Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

und Freude und Farbe machte sich immer lebhafter breit. Man wollte auf
der Bühne wieder etwas anderes fehen als schlechtgekleidete und schnapsduftende
Proletarier, als hungernde Weber und fluchende Fuhrknechte. Man wollte
heraus aus der Eintönigkeit des Gegenständlichen. Man wollte darüber hinaus¬
wachsen und in dem Reiche einer höheren poetischen Wahrheit endlich wieder
frische Luft atmen.

Das waren die Jahre, in denen Gerhart Hauptmann seine "Versunkene
Glocke", Hermann Sudermann seinen "Johannes" und seine "Drei Reiher¬
federn" und der junge Wiener Hugo v. Hofmannsthal seine ersten dramatischen
Lnrismen schrieb. Die erprobten Führer der neuen Generation lenkten selber in
alte, schöne Überlieferungen zurück. Die poetische Form, die man zum Tempel
hinausgejagt hatte, holte man wieder herein. Es galt plötzlich nicht mehr für
eine Schande, in den guten alten fünffüßigen Jamben zu reden, Monologe zu
deklamieren und lyrische Stimmungen liebevoll zu pflegen. Man war mit
einem Male wieder "poetisch" geworden -- freilich nicht im Sinne eines hohlen
und brüchigen Epigonentums, sondern auf der festen Grundlage der neuerschaffencn
und selbstschöpferischen Kunstform. Man drang noch immer mit den feinsten
Instrumenten in die innersten Kammern der Menschenseelen. Aber man
polterte nicht mehr wie bisher. Man griff behutsam und nur mit
scheuer Begierde zu, um nur ja nicht den Duft und den Schimmer,
der über den Dingen lag, eilfertig zu zerstören. Es war ein aristokratischer
Zug in die Dramatik gekommen, ein Hauch von Kultur und anerzogener
Vornehmheit.

Die naturalistische Schauspielkunst, wenn sie auch im Laufe der Jahre schon
manches wertvolle Stück aus ihrer Dogmcnsammlung hatte aufgeben müssen,
stand den neuen Ereignissen ziemlich ratlos gegenüber. Sie war ihrer
ganzen Anlage nach auf einen bestimmten Stil in der Darstellung eingeschworen
und hatte das, was man die Sprechkunst des Stildramas nennt, über den
"Webern" und den "Einsamen Menschen" vollkommen verlernt. Sie stand am
Ende einer logischen Entwicklung und wußte mit dem, was nun plötzlich die
deutsche Neuromantik hieß, beim besten Willen nichts anzufangen. Was
nützte es, daß ihre genialsten Apostel wie Josef Kainz, Agnes Sorina und
einige andere sich mit natürlichem Takt in die veränderte Sachlage schickten?
Das Gros, dem der Naturalismus das A und O aller ästhetischen Welt¬
anschauung bedeutete, hatte den Zusammenhang verloren und fand sich mit
einem Male nicht mehr zurecht. Oder um es anders auszudrücken: der
Naturalismus war auf seinen Lorbeeren eingeschlafen. Seine überzeugtester
Vertreter waren abgesprungen oder hatten nicht gehalten, was sie versprochen
hatten. (Hauptmanns Niedergang beginnt in diesen Jahren.) Das Leben
fegte über ihn hin. Die dramatische Kunst drängte nach neuen, nicht immer
klar erfaßten Zielen und trat urplötzlich mit Forderungen an die Bühne, die
aus der gewohnten Naturalistenschablone heraussielen.


Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

und Freude und Farbe machte sich immer lebhafter breit. Man wollte auf
der Bühne wieder etwas anderes fehen als schlechtgekleidete und schnapsduftende
Proletarier, als hungernde Weber und fluchende Fuhrknechte. Man wollte
heraus aus der Eintönigkeit des Gegenständlichen. Man wollte darüber hinaus¬
wachsen und in dem Reiche einer höheren poetischen Wahrheit endlich wieder
frische Luft atmen.

Das waren die Jahre, in denen Gerhart Hauptmann seine „Versunkene
Glocke", Hermann Sudermann seinen „Johannes" und seine „Drei Reiher¬
federn" und der junge Wiener Hugo v. Hofmannsthal seine ersten dramatischen
Lnrismen schrieb. Die erprobten Führer der neuen Generation lenkten selber in
alte, schöne Überlieferungen zurück. Die poetische Form, die man zum Tempel
hinausgejagt hatte, holte man wieder herein. Es galt plötzlich nicht mehr für
eine Schande, in den guten alten fünffüßigen Jamben zu reden, Monologe zu
deklamieren und lyrische Stimmungen liebevoll zu pflegen. Man war mit
einem Male wieder „poetisch" geworden — freilich nicht im Sinne eines hohlen
und brüchigen Epigonentums, sondern auf der festen Grundlage der neuerschaffencn
und selbstschöpferischen Kunstform. Man drang noch immer mit den feinsten
Instrumenten in die innersten Kammern der Menschenseelen. Aber man
polterte nicht mehr wie bisher. Man griff behutsam und nur mit
scheuer Begierde zu, um nur ja nicht den Duft und den Schimmer,
der über den Dingen lag, eilfertig zu zerstören. Es war ein aristokratischer
Zug in die Dramatik gekommen, ein Hauch von Kultur und anerzogener
Vornehmheit.

Die naturalistische Schauspielkunst, wenn sie auch im Laufe der Jahre schon
manches wertvolle Stück aus ihrer Dogmcnsammlung hatte aufgeben müssen,
stand den neuen Ereignissen ziemlich ratlos gegenüber. Sie war ihrer
ganzen Anlage nach auf einen bestimmten Stil in der Darstellung eingeschworen
und hatte das, was man die Sprechkunst des Stildramas nennt, über den
„Webern" und den „Einsamen Menschen" vollkommen verlernt. Sie stand am
Ende einer logischen Entwicklung und wußte mit dem, was nun plötzlich die
deutsche Neuromantik hieß, beim besten Willen nichts anzufangen. Was
nützte es, daß ihre genialsten Apostel wie Josef Kainz, Agnes Sorina und
einige andere sich mit natürlichem Takt in die veränderte Sachlage schickten?
Das Gros, dem der Naturalismus das A und O aller ästhetischen Welt¬
anschauung bedeutete, hatte den Zusammenhang verloren und fand sich mit
einem Male nicht mehr zurecht. Oder um es anders auszudrücken: der
Naturalismus war auf seinen Lorbeeren eingeschlafen. Seine überzeugtester
Vertreter waren abgesprungen oder hatten nicht gehalten, was sie versprochen
hatten. (Hauptmanns Niedergang beginnt in diesen Jahren.) Das Leben
fegte über ihn hin. Die dramatische Kunst drängte nach neuen, nicht immer
klar erfaßten Zielen und trat urplötzlich mit Forderungen an die Bühne, die
aus der gewohnten Naturalistenschablone heraussielen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0128" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317741"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_576" prev="#ID_575"> und Freude und Farbe machte sich immer lebhafter breit. Man wollte auf<lb/>
der Bühne wieder etwas anderes fehen als schlechtgekleidete und schnapsduftende<lb/>
Proletarier, als hungernde Weber und fluchende Fuhrknechte. Man wollte<lb/>
heraus aus der Eintönigkeit des Gegenständlichen. Man wollte darüber hinaus¬<lb/>
wachsen und in dem Reiche einer höheren poetischen Wahrheit endlich wieder<lb/>
frische Luft atmen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_577"> Das waren die Jahre, in denen Gerhart Hauptmann seine &#x201E;Versunkene<lb/>
Glocke", Hermann Sudermann seinen &#x201E;Johannes" und seine &#x201E;Drei Reiher¬<lb/>
federn" und der junge Wiener Hugo v. Hofmannsthal seine ersten dramatischen<lb/>
Lnrismen schrieb. Die erprobten Führer der neuen Generation lenkten selber in<lb/>
alte, schöne Überlieferungen zurück. Die poetische Form, die man zum Tempel<lb/>
hinausgejagt hatte, holte man wieder herein. Es galt plötzlich nicht mehr für<lb/>
eine Schande, in den guten alten fünffüßigen Jamben zu reden, Monologe zu<lb/>
deklamieren und lyrische Stimmungen liebevoll zu pflegen. Man war mit<lb/>
einem Male wieder &#x201E;poetisch" geworden &#x2014; freilich nicht im Sinne eines hohlen<lb/>
und brüchigen Epigonentums, sondern auf der festen Grundlage der neuerschaffencn<lb/>
und selbstschöpferischen Kunstform. Man drang noch immer mit den feinsten<lb/>
Instrumenten in die innersten Kammern der Menschenseelen. Aber man<lb/>
polterte nicht mehr wie bisher. Man griff behutsam und nur mit<lb/>
scheuer Begierde zu, um nur ja nicht den Duft und den Schimmer,<lb/>
der über den Dingen lag, eilfertig zu zerstören. Es war ein aristokratischer<lb/>
Zug in die Dramatik gekommen, ein Hauch von Kultur und anerzogener<lb/>
Vornehmheit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_578"> Die naturalistische Schauspielkunst, wenn sie auch im Laufe der Jahre schon<lb/>
manches wertvolle Stück aus ihrer Dogmcnsammlung hatte aufgeben müssen,<lb/>
stand den neuen Ereignissen ziemlich ratlos gegenüber. Sie war ihrer<lb/>
ganzen Anlage nach auf einen bestimmten Stil in der Darstellung eingeschworen<lb/>
und hatte das, was man die Sprechkunst des Stildramas nennt, über den<lb/>
&#x201E;Webern" und den &#x201E;Einsamen Menschen" vollkommen verlernt. Sie stand am<lb/>
Ende einer logischen Entwicklung und wußte mit dem, was nun plötzlich die<lb/>
deutsche Neuromantik hieß, beim besten Willen nichts anzufangen. Was<lb/>
nützte es, daß ihre genialsten Apostel wie Josef Kainz, Agnes Sorina und<lb/>
einige andere sich mit natürlichem Takt in die veränderte Sachlage schickten?<lb/>
Das Gros, dem der Naturalismus das A und O aller ästhetischen Welt¬<lb/>
anschauung bedeutete, hatte den Zusammenhang verloren und fand sich mit<lb/>
einem Male nicht mehr zurecht. Oder um es anders auszudrücken: der<lb/>
Naturalismus war auf seinen Lorbeeren eingeschlafen. Seine überzeugtester<lb/>
Vertreter waren abgesprungen oder hatten nicht gehalten, was sie versprochen<lb/>
hatten. (Hauptmanns Niedergang beginnt in diesen Jahren.) Das Leben<lb/>
fegte über ihn hin. Die dramatische Kunst drängte nach neuen, nicht immer<lb/>
klar erfaßten Zielen und trat urplötzlich mit Forderungen an die Bühne, die<lb/>
aus der gewohnten Naturalistenschablone heraussielen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0128] Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren und Freude und Farbe machte sich immer lebhafter breit. Man wollte auf der Bühne wieder etwas anderes fehen als schlechtgekleidete und schnapsduftende Proletarier, als hungernde Weber und fluchende Fuhrknechte. Man wollte heraus aus der Eintönigkeit des Gegenständlichen. Man wollte darüber hinaus¬ wachsen und in dem Reiche einer höheren poetischen Wahrheit endlich wieder frische Luft atmen. Das waren die Jahre, in denen Gerhart Hauptmann seine „Versunkene Glocke", Hermann Sudermann seinen „Johannes" und seine „Drei Reiher¬ federn" und der junge Wiener Hugo v. Hofmannsthal seine ersten dramatischen Lnrismen schrieb. Die erprobten Führer der neuen Generation lenkten selber in alte, schöne Überlieferungen zurück. Die poetische Form, die man zum Tempel hinausgejagt hatte, holte man wieder herein. Es galt plötzlich nicht mehr für eine Schande, in den guten alten fünffüßigen Jamben zu reden, Monologe zu deklamieren und lyrische Stimmungen liebevoll zu pflegen. Man war mit einem Male wieder „poetisch" geworden — freilich nicht im Sinne eines hohlen und brüchigen Epigonentums, sondern auf der festen Grundlage der neuerschaffencn und selbstschöpferischen Kunstform. Man drang noch immer mit den feinsten Instrumenten in die innersten Kammern der Menschenseelen. Aber man polterte nicht mehr wie bisher. Man griff behutsam und nur mit scheuer Begierde zu, um nur ja nicht den Duft und den Schimmer, der über den Dingen lag, eilfertig zu zerstören. Es war ein aristokratischer Zug in die Dramatik gekommen, ein Hauch von Kultur und anerzogener Vornehmheit. Die naturalistische Schauspielkunst, wenn sie auch im Laufe der Jahre schon manches wertvolle Stück aus ihrer Dogmcnsammlung hatte aufgeben müssen, stand den neuen Ereignissen ziemlich ratlos gegenüber. Sie war ihrer ganzen Anlage nach auf einen bestimmten Stil in der Darstellung eingeschworen und hatte das, was man die Sprechkunst des Stildramas nennt, über den „Webern" und den „Einsamen Menschen" vollkommen verlernt. Sie stand am Ende einer logischen Entwicklung und wußte mit dem, was nun plötzlich die deutsche Neuromantik hieß, beim besten Willen nichts anzufangen. Was nützte es, daß ihre genialsten Apostel wie Josef Kainz, Agnes Sorina und einige andere sich mit natürlichem Takt in die veränderte Sachlage schickten? Das Gros, dem der Naturalismus das A und O aller ästhetischen Welt¬ anschauung bedeutete, hatte den Zusammenhang verloren und fand sich mit einem Male nicht mehr zurecht. Oder um es anders auszudrücken: der Naturalismus war auf seinen Lorbeeren eingeschlafen. Seine überzeugtester Vertreter waren abgesprungen oder hatten nicht gehalten, was sie versprochen hatten. (Hauptmanns Niedergang beginnt in diesen Jahren.) Das Leben fegte über ihn hin. Die dramatische Kunst drängte nach neuen, nicht immer klar erfaßten Zielen und trat urplötzlich mit Forderungen an die Bühne, die aus der gewohnten Naturalistenschablone heraussielen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/128
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/128>, abgerufen am 24.07.2024.