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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Die Hilfe kam auch diesmal ganz unerwartet, und zwar auf ein ein
geradezu grotesken Umweg, wie ihn eben nur unser ewig tastendes und ewig
experimentierendes Zeitalter finden konnte. Der Umweg war das sogenannte
Überbrettl, das um die Jahrhundertwende in allen deutschen Hauptstädten
pilzartig aus der Erde schoß.

Das künstlerische Überbrettl, wie es von Bierbaum und Wolzogen geplant
war, ist vielleicht das interessanteste Kapitel aus der zeitgenössischen Bühnen¬
psychologie. Es ist die possierlichste Fleischwerdung des ewig in Bühnenproblemen
steckenden deutschen Zeitgeistes, eine gutgemeinte phantastische Träumerei, die den
tödlichen Keim schon bei ihrer Geburt in sich trug. Aus dem Wunsche, die
literarischen Kabaretts vom Pariser Montmartre nachzuahmen, wurde in dem
immer mit ethischem Ballast arbeitenden Deutschland die Sehnsucht: die Tingel¬
angel zu veredeln, die wahre Kunst in die Singspielhallen und Varietvs zu
tragen. Das war der äußere Anlaß zum Entstehen der neuen Bewegung.
Der innere, auf den es uns hier allein ankommt, saß tiefer und war in der
literarischen Entwicklung der Zeit begründet.

Man war, wie oben ausgeführt, der philiströsen Enge und Gebundenheit
des krassen Naturalismus entwachsen und suchte den neuen Idealen nun auch
auf der Bühne neue Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen. Man war intim
gemordet,; man hörte Untertöne klingen und war groß im Erfühlen von leise
verwesenden Stimmungen, für die in der durchsichtig nüchternett Atmosphäre
des modernen Theaters kein Raum schien. Stärker und brünstiger als je
rang man um die Gestaltung eines neuen Zeit- und Kunststils. In mystischer
Ferne sah man verheißungsvolle Linien auftauchen, und man griff gierig nach
allem, was keimkräftig war und Zukunft verhieß.

Daneben trat ein anderes Moment immer stärker in den Vordergrund:
die artistische Spielerei. Die deutsche Kunst war seit Ibsen und Hauptmann
wieder reich geworden und durfte sich den Luxus gestatten, einmal weniger
ernsthaft zu sein und ihr Können an spielerischen Launen zu erproben. Der
oft gehörte I'art pour I'arr-Ruf drang aus Wien wieder lebhafter herüber.
Die Neigung, die Dinge weniger zu gestalten als vielmehr in weltmännisch
überlegener Ruhe mit ihnen zu spielen, wurde von Tag zu Tag lebendiger.
(Übrigens ist das müde und an Überkultur leidende Wien auch heute noch die
gefährliche Brutstätte für solche meist recht müßigen Spielereien.) An Stelle des
Linearen in der Kunst war mit einem Male der zersetzende Fleck, das Malerische
getreten. Hugo v. Hofmannsthal schrieb seine suggestiven, dekadenten, sehr
kultivierten, aber von schwüler Treibhausluft umwitterten Rhythmen. Maurice
Maeterlinck tastete mit weichen, kaum greifbaren Tönen in die Untergrunde der
menschlichen Psyche. Eleonora Duse schuf ihrer zarten Nervenkunft eine Schar
begeisterter Jünger. Frank Wedekind half der romantischen Groteske zu neuem
Leben und ließ in seinen skurillen, aber immer wieder verblüffenden dramatischen
Einfällen von ferne so etwas wie die Umrisse einer unerhört neuen al ireseo-


Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Die Hilfe kam auch diesmal ganz unerwartet, und zwar auf ein ein
geradezu grotesken Umweg, wie ihn eben nur unser ewig tastendes und ewig
experimentierendes Zeitalter finden konnte. Der Umweg war das sogenannte
Überbrettl, das um die Jahrhundertwende in allen deutschen Hauptstädten
pilzartig aus der Erde schoß.

Das künstlerische Überbrettl, wie es von Bierbaum und Wolzogen geplant
war, ist vielleicht das interessanteste Kapitel aus der zeitgenössischen Bühnen¬
psychologie. Es ist die possierlichste Fleischwerdung des ewig in Bühnenproblemen
steckenden deutschen Zeitgeistes, eine gutgemeinte phantastische Träumerei, die den
tödlichen Keim schon bei ihrer Geburt in sich trug. Aus dem Wunsche, die
literarischen Kabaretts vom Pariser Montmartre nachzuahmen, wurde in dem
immer mit ethischem Ballast arbeitenden Deutschland die Sehnsucht: die Tingel¬
angel zu veredeln, die wahre Kunst in die Singspielhallen und Varietvs zu
tragen. Das war der äußere Anlaß zum Entstehen der neuen Bewegung.
Der innere, auf den es uns hier allein ankommt, saß tiefer und war in der
literarischen Entwicklung der Zeit begründet.

Man war, wie oben ausgeführt, der philiströsen Enge und Gebundenheit
des krassen Naturalismus entwachsen und suchte den neuen Idealen nun auch
auf der Bühne neue Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen. Man war intim
gemordet,; man hörte Untertöne klingen und war groß im Erfühlen von leise
verwesenden Stimmungen, für die in der durchsichtig nüchternett Atmosphäre
des modernen Theaters kein Raum schien. Stärker und brünstiger als je
rang man um die Gestaltung eines neuen Zeit- und Kunststils. In mystischer
Ferne sah man verheißungsvolle Linien auftauchen, und man griff gierig nach
allem, was keimkräftig war und Zukunft verhieß.

Daneben trat ein anderes Moment immer stärker in den Vordergrund:
die artistische Spielerei. Die deutsche Kunst war seit Ibsen und Hauptmann
wieder reich geworden und durfte sich den Luxus gestatten, einmal weniger
ernsthaft zu sein und ihr Können an spielerischen Launen zu erproben. Der
oft gehörte I'art pour I'arr-Ruf drang aus Wien wieder lebhafter herüber.
Die Neigung, die Dinge weniger zu gestalten als vielmehr in weltmännisch
überlegener Ruhe mit ihnen zu spielen, wurde von Tag zu Tag lebendiger.
(Übrigens ist das müde und an Überkultur leidende Wien auch heute noch die
gefährliche Brutstätte für solche meist recht müßigen Spielereien.) An Stelle des
Linearen in der Kunst war mit einem Male der zersetzende Fleck, das Malerische
getreten. Hugo v. Hofmannsthal schrieb seine suggestiven, dekadenten, sehr
kultivierten, aber von schwüler Treibhausluft umwitterten Rhythmen. Maurice
Maeterlinck tastete mit weichen, kaum greifbaren Tönen in die Untergrunde der
menschlichen Psyche. Eleonora Duse schuf ihrer zarten Nervenkunft eine Schar
begeisterter Jünger. Frank Wedekind half der romantischen Groteske zu neuem
Leben und ließ in seinen skurillen, aber immer wieder verblüffenden dramatischen
Einfällen von ferne so etwas wie die Umrisse einer unerhört neuen al ireseo-


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[0129] Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren Die Hilfe kam auch diesmal ganz unerwartet, und zwar auf ein ein geradezu grotesken Umweg, wie ihn eben nur unser ewig tastendes und ewig experimentierendes Zeitalter finden konnte. Der Umweg war das sogenannte Überbrettl, das um die Jahrhundertwende in allen deutschen Hauptstädten pilzartig aus der Erde schoß. Das künstlerische Überbrettl, wie es von Bierbaum und Wolzogen geplant war, ist vielleicht das interessanteste Kapitel aus der zeitgenössischen Bühnen¬ psychologie. Es ist die possierlichste Fleischwerdung des ewig in Bühnenproblemen steckenden deutschen Zeitgeistes, eine gutgemeinte phantastische Träumerei, die den tödlichen Keim schon bei ihrer Geburt in sich trug. Aus dem Wunsche, die literarischen Kabaretts vom Pariser Montmartre nachzuahmen, wurde in dem immer mit ethischem Ballast arbeitenden Deutschland die Sehnsucht: die Tingel¬ angel zu veredeln, die wahre Kunst in die Singspielhallen und Varietvs zu tragen. Das war der äußere Anlaß zum Entstehen der neuen Bewegung. Der innere, auf den es uns hier allein ankommt, saß tiefer und war in der literarischen Entwicklung der Zeit begründet. Man war, wie oben ausgeführt, der philiströsen Enge und Gebundenheit des krassen Naturalismus entwachsen und suchte den neuen Idealen nun auch auf der Bühne neue Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen. Man war intim gemordet,; man hörte Untertöne klingen und war groß im Erfühlen von leise verwesenden Stimmungen, für die in der durchsichtig nüchternett Atmosphäre des modernen Theaters kein Raum schien. Stärker und brünstiger als je rang man um die Gestaltung eines neuen Zeit- und Kunststils. In mystischer Ferne sah man verheißungsvolle Linien auftauchen, und man griff gierig nach allem, was keimkräftig war und Zukunft verhieß. Daneben trat ein anderes Moment immer stärker in den Vordergrund: die artistische Spielerei. Die deutsche Kunst war seit Ibsen und Hauptmann wieder reich geworden und durfte sich den Luxus gestatten, einmal weniger ernsthaft zu sein und ihr Können an spielerischen Launen zu erproben. Der oft gehörte I'art pour I'arr-Ruf drang aus Wien wieder lebhafter herüber. Die Neigung, die Dinge weniger zu gestalten als vielmehr in weltmännisch überlegener Ruhe mit ihnen zu spielen, wurde von Tag zu Tag lebendiger. (Übrigens ist das müde und an Überkultur leidende Wien auch heute noch die gefährliche Brutstätte für solche meist recht müßigen Spielereien.) An Stelle des Linearen in der Kunst war mit einem Male der zersetzende Fleck, das Malerische getreten. Hugo v. Hofmannsthal schrieb seine suggestiven, dekadenten, sehr kultivierten, aber von schwüler Treibhausluft umwitterten Rhythmen. Maurice Maeterlinck tastete mit weichen, kaum greifbaren Tönen in die Untergrunde der menschlichen Psyche. Eleonora Duse schuf ihrer zarten Nervenkunft eine Schar begeisterter Jünger. Frank Wedekind half der romantischen Groteske zu neuem Leben und ließ in seinen skurillen, aber immer wieder verblüffenden dramatischen Einfällen von ferne so etwas wie die Umrisse einer unerhört neuen al ireseo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/129>, abgerufen am 24.07.2024.