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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

in die Küche, trank kaltes Wasser, wusch sich das Gesicht und begoß sich den
Kopf. Schura war ihm gefolgt und half ihm dabei.

Er sprudelte das Wasser von sich und fluchte über seinen Leichtsinn, sich
zu betrinken.

"Schura," fragte er, "bist du auch betrunken?"

"Etwas geht es mir im Kopfe herum."

"Trinke nicht mehr. Wir zwei wollen vernünftig bleiben. Wir sind doch
die Wirte hier. Es kann sonst noch zu großem Skandal kommen."

"Ich werde nicht mehr trinken," versprach sie gehorsam.

Es gelang ihr nicht unbedingt, Wort zu halten. Während des Essens, bei
dem es unbeschreiblich übermütig und toll herging, verlangte Botscharow mehr¬
mals, daß die Mädchen der Reihe nach zu ihm traten, ihn küßten und ein volles
Glas leerten. Sie konnte sich nicht entziehen und blickte fragend auf Ssurikow-
Dieser nickte ihr genehmigend zu, trank selbst aber keinen Tropfen. -- --

Es war um die Frühstückzeit, als Botscharows halbverdeckter Wagen von
der Seite des Gutes her an Schejins Häusern vorbei in den Flecken rollte. Die
Pferde waren merkwürdig frisch und gar nicht beschwitzt. Dafür sah der Kutscher
Jlja recht angegriffen aus, gähnte und spuckte vom Bock zur Seite. Er blinzelte
Pfiffig in die Fenster, als er vorfuhr, und wäre fast gefallen, als er gegen seine
Gewohnheit mit einem Satze vom Bock springen wollte. Ssurikow stieg rasch
aus und klingelte. Als Annuschka, die Hauptmagd und Vertraute Anna
Dmitrijewnas, unerwarteterweise selbst öffnete, hatten die beiden Reisegefährten
den Hausherrn aus dem Wagen gehoben und fest unter die Arme gefaßt.

"Mein Gott, was ist mit Tit Grigorjewitsch?"

"Müde," sagte Ssurikow. "Kein Wunder. Die ganze Nacht nicht geschlafen,
und dazu der Ärger mit dem Verwalter."

"Halte das Maul, dumme Närrin!" herrschte zu gleicher Zeit Botscharow
mit eigentümlich steifer Zunge die Magd an.

In der größten Hast hatten die zwei Helfer ihn durch das Vorhaus und
Vorzimmer in das Kabinett halb getragen, halb geschleift. Der Kutscher eilte
zurück zu den Pferden, und Ssurikow wandte den Kopf und sagte mit Augen¬
zwinkern zu Annuschka:

"Tit Grigorjewitsch ist so angegriffen, daß er sich erst etwas ausschlafen will,
ehe er jemand sieht. Er ist doch schon zu schwach dazu, die Nacht in Geschäften
zu verbringen."

Diese Erklärung hörte auch Marja, die dem Vater entgegenlaufen wollte,
aber zu spät ankam.

"Warum geht Papa denn nicht ins Schlafzimmer?" fragte sie besorgt.

Ssurikow zuckte die Achseln.

"Strenger Befehl. Will sich Ihnen, Marja Titowna, und Anna Dmitrijewna
so ermüdet und von der Fahrt schmutzig nicht zeigen. Kann die Augen nicht mehr
offen halten. Will durchaus erst im Kabinett auf dem Diwan etwas ausruhen.
Soll niemand zu ihm. Strenger Befehl."

Er zog die Tür des Kabinetts hinter sich zu und verriegelte sie. So tat er
auch mit der, die aus dem Saal ins Kabinett führte.


Im Flecken

in die Küche, trank kaltes Wasser, wusch sich das Gesicht und begoß sich den
Kopf. Schura war ihm gefolgt und half ihm dabei.

Er sprudelte das Wasser von sich und fluchte über seinen Leichtsinn, sich
zu betrinken.

„Schura," fragte er, „bist du auch betrunken?"

„Etwas geht es mir im Kopfe herum."

„Trinke nicht mehr. Wir zwei wollen vernünftig bleiben. Wir sind doch
die Wirte hier. Es kann sonst noch zu großem Skandal kommen."

„Ich werde nicht mehr trinken," versprach sie gehorsam.

Es gelang ihr nicht unbedingt, Wort zu halten. Während des Essens, bei
dem es unbeschreiblich übermütig und toll herging, verlangte Botscharow mehr¬
mals, daß die Mädchen der Reihe nach zu ihm traten, ihn küßten und ein volles
Glas leerten. Sie konnte sich nicht entziehen und blickte fragend auf Ssurikow-
Dieser nickte ihr genehmigend zu, trank selbst aber keinen Tropfen. — —

Es war um die Frühstückzeit, als Botscharows halbverdeckter Wagen von
der Seite des Gutes her an Schejins Häusern vorbei in den Flecken rollte. Die
Pferde waren merkwürdig frisch und gar nicht beschwitzt. Dafür sah der Kutscher
Jlja recht angegriffen aus, gähnte und spuckte vom Bock zur Seite. Er blinzelte
Pfiffig in die Fenster, als er vorfuhr, und wäre fast gefallen, als er gegen seine
Gewohnheit mit einem Satze vom Bock springen wollte. Ssurikow stieg rasch
aus und klingelte. Als Annuschka, die Hauptmagd und Vertraute Anna
Dmitrijewnas, unerwarteterweise selbst öffnete, hatten die beiden Reisegefährten
den Hausherrn aus dem Wagen gehoben und fest unter die Arme gefaßt.

„Mein Gott, was ist mit Tit Grigorjewitsch?"

„Müde," sagte Ssurikow. „Kein Wunder. Die ganze Nacht nicht geschlafen,
und dazu der Ärger mit dem Verwalter."

„Halte das Maul, dumme Närrin!" herrschte zu gleicher Zeit Botscharow
mit eigentümlich steifer Zunge die Magd an.

In der größten Hast hatten die zwei Helfer ihn durch das Vorhaus und
Vorzimmer in das Kabinett halb getragen, halb geschleift. Der Kutscher eilte
zurück zu den Pferden, und Ssurikow wandte den Kopf und sagte mit Augen¬
zwinkern zu Annuschka:

„Tit Grigorjewitsch ist so angegriffen, daß er sich erst etwas ausschlafen will,
ehe er jemand sieht. Er ist doch schon zu schwach dazu, die Nacht in Geschäften
zu verbringen."

Diese Erklärung hörte auch Marja, die dem Vater entgegenlaufen wollte,
aber zu spät ankam.

„Warum geht Papa denn nicht ins Schlafzimmer?" fragte sie besorgt.

Ssurikow zuckte die Achseln.

„Strenger Befehl. Will sich Ihnen, Marja Titowna, und Anna Dmitrijewna
so ermüdet und von der Fahrt schmutzig nicht zeigen. Kann die Augen nicht mehr
offen halten. Will durchaus erst im Kabinett auf dem Diwan etwas ausruhen.
Soll niemand zu ihm. Strenger Befehl."

Er zog die Tür des Kabinetts hinter sich zu und verriegelte sie. So tat er
auch mit der, die aus dem Saal ins Kabinett führte.


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[0539] Im Flecken in die Küche, trank kaltes Wasser, wusch sich das Gesicht und begoß sich den Kopf. Schura war ihm gefolgt und half ihm dabei. Er sprudelte das Wasser von sich und fluchte über seinen Leichtsinn, sich zu betrinken. „Schura," fragte er, „bist du auch betrunken?" „Etwas geht es mir im Kopfe herum." „Trinke nicht mehr. Wir zwei wollen vernünftig bleiben. Wir sind doch die Wirte hier. Es kann sonst noch zu großem Skandal kommen." „Ich werde nicht mehr trinken," versprach sie gehorsam. Es gelang ihr nicht unbedingt, Wort zu halten. Während des Essens, bei dem es unbeschreiblich übermütig und toll herging, verlangte Botscharow mehr¬ mals, daß die Mädchen der Reihe nach zu ihm traten, ihn küßten und ein volles Glas leerten. Sie konnte sich nicht entziehen und blickte fragend auf Ssurikow- Dieser nickte ihr genehmigend zu, trank selbst aber keinen Tropfen. — — Es war um die Frühstückzeit, als Botscharows halbverdeckter Wagen von der Seite des Gutes her an Schejins Häusern vorbei in den Flecken rollte. Die Pferde waren merkwürdig frisch und gar nicht beschwitzt. Dafür sah der Kutscher Jlja recht angegriffen aus, gähnte und spuckte vom Bock zur Seite. Er blinzelte Pfiffig in die Fenster, als er vorfuhr, und wäre fast gefallen, als er gegen seine Gewohnheit mit einem Satze vom Bock springen wollte. Ssurikow stieg rasch aus und klingelte. Als Annuschka, die Hauptmagd und Vertraute Anna Dmitrijewnas, unerwarteterweise selbst öffnete, hatten die beiden Reisegefährten den Hausherrn aus dem Wagen gehoben und fest unter die Arme gefaßt. „Mein Gott, was ist mit Tit Grigorjewitsch?" „Müde," sagte Ssurikow. „Kein Wunder. Die ganze Nacht nicht geschlafen, und dazu der Ärger mit dem Verwalter." „Halte das Maul, dumme Närrin!" herrschte zu gleicher Zeit Botscharow mit eigentümlich steifer Zunge die Magd an. In der größten Hast hatten die zwei Helfer ihn durch das Vorhaus und Vorzimmer in das Kabinett halb getragen, halb geschleift. Der Kutscher eilte zurück zu den Pferden, und Ssurikow wandte den Kopf und sagte mit Augen¬ zwinkern zu Annuschka: „Tit Grigorjewitsch ist so angegriffen, daß er sich erst etwas ausschlafen will, ehe er jemand sieht. Er ist doch schon zu schwach dazu, die Nacht in Geschäften zu verbringen." Diese Erklärung hörte auch Marja, die dem Vater entgegenlaufen wollte, aber zu spät ankam. „Warum geht Papa denn nicht ins Schlafzimmer?" fragte sie besorgt. Ssurikow zuckte die Achseln. „Strenger Befehl. Will sich Ihnen, Marja Titowna, und Anna Dmitrijewna so ermüdet und von der Fahrt schmutzig nicht zeigen. Kann die Augen nicht mehr offen halten. Will durchaus erst im Kabinett auf dem Diwan etwas ausruhen. Soll niemand zu ihm. Strenger Befehl." Er zog die Tür des Kabinetts hinter sich zu und verriegelte sie. So tat er auch mit der, die aus dem Saal ins Kabinett führte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/539>, abgerufen am 23.07.2024.