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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Zum hundertsten Geburtstag Alfred de INusscts

Goethe hat er ein Goethesches Gedicht "Selbstbetrug" nachgedichtet. Vielleicht
hat ihn der Anfang des Gedichtes (Der Vorhang schwebet hin und her) an einen
Vers seines Jugendgedichtes "I^/mäÄl0U8ö" erinnert: ()uimä son ncZsau
tremblait an vent.

Deutsche Musik liebte er über alles. Er verstand den deutschen Genius,
wie er sich in den Werken unserer Tonheroen ausspricht*).

Trotz seines Wohlwollens für Deutschland hat seine Muse einmal einen
feindlichen Ton gegen unser Vaterland angeschlagen. Es war im Jahre
1841, in einer Zeit großer nationaler Erregung. Die Wendung, welche die
orientalische Frage genommen, hatte die kriegerischen Leidenschaften der
Franzosen entflammt und den alten Ruf nach der Rheingrenze wieder
ertönen lassen. Aus Deutschland schallten ebenso kriegerische Klänge zurück.
Der alte Arndt sang damals sein Sturmlied ("Und brauset der Sturm¬
wind des Krieges heran"). Ani mächtigsten aber zündete das Rheinlied
von Nikolaus Becker: "Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein".
Das Lied wurde (nach Pelzel) etwa hundertundfünfzigmal komponiert. In
Frankreich entrüstete man sich gewaltig über die ziemlich harmlosen Verse, in
denen man eine Verhöhnung und Herausforderung erblickte. Fortgerissen von
der allgemeinen patriotischen Woge schrieb Musset als Antwort seinen "l?Kilt
allemÄnä" (I>lou8 I'avon8 en, votre Kulm allemaiich, spöttische und scharfe,
aber poetisch schwungvolle Strophen, die in Frankreich beinahe ebenso viel
Erfolg hatten wie Beckers Rheinlied in Deutschland (allerdings wurden sie
nur etwa fünfzigmal in Musik gesetzt!).

Müssets Zorn war bald verraucht; jede Spur von Chauvinismus lag ihn:
fern. Elf Jahre später verfaßte er die Kantate "I^e Lkemt as8 ami8", in der
er den Frieden und die Verbrüderung der Völker verherrlicht. (I^e KKin n'e8t
plus uns kwntiere. ^,mi8 c'e8t notre Zranci Liiemin etc.)

Die letzte Lebensperiode des Dichters war höchst traurig. Seine Schaffens¬
kraft und Schaffenslust war gelähmt, seine Gesundheit zerrüttet. Ein Herzleiden
hatte sich eingestellt und wurde durch seine unregelmäßige Lebensweise begünstigt.
Er selbst hat in seinem letzten Gedicht seinen trostlosen Zustand ergreifend
geschildert:'

Der Tod nahte ihm sanft als Erlöser. In seinen Fieberphantasien um-
rauschten ihn die Weisen seiner Lieblingsmeister Beethoven, Mozart, Schubert.
In der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1857 schloß der Schlaf seine Augen sür



-) Über die Beziehungen Müssets zu Deutschland tgi. den Aufsatz des Verf. in Behrens
"Ztschr. für franz. Sprache und Literatur" 1909. Auch im Sonderdruck.
Zum hundertsten Geburtstag Alfred de INusscts

Goethe hat er ein Goethesches Gedicht „Selbstbetrug" nachgedichtet. Vielleicht
hat ihn der Anfang des Gedichtes (Der Vorhang schwebet hin und her) an einen
Vers seines Jugendgedichtes „I^/mäÄl0U8ö" erinnert: ()uimä son ncZsau
tremblait an vent.

Deutsche Musik liebte er über alles. Er verstand den deutschen Genius,
wie er sich in den Werken unserer Tonheroen ausspricht*).

Trotz seines Wohlwollens für Deutschland hat seine Muse einmal einen
feindlichen Ton gegen unser Vaterland angeschlagen. Es war im Jahre
1841, in einer Zeit großer nationaler Erregung. Die Wendung, welche die
orientalische Frage genommen, hatte die kriegerischen Leidenschaften der
Franzosen entflammt und den alten Ruf nach der Rheingrenze wieder
ertönen lassen. Aus Deutschland schallten ebenso kriegerische Klänge zurück.
Der alte Arndt sang damals sein Sturmlied („Und brauset der Sturm¬
wind des Krieges heran"). Ani mächtigsten aber zündete das Rheinlied
von Nikolaus Becker: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein".
Das Lied wurde (nach Pelzel) etwa hundertundfünfzigmal komponiert. In
Frankreich entrüstete man sich gewaltig über die ziemlich harmlosen Verse, in
denen man eine Verhöhnung und Herausforderung erblickte. Fortgerissen von
der allgemeinen patriotischen Woge schrieb Musset als Antwort seinen „l?Kilt
allemÄnä" (I>lou8 I'avon8 en, votre Kulm allemaiich, spöttische und scharfe,
aber poetisch schwungvolle Strophen, die in Frankreich beinahe ebenso viel
Erfolg hatten wie Beckers Rheinlied in Deutschland (allerdings wurden sie
nur etwa fünfzigmal in Musik gesetzt!).

Müssets Zorn war bald verraucht; jede Spur von Chauvinismus lag ihn:
fern. Elf Jahre später verfaßte er die Kantate „I^e Lkemt as8 ami8", in der
er den Frieden und die Verbrüderung der Völker verherrlicht. (I^e KKin n'e8t
plus uns kwntiere. ^,mi8 c'e8t notre Zranci Liiemin etc.)

Die letzte Lebensperiode des Dichters war höchst traurig. Seine Schaffens¬
kraft und Schaffenslust war gelähmt, seine Gesundheit zerrüttet. Ein Herzleiden
hatte sich eingestellt und wurde durch seine unregelmäßige Lebensweise begünstigt.
Er selbst hat in seinem letzten Gedicht seinen trostlosen Zustand ergreifend
geschildert:'

Der Tod nahte ihm sanft als Erlöser. In seinen Fieberphantasien um-
rauschten ihn die Weisen seiner Lieblingsmeister Beethoven, Mozart, Schubert.
In der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1857 schloß der Schlaf seine Augen sür



-) Über die Beziehungen Müssets zu Deutschland tgi. den Aufsatz des Verf. in Behrens
„Ztschr. für franz. Sprache und Literatur" 1909. Auch im Sonderdruck.
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[0473] Zum hundertsten Geburtstag Alfred de INusscts Goethe hat er ein Goethesches Gedicht „Selbstbetrug" nachgedichtet. Vielleicht hat ihn der Anfang des Gedichtes (Der Vorhang schwebet hin und her) an einen Vers seines Jugendgedichtes „I^/mäÄl0U8ö" erinnert: ()uimä son ncZsau tremblait an vent. Deutsche Musik liebte er über alles. Er verstand den deutschen Genius, wie er sich in den Werken unserer Tonheroen ausspricht*). Trotz seines Wohlwollens für Deutschland hat seine Muse einmal einen feindlichen Ton gegen unser Vaterland angeschlagen. Es war im Jahre 1841, in einer Zeit großer nationaler Erregung. Die Wendung, welche die orientalische Frage genommen, hatte die kriegerischen Leidenschaften der Franzosen entflammt und den alten Ruf nach der Rheingrenze wieder ertönen lassen. Aus Deutschland schallten ebenso kriegerische Klänge zurück. Der alte Arndt sang damals sein Sturmlied („Und brauset der Sturm¬ wind des Krieges heran"). Ani mächtigsten aber zündete das Rheinlied von Nikolaus Becker: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein". Das Lied wurde (nach Pelzel) etwa hundertundfünfzigmal komponiert. In Frankreich entrüstete man sich gewaltig über die ziemlich harmlosen Verse, in denen man eine Verhöhnung und Herausforderung erblickte. Fortgerissen von der allgemeinen patriotischen Woge schrieb Musset als Antwort seinen „l?Kilt allemÄnä" (I>lou8 I'avon8 en, votre Kulm allemaiich, spöttische und scharfe, aber poetisch schwungvolle Strophen, die in Frankreich beinahe ebenso viel Erfolg hatten wie Beckers Rheinlied in Deutschland (allerdings wurden sie nur etwa fünfzigmal in Musik gesetzt!). Müssets Zorn war bald verraucht; jede Spur von Chauvinismus lag ihn: fern. Elf Jahre später verfaßte er die Kantate „I^e Lkemt as8 ami8", in der er den Frieden und die Verbrüderung der Völker verherrlicht. (I^e KKin n'e8t plus uns kwntiere. ^,mi8 c'e8t notre Zranci Liiemin etc.) Die letzte Lebensperiode des Dichters war höchst traurig. Seine Schaffens¬ kraft und Schaffenslust war gelähmt, seine Gesundheit zerrüttet. Ein Herzleiden hatte sich eingestellt und wurde durch seine unregelmäßige Lebensweise begünstigt. Er selbst hat in seinem letzten Gedicht seinen trostlosen Zustand ergreifend geschildert:' Der Tod nahte ihm sanft als Erlöser. In seinen Fieberphantasien um- rauschten ihn die Weisen seiner Lieblingsmeister Beethoven, Mozart, Schubert. In der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1857 schloß der Schlaf seine Augen sür -) Über die Beziehungen Müssets zu Deutschland tgi. den Aufsatz des Verf. in Behrens „Ztschr. für franz. Sprache und Literatur" 1909. Auch im Sonderdruck.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/473>, abgerufen am 22.07.2024.