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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Die Aufgabe des deutschen Lürgertuins

geben, die in der ersten Körperschaft weniger zur Geltung kommen. Dieses ist
nur dadurch zu erreichen, daß man die zweite von ganz anderen Gesichtspunkten
aus wählen läßt als die erste, daß man ein ganz anderes Wahlsystem für sie
aufstellt. Je mehr einflußreiche, voneinander unabhängige, verschiedenartige gesetz¬
gebende Gewalten in einem Lande zusammenwirken, desto, eher wird jeder einzelne
Staatsbürger jemand finden, der sich seiner annimmt, desto größer wird die
Freiheit und desto umfassender und gleichmäßiger die Entwicklung des ganzen
Volkes sein.

In Deutschland haben wir für das Reich das allgemeine, gleiche, direkte,
geheime Stimmrecht. Die Wahlen erfolgen in großen Bezirken, wo Tausende
zusammen stimmen müssen, um eine Mehrheit zu bilden. Die Bürger müssen
in Massen zur Wahl herangeholt werden. Es ergibt sich die Notwendigkeit,
die Massen an sich zu fesseln, den Beifall großer Versammlungen zu erlangen.
Da man hierbei leichter zum Ziel kommt, wenn man sich an das Gefühl als
an den Verstand wendet, so wird das Bestreben wachgerufen, eine sich geneigte
Stimmung zu erregen und in dieser die Massen mit sich fortzureißen. Eine
solche Stimmung kann durch eine erhebende Begeisterung für hohe Ziele ent¬
zündet, aber auch von einer verheerenden Entfesselung niederer Leidenschaften
angefacht sein. Da letzteres leichter zu bewirken ist als ersteres, so birgt dies
Wahlsystem den Anreiz in sich, die Mehrheit mittelst niedriger Mittel zu gewinnen.

Während die Menschen verschieden sind nach äußerer Gestalt, Fähigkeiten,
Beschäftigungen und Lebensweise, gibt das Wahlsystem ihnen allen das gleiche
Recht, macht gewissermaßen alle einander gleich. Das Stimmrecht steht im
Gegensatze zur Wirklichkeit, beruht auf etwas Angenommenen, Gedachtem und
gibt damit Veranlassung, die Wirklichkeit zu vergessen und sich erdachten Vor¬
stellungen hinzugeben. Die Wahl ist direkt. Der Wähler soll sich kurzerhand
über schwerwiegende Fragen der großen Politik entscheiden, deren Tragweite er
noch nicht zu überblicken vermag. Es liegt nahe, daß er geneigt ist, sein
Augenmerk auf kleinere, ihm näherliegende Gesichtspunkte zu richten. So kann
es kommen, daß er sich um eines kleinen augenblicklichen Vorteils willen, be¬
sonders wenn ihm dieser recht verlockend vorgeführt wird, verleiten läßt, eine
in der Zukunft liegende bedeutungsvolle Entwicklung der Gesamtheit preis¬
zugeben. Die Abstimmung geschieht im geheimen. Der Bürger ist einerseits
auf sich allein angewiesen, und anderseits kann er von seinen Mitbürgern
nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Alle diese Umstände zusammen führen
dazu, daß bei diesem Wahlsystem die Anfachung niederer Leidenschaften, die
Anpreisung unbewiesener Theorien größeren Erfolg haben können als ernsthafte
Erwägungen und auf den tatsächlichen Verhältnissen fußende Darlegungen.

In Preußen wählen wir die Abgeordneten für den Landtag nach dem
Dreillassen-Wahlsystem. Die Urwähler für die Wahlmänner erfolgen in
kleinen Bezirken, in denen nur Nachbarn, die täglich miteinander in Berührung
kommen, gemeinsam abzustimmen haben. Die Bürger bleiben sich ihres Zu-


Die Aufgabe des deutschen Lürgertuins

geben, die in der ersten Körperschaft weniger zur Geltung kommen. Dieses ist
nur dadurch zu erreichen, daß man die zweite von ganz anderen Gesichtspunkten
aus wählen läßt als die erste, daß man ein ganz anderes Wahlsystem für sie
aufstellt. Je mehr einflußreiche, voneinander unabhängige, verschiedenartige gesetz¬
gebende Gewalten in einem Lande zusammenwirken, desto, eher wird jeder einzelne
Staatsbürger jemand finden, der sich seiner annimmt, desto größer wird die
Freiheit und desto umfassender und gleichmäßiger die Entwicklung des ganzen
Volkes sein.

In Deutschland haben wir für das Reich das allgemeine, gleiche, direkte,
geheime Stimmrecht. Die Wahlen erfolgen in großen Bezirken, wo Tausende
zusammen stimmen müssen, um eine Mehrheit zu bilden. Die Bürger müssen
in Massen zur Wahl herangeholt werden. Es ergibt sich die Notwendigkeit,
die Massen an sich zu fesseln, den Beifall großer Versammlungen zu erlangen.
Da man hierbei leichter zum Ziel kommt, wenn man sich an das Gefühl als
an den Verstand wendet, so wird das Bestreben wachgerufen, eine sich geneigte
Stimmung zu erregen und in dieser die Massen mit sich fortzureißen. Eine
solche Stimmung kann durch eine erhebende Begeisterung für hohe Ziele ent¬
zündet, aber auch von einer verheerenden Entfesselung niederer Leidenschaften
angefacht sein. Da letzteres leichter zu bewirken ist als ersteres, so birgt dies
Wahlsystem den Anreiz in sich, die Mehrheit mittelst niedriger Mittel zu gewinnen.

Während die Menschen verschieden sind nach äußerer Gestalt, Fähigkeiten,
Beschäftigungen und Lebensweise, gibt das Wahlsystem ihnen allen das gleiche
Recht, macht gewissermaßen alle einander gleich. Das Stimmrecht steht im
Gegensatze zur Wirklichkeit, beruht auf etwas Angenommenen, Gedachtem und
gibt damit Veranlassung, die Wirklichkeit zu vergessen und sich erdachten Vor¬
stellungen hinzugeben. Die Wahl ist direkt. Der Wähler soll sich kurzerhand
über schwerwiegende Fragen der großen Politik entscheiden, deren Tragweite er
noch nicht zu überblicken vermag. Es liegt nahe, daß er geneigt ist, sein
Augenmerk auf kleinere, ihm näherliegende Gesichtspunkte zu richten. So kann
es kommen, daß er sich um eines kleinen augenblicklichen Vorteils willen, be¬
sonders wenn ihm dieser recht verlockend vorgeführt wird, verleiten läßt, eine
in der Zukunft liegende bedeutungsvolle Entwicklung der Gesamtheit preis¬
zugeben. Die Abstimmung geschieht im geheimen. Der Bürger ist einerseits
auf sich allein angewiesen, und anderseits kann er von seinen Mitbürgern
nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Alle diese Umstände zusammen führen
dazu, daß bei diesem Wahlsystem die Anfachung niederer Leidenschaften, die
Anpreisung unbewiesener Theorien größeren Erfolg haben können als ernsthafte
Erwägungen und auf den tatsächlichen Verhältnissen fußende Darlegungen.

In Preußen wählen wir die Abgeordneten für den Landtag nach dem
Dreillassen-Wahlsystem. Die Urwähler für die Wahlmänner erfolgen in
kleinen Bezirken, in denen nur Nachbarn, die täglich miteinander in Berührung
kommen, gemeinsam abzustimmen haben. Die Bürger bleiben sich ihres Zu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/120>, abgerufen am 24.07.2024.