Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Aufgabe des deutschen Lürgertums

sammenhanges bewußt, sie brauchen nicht gleich über die letzten Fragen zu
entscheiden. Sie haben zunächst nur den Wahlmann, eine Mittelperson, zu
wählen. Das Wahlrecht ist verschieden. Es wird abgestuft nach der Höhe der
Steuern, die die Bürger an den Staat entrichten. Der Grundgedanke entspricht
der Wirklichkeit, in der die Menschen eben verschieden sind, und diese Ver¬
schiedenheit, von festen Merkmalen hergeleitet, richtet sich nach tatsächlichen Ver¬
hältnissen. Die Wahl geschieht öffentlich. Ein jeder muß die volle Verant¬
wortung seinen Mitbürgern gegenüber tragen. Angriffspunkte zur Erregung
von Leidenschaften liegen bei diesem System weniger vor, und auch der Boden
der Wirklichkeit ist nicht leicht zu verlieren. Bedächtiges Erwägen des Erreich¬
baren gibt hier mehr den Ausschlag. Beide Wahlsysteme sind mithin von¬
einander sehr verschieden und daher recht geeignet, gute Gegenwirkungen zu geben.

Was könnte die Reform des preußischen Wahlrechtes an diesem aus¬
gleichenden Verhältnis bessern? Einerseits sollten bei Abstufung der Wählerklassen
nicht die wirklich gezählten Steuern, sondern für die Höchstbesteuerten nur
eine Höchstquote in Anrechnung gebracht und anderseits bestimmte Gruppen
von Bürgern in eine höhere Klasse versetzt werden, wie andere Bürger, die die
gleichen Steuern bezahlten wie sie. Und sodann sollten die Abgeordneten direkt
vom ganzen Wahlkreise, ohne die Zwischenstufen von Wahlmännern, gewählt
werden. Im Gegensatz zu dem bisherigen preußischen Wahlrecht würde durch
die direkte Wahl die Entscheidung in die Massen verlegt, also mehr in die
Hände derer, die schon bei der Reichstagswahl überwiegen. Da sich allgemein
einleuchtende Grundsätze für die Höherhebung einzelner Bürgergruppen nicht
aufstellen lassen, so würden die nicht höher gehobenen Biirger sich für beein¬
trächtigt halten und geneigt sein, jedem Folge zu leisten, der diese Empfindlich¬
keit aufrührt. Die Entfesselung der Leidenschaft, des Neides würde geradezu
nahe gelegt. Die Maximierung der Steuerleistung der Höchstbesteuerten
verläßt den Boden der Tatsachen, fußt auf Annahmen und gibt
dadurch Anlaß, das Staatsleben nicht von der Wirklichkeit, sondern
von Theorien aus einzurichten. Die Wahlreform würde mithin ganz
ähnlichen Vorstellungen von dem Staatsleben den Ausschlag geben wie das
Reichstagswahlrecht. Ein nach diesem Wahlgesetz gewähltes preußisches Ab¬
geordnetenhaus würde aus ähnlichem Geiste geboren sein und nach ähnlichen
Gesichtspunkten handeln wie der deutsche Reichstag. Es würde nicht so befähigt
sein, auf die Bedürfnisse anderer Seiten des Volkslebens Bedacht zu nehmen
mie das heutige preußische Abgeordnetenhaus.

Die Wahlreform führte nicht dazu, unsere gesetzgebenden Körperschaften
vielseitiger, vielmehr sie einseitiger zu machen. Sie wäre ein Schritt, der uns
dem erstrebenswerten Ziel aller Staatseinrichtungen, einer umfassenden aus¬
gleichenden Gerechtigkeit, nicht näher brächte, sondern uns weiter davon entfernte.

Wenn man die Absicht hatte, die Zwischenstufe der Wahlmänner abzuschaffen,
also den Wahlmännern das ihnen durch die Verfassung, das höchste Landesgesetz,


Die Aufgabe des deutschen Lürgertums

sammenhanges bewußt, sie brauchen nicht gleich über die letzten Fragen zu
entscheiden. Sie haben zunächst nur den Wahlmann, eine Mittelperson, zu
wählen. Das Wahlrecht ist verschieden. Es wird abgestuft nach der Höhe der
Steuern, die die Bürger an den Staat entrichten. Der Grundgedanke entspricht
der Wirklichkeit, in der die Menschen eben verschieden sind, und diese Ver¬
schiedenheit, von festen Merkmalen hergeleitet, richtet sich nach tatsächlichen Ver¬
hältnissen. Die Wahl geschieht öffentlich. Ein jeder muß die volle Verant¬
wortung seinen Mitbürgern gegenüber tragen. Angriffspunkte zur Erregung
von Leidenschaften liegen bei diesem System weniger vor, und auch der Boden
der Wirklichkeit ist nicht leicht zu verlieren. Bedächtiges Erwägen des Erreich¬
baren gibt hier mehr den Ausschlag. Beide Wahlsysteme sind mithin von¬
einander sehr verschieden und daher recht geeignet, gute Gegenwirkungen zu geben.

Was könnte die Reform des preußischen Wahlrechtes an diesem aus¬
gleichenden Verhältnis bessern? Einerseits sollten bei Abstufung der Wählerklassen
nicht die wirklich gezählten Steuern, sondern für die Höchstbesteuerten nur
eine Höchstquote in Anrechnung gebracht und anderseits bestimmte Gruppen
von Bürgern in eine höhere Klasse versetzt werden, wie andere Bürger, die die
gleichen Steuern bezahlten wie sie. Und sodann sollten die Abgeordneten direkt
vom ganzen Wahlkreise, ohne die Zwischenstufen von Wahlmännern, gewählt
werden. Im Gegensatz zu dem bisherigen preußischen Wahlrecht würde durch
die direkte Wahl die Entscheidung in die Massen verlegt, also mehr in die
Hände derer, die schon bei der Reichstagswahl überwiegen. Da sich allgemein
einleuchtende Grundsätze für die Höherhebung einzelner Bürgergruppen nicht
aufstellen lassen, so würden die nicht höher gehobenen Biirger sich für beein¬
trächtigt halten und geneigt sein, jedem Folge zu leisten, der diese Empfindlich¬
keit aufrührt. Die Entfesselung der Leidenschaft, des Neides würde geradezu
nahe gelegt. Die Maximierung der Steuerleistung der Höchstbesteuerten
verläßt den Boden der Tatsachen, fußt auf Annahmen und gibt
dadurch Anlaß, das Staatsleben nicht von der Wirklichkeit, sondern
von Theorien aus einzurichten. Die Wahlreform würde mithin ganz
ähnlichen Vorstellungen von dem Staatsleben den Ausschlag geben wie das
Reichstagswahlrecht. Ein nach diesem Wahlgesetz gewähltes preußisches Ab¬
geordnetenhaus würde aus ähnlichem Geiste geboren sein und nach ähnlichen
Gesichtspunkten handeln wie der deutsche Reichstag. Es würde nicht so befähigt
sein, auf die Bedürfnisse anderer Seiten des Volkslebens Bedacht zu nehmen
mie das heutige preußische Abgeordnetenhaus.

Die Wahlreform führte nicht dazu, unsere gesetzgebenden Körperschaften
vielseitiger, vielmehr sie einseitiger zu machen. Sie wäre ein Schritt, der uns
dem erstrebenswerten Ziel aller Staatseinrichtungen, einer umfassenden aus¬
gleichenden Gerechtigkeit, nicht näher brächte, sondern uns weiter davon entfernte.

Wenn man die Absicht hatte, die Zwischenstufe der Wahlmänner abzuschaffen,
also den Wahlmännern das ihnen durch die Verfassung, das höchste Landesgesetz,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0121" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317734"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Aufgabe des deutschen Lürgertums</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_553" prev="#ID_552"> sammenhanges bewußt, sie brauchen nicht gleich über die letzten Fragen zu<lb/>
entscheiden. Sie haben zunächst nur den Wahlmann, eine Mittelperson, zu<lb/>
wählen. Das Wahlrecht ist verschieden. Es wird abgestuft nach der Höhe der<lb/>
Steuern, die die Bürger an den Staat entrichten. Der Grundgedanke entspricht<lb/>
der Wirklichkeit, in der die Menschen eben verschieden sind, und diese Ver¬<lb/>
schiedenheit, von festen Merkmalen hergeleitet, richtet sich nach tatsächlichen Ver¬<lb/>
hältnissen. Die Wahl geschieht öffentlich. Ein jeder muß die volle Verant¬<lb/>
wortung seinen Mitbürgern gegenüber tragen. Angriffspunkte zur Erregung<lb/>
von Leidenschaften liegen bei diesem System weniger vor, und auch der Boden<lb/>
der Wirklichkeit ist nicht leicht zu verlieren. Bedächtiges Erwägen des Erreich¬<lb/>
baren gibt hier mehr den Ausschlag. Beide Wahlsysteme sind mithin von¬<lb/>
einander sehr verschieden und daher recht geeignet, gute Gegenwirkungen zu geben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_554"> Was könnte die Reform des preußischen Wahlrechtes an diesem aus¬<lb/>
gleichenden Verhältnis bessern? Einerseits sollten bei Abstufung der Wählerklassen<lb/>
nicht die wirklich gezählten Steuern, sondern für die Höchstbesteuerten nur<lb/>
eine Höchstquote in Anrechnung gebracht und anderseits bestimmte Gruppen<lb/>
von Bürgern in eine höhere Klasse versetzt werden, wie andere Bürger, die die<lb/>
gleichen Steuern bezahlten wie sie. Und sodann sollten die Abgeordneten direkt<lb/>
vom ganzen Wahlkreise, ohne die Zwischenstufen von Wahlmännern, gewählt<lb/>
werden. Im Gegensatz zu dem bisherigen preußischen Wahlrecht würde durch<lb/>
die direkte Wahl die Entscheidung in die Massen verlegt, also mehr in die<lb/>
Hände derer, die schon bei der Reichstagswahl überwiegen. Da sich allgemein<lb/>
einleuchtende Grundsätze für die Höherhebung einzelner Bürgergruppen nicht<lb/>
aufstellen lassen, so würden die nicht höher gehobenen Biirger sich für beein¬<lb/>
trächtigt halten und geneigt sein, jedem Folge zu leisten, der diese Empfindlich¬<lb/>
keit aufrührt. Die Entfesselung der Leidenschaft, des Neides würde geradezu<lb/>
nahe gelegt. Die Maximierung der Steuerleistung der Höchstbesteuerten<lb/>
verläßt den Boden der Tatsachen, fußt auf Annahmen und gibt<lb/>
dadurch Anlaß, das Staatsleben nicht von der Wirklichkeit, sondern<lb/>
von Theorien aus einzurichten. Die Wahlreform würde mithin ganz<lb/>
ähnlichen Vorstellungen von dem Staatsleben den Ausschlag geben wie das<lb/>
Reichstagswahlrecht. Ein nach diesem Wahlgesetz gewähltes preußisches Ab¬<lb/>
geordnetenhaus würde aus ähnlichem Geiste geboren sein und nach ähnlichen<lb/>
Gesichtspunkten handeln wie der deutsche Reichstag. Es würde nicht so befähigt<lb/>
sein, auf die Bedürfnisse anderer Seiten des Volkslebens Bedacht zu nehmen<lb/>
mie das heutige preußische Abgeordnetenhaus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_555"> Die Wahlreform führte nicht dazu, unsere gesetzgebenden Körperschaften<lb/>
vielseitiger, vielmehr sie einseitiger zu machen. Sie wäre ein Schritt, der uns<lb/>
dem erstrebenswerten Ziel aller Staatseinrichtungen, einer umfassenden aus¬<lb/>
gleichenden Gerechtigkeit, nicht näher brächte, sondern uns weiter davon entfernte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_556" next="#ID_557"> Wenn man die Absicht hatte, die Zwischenstufe der Wahlmänner abzuschaffen,<lb/>
also den Wahlmännern das ihnen durch die Verfassung, das höchste Landesgesetz,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0121] Die Aufgabe des deutschen Lürgertums sammenhanges bewußt, sie brauchen nicht gleich über die letzten Fragen zu entscheiden. Sie haben zunächst nur den Wahlmann, eine Mittelperson, zu wählen. Das Wahlrecht ist verschieden. Es wird abgestuft nach der Höhe der Steuern, die die Bürger an den Staat entrichten. Der Grundgedanke entspricht der Wirklichkeit, in der die Menschen eben verschieden sind, und diese Ver¬ schiedenheit, von festen Merkmalen hergeleitet, richtet sich nach tatsächlichen Ver¬ hältnissen. Die Wahl geschieht öffentlich. Ein jeder muß die volle Verant¬ wortung seinen Mitbürgern gegenüber tragen. Angriffspunkte zur Erregung von Leidenschaften liegen bei diesem System weniger vor, und auch der Boden der Wirklichkeit ist nicht leicht zu verlieren. Bedächtiges Erwägen des Erreich¬ baren gibt hier mehr den Ausschlag. Beide Wahlsysteme sind mithin von¬ einander sehr verschieden und daher recht geeignet, gute Gegenwirkungen zu geben. Was könnte die Reform des preußischen Wahlrechtes an diesem aus¬ gleichenden Verhältnis bessern? Einerseits sollten bei Abstufung der Wählerklassen nicht die wirklich gezählten Steuern, sondern für die Höchstbesteuerten nur eine Höchstquote in Anrechnung gebracht und anderseits bestimmte Gruppen von Bürgern in eine höhere Klasse versetzt werden, wie andere Bürger, die die gleichen Steuern bezahlten wie sie. Und sodann sollten die Abgeordneten direkt vom ganzen Wahlkreise, ohne die Zwischenstufen von Wahlmännern, gewählt werden. Im Gegensatz zu dem bisherigen preußischen Wahlrecht würde durch die direkte Wahl die Entscheidung in die Massen verlegt, also mehr in die Hände derer, die schon bei der Reichstagswahl überwiegen. Da sich allgemein einleuchtende Grundsätze für die Höherhebung einzelner Bürgergruppen nicht aufstellen lassen, so würden die nicht höher gehobenen Biirger sich für beein¬ trächtigt halten und geneigt sein, jedem Folge zu leisten, der diese Empfindlich¬ keit aufrührt. Die Entfesselung der Leidenschaft, des Neides würde geradezu nahe gelegt. Die Maximierung der Steuerleistung der Höchstbesteuerten verläßt den Boden der Tatsachen, fußt auf Annahmen und gibt dadurch Anlaß, das Staatsleben nicht von der Wirklichkeit, sondern von Theorien aus einzurichten. Die Wahlreform würde mithin ganz ähnlichen Vorstellungen von dem Staatsleben den Ausschlag geben wie das Reichstagswahlrecht. Ein nach diesem Wahlgesetz gewähltes preußisches Ab¬ geordnetenhaus würde aus ähnlichem Geiste geboren sein und nach ähnlichen Gesichtspunkten handeln wie der deutsche Reichstag. Es würde nicht so befähigt sein, auf die Bedürfnisse anderer Seiten des Volkslebens Bedacht zu nehmen mie das heutige preußische Abgeordnetenhaus. Die Wahlreform führte nicht dazu, unsere gesetzgebenden Körperschaften vielseitiger, vielmehr sie einseitiger zu machen. Sie wäre ein Schritt, der uns dem erstrebenswerten Ziel aller Staatseinrichtungen, einer umfassenden aus¬ gleichenden Gerechtigkeit, nicht näher brächte, sondern uns weiter davon entfernte. Wenn man die Absicht hatte, die Zwischenstufe der Wahlmänner abzuschaffen, also den Wahlmännern das ihnen durch die Verfassung, das höchste Landesgesetz,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/121
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/121>, abgerufen am 24.07.2024.