/>
ahmer leider sehr bald herabgewürdigt und in Verruf gebracht worden. Sie<lb/>
lebt heilte noch fort in der höchst unerfreulichen Erscheinung jener großstädtischen<lb/>
Kabaretts, die sich in: wesentlichen darauf beschränken, eine mehr oder weniger<lb/>
elegante Halbwelt mit plumpen Zoten zu füttern. Die geistigen Väter des<lb/>
Überbrettls sind heute die ersten, die sich vor den: entarteten Kinde bekreuzigen.<lb/>
Denn das, was sie davon erträumt, war ernsthaft und wertvoll und hatte mit<lb/>
Frivolität ganz und gar nichts zu tun. Das Wolzogen-Theater in Berlin, die<lb/>
Zickelsche Sezessionsbühne, vor allen Dingen aber das entzückend intime Künstler¬<lb/>
brettl der &#x201E;Elf Scharfrichter" in München sind nichr als ein müßiger Künstler¬<lb/>
scherz gewesen. Ihre Arbeit war nicht umsonst. Denn aus ihrem Lager kam<lb/>
dem deutschen Theater der neue große Anreger und Weiterbildner, nach dem<lb/>
die veränderte Situation so stürmisch verlangte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_585"> Der Anreger hieß Max Reinhardt und war ein Schauspieler aus dem<lb/>
Ibsen-Ensemble Otto Brechens. Das übermütige Künstlerbrettl, das er mit einem<lb/>
Häuflein Gleichgesinnter unter dem Namen &#x201E;Schall und Rauch" zu Berlin ins<lb/>
Leben rief, war der Ausgangspunkt einer neuen theatergeschichtlichen Epoche.<lb/>
Wie der Name Otto Brahm dem Jahrzehnt von 1890 bis 1900 die Signatur<lb/>
gegeben hatte, so der Name Max Reinhardt den: folgenden Dezennium. Wieder<lb/>
war es Berlin, das die Entwicklung, den Fortschritt brachte. Wieder mußten<lb/>
sich Wien und München und Dresden und alle anderen deutschen Städte der<lb/>
natürlichen Vorherrschaft des gern etwas verachteten Spreeathens unterwerfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_586"> Die zeitgeschichtliche Bedeutung Max Reinhardts ist für den Chronisten nicht<lb/>
ganz einfach zu fassen*). Die Aktualität, die ihm noch heute anhaftet, verbietet<lb/>
eine ruhige kritische Würdigung ganz von selbst. Die Wirksamkeit Otto Brahms<lb/>
als Literat und als Theaterdirektor gehört schon längst der Geschichte. Er selbst<lb/>
hat den Strich unter die Rechnung gemacht und die Bilanz seines Lebens gezogen.<lb/>
Max Reinhardt dagegen ist noch immer die leibhaftige Gegenwart, zu der uns<lb/>
jede, aber auch jede Distanz fehlt. Ein Feld unbegrenzter Möglichkeiten<lb/>
sozusagen, das im besten Falle Prophezeiungen und Sympathieerklürungen, niemals<lb/>
aber grundlegende Endurteile zuläßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_587" next="#ID_588"> Vielleicht fassen wir die Werte, die er in sich verkörpert, am besten so:<lb/>
In einer Zeit verdächtiger Stagnation wurde er der Sprecher der Jugend, die<lb/>
mit neuen geheimnisvollen Schätzen beladen an den Türen des deutschen Theaters</p><lb/>
          <note xml:id="FID_20" place="foot"> ") Einen derartigen Versuch hat ganz neuerdings Siegfried Jakobsohn in seinein Buche<lb/>
&#x201E;Max Reinhardt" (bei Erich Reiß, Berlin) gemacht.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0130] Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren Kunst unseres Zeitalters ahnen. E. T. A. Hoffmann und Achin v. Arnim waren Mode geworden. Die deutsche Romantik schien wieder erwacht. In den Dienst dieser Zeitströmungen trat nun das auf intime Wirkungen gestellte künstlerische Brettl, dessen Gründer fessellosen Künstlerhumor, scharf¬ äugige Intelligenz, durchgerüttelte Skepsis und schmiegsame Nachempfindungs¬ fähigkeit vereinigten. Die Bewegung als solche, deren ernsthaften Kern man nicht verkennen kann, ist durch geschäftstüchtige Ausbeuter und skrupellose Nach¬ ahmer leider sehr bald herabgewürdigt und in Verruf gebracht worden. Sie lebt heilte noch fort in der höchst unerfreulichen Erscheinung jener großstädtischen Kabaretts, die sich in: wesentlichen darauf beschränken, eine mehr oder weniger elegante Halbwelt mit plumpen Zoten zu füttern. Die geistigen Väter des Überbrettls sind heute die ersten, die sich vor den: entarteten Kinde bekreuzigen. Denn das, was sie davon erträumt, war ernsthaft und wertvoll und hatte mit Frivolität ganz und gar nichts zu tun. Das Wolzogen-Theater in Berlin, die Zickelsche Sezessionsbühne, vor allen Dingen aber das entzückend intime Künstler¬ brettl der „Elf Scharfrichter" in München sind nichr als ein müßiger Künstler¬ scherz gewesen. Ihre Arbeit war nicht umsonst. Denn aus ihrem Lager kam dem deutschen Theater der neue große Anreger und Weiterbildner, nach dem die veränderte Situation so stürmisch verlangte. Der Anreger hieß Max Reinhardt und war ein Schauspieler aus dem Ibsen-Ensemble Otto Brechens. Das übermütige Künstlerbrettl, das er mit einem Häuflein Gleichgesinnter unter dem Namen „Schall und Rauch" zu Berlin ins Leben rief, war der Ausgangspunkt einer neuen theatergeschichtlichen Epoche. Wie der Name Otto Brahm dem Jahrzehnt von 1890 bis 1900 die Signatur gegeben hatte, so der Name Max Reinhardt den: folgenden Dezennium. Wieder war es Berlin, das die Entwicklung, den Fortschritt brachte. Wieder mußten sich Wien und München und Dresden und alle anderen deutschen Städte der natürlichen Vorherrschaft des gern etwas verachteten Spreeathens unterwerfen. Die zeitgeschichtliche Bedeutung Max Reinhardts ist für den Chronisten nicht ganz einfach zu fassen*). Die Aktualität, die ihm noch heute anhaftet, verbietet eine ruhige kritische Würdigung ganz von selbst. Die Wirksamkeit Otto Brahms als Literat und als Theaterdirektor gehört schon längst der Geschichte. Er selbst hat den Strich unter die Rechnung gemacht und die Bilanz seines Lebens gezogen. Max Reinhardt dagegen ist noch immer die leibhaftige Gegenwart, zu der uns jede, aber auch jede Distanz fehlt. Ein Feld unbegrenzter Möglichkeiten sozusagen, das im besten Falle Prophezeiungen und Sympathieerklürungen, niemals aber grundlegende Endurteile zuläßt. Vielleicht fassen wir die Werte, die er in sich verkörpert, am besten so: In einer Zeit verdächtiger Stagnation wurde er der Sprecher der Jugend, die mit neuen geheimnisvollen Schätzen beladen an den Türen des deutschen Theaters ") Einen derartigen Versuch hat ganz neuerdings Siegfried Jakobsohn in seinein Buche „Max Reinhardt" (bei Erich Reiß, Berlin) gemacht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/130
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/130>, abgerufen am 24.07.2024.