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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Iltussets

Den größten und verhängnisvollsten Einfluß übte auf ihn das romantische
Liebesverhältnis mit George Sand, das mit den frohesten Hoffnungen begann,
in seinem Verlaufe aber zu trüben Verstimmungen, zu Kämpfen und Krankheit
und schließlich zur völligen Trennung führte. Beide Naturen waren einander
zu verwandt -- Musset selbst hat ihre Verbindung nachher als Jnzest bezeichnet --
anderseits zu verschieden; beide genial veranlagt, schwärmerisch, überschwenglich
in ihren Ansprüchen an Glück und Liebe, beide stolze, zu Unterordnung und
Anpassung wenig befähigte Charaktere; anderseits ist Musset Aristokrat, dem
Lebensgenuß ergeben, George Sand Bourgeois", an geregelte Arbeit gewöhnt.
Er schrieb, wenn ihn die Laune dazu anwandelte; sie schrieb eigentlich immer,
wenn sie nicht mit weiblichen Arbeiten beschäftigt war oder Studien von Land
und Leuten machte, über die sie wieder schreiben konnte. Die Hanptursache der
Trennung war allerdings Müssets reizbarer, unbeständiger Charakter.

Musset hat dieser unglücklichen Liebe viele Tränen nachgeweint. Aber diese
Tränen haben seine Poesie befruchtet. Er selbst hat es ausgesprochen:


I^es moissons pour mürir ont besoin als roses,
pour viole et pour sentir I'Komme a besoin cle pleurs.

Die seelischen Erschütterungen haben sein Genie zur Reife gebracht und
ihn in den "Nachtgesängen" <Mit8), der "heitre et l^martine", dem Nachruf
auf die Sängerin Malibran, dein "Souvenir" den Höhepunkt seiner Lyrik
erreichen lassen. Ein Gott gab ihm, zu sagen, was er gelitten. In abgeklärter
klassischer Form spricht er seine Gefühle aus, und nur selten zuckt der Schmerz
noch in ihm auf. Seine Wehmut trägt nicht selten eine gewisse religiöse Färbung.

Musset hat sich in seinem Leben viel mit religiösen und philosophischen
Fragen beschäftigt. Er war, wie George Sand, "tounnente clef L>lose8
äivineg". Es war für sein weiches, im Grunde kindliches Gemüt ein Bedürfnis,
an einen gütigen Gott und eine Vorsehung zu glauben, aber sein grübelnder
Verstand stellte sich dem Glauben entgegen. Auch hierin offenbart sich der
Zwiespalt seines Wesens. George Sand läßt ihn in ihrem Roman "LIIs et
I^ni", der ihr Verhältnis mit Musset schildert, seine Stellung zum Gottesglauben
treffend mit den Worten kennzeichnen: ^'aime vieu, ma>8 je lie crois PÄ3
en lui.

In seiner Jugend hat er gesagt:

Ganz anders spricht er in seinen späteren Werken:


l'on Ane est Immortelle et tes pleurs vont körr.
(Deine Seele ist unsterblich, und deine Tränen werden trockne",)
cui percl tout Ölen rests encors,
Ölen lÄ-liÄut, I'espoir lei-bas.

Zwischen seine größeren Dichtungen hat er wieder eine Anzahl kleinerer
eingeflochten, unter denen sich wahre Perlen befinden. Ich erwähne "Une


Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Iltussets

Den größten und verhängnisvollsten Einfluß übte auf ihn das romantische
Liebesverhältnis mit George Sand, das mit den frohesten Hoffnungen begann,
in seinem Verlaufe aber zu trüben Verstimmungen, zu Kämpfen und Krankheit
und schließlich zur völligen Trennung führte. Beide Naturen waren einander
zu verwandt — Musset selbst hat ihre Verbindung nachher als Jnzest bezeichnet —
anderseits zu verschieden; beide genial veranlagt, schwärmerisch, überschwenglich
in ihren Ansprüchen an Glück und Liebe, beide stolze, zu Unterordnung und
Anpassung wenig befähigte Charaktere; anderseits ist Musset Aristokrat, dem
Lebensgenuß ergeben, George Sand Bourgeois«, an geregelte Arbeit gewöhnt.
Er schrieb, wenn ihn die Laune dazu anwandelte; sie schrieb eigentlich immer,
wenn sie nicht mit weiblichen Arbeiten beschäftigt war oder Studien von Land
und Leuten machte, über die sie wieder schreiben konnte. Die Hanptursache der
Trennung war allerdings Müssets reizbarer, unbeständiger Charakter.

Musset hat dieser unglücklichen Liebe viele Tränen nachgeweint. Aber diese
Tränen haben seine Poesie befruchtet. Er selbst hat es ausgesprochen:


I^es moissons pour mürir ont besoin als roses,
pour viole et pour sentir I'Komme a besoin cle pleurs.

Die seelischen Erschütterungen haben sein Genie zur Reife gebracht und
ihn in den „Nachtgesängen" <Mit8), der „heitre et l^martine", dem Nachruf
auf die Sängerin Malibran, dein „Souvenir" den Höhepunkt seiner Lyrik
erreichen lassen. Ein Gott gab ihm, zu sagen, was er gelitten. In abgeklärter
klassischer Form spricht er seine Gefühle aus, und nur selten zuckt der Schmerz
noch in ihm auf. Seine Wehmut trägt nicht selten eine gewisse religiöse Färbung.

Musset hat sich in seinem Leben viel mit religiösen und philosophischen
Fragen beschäftigt. Er war, wie George Sand, „tounnente clef L>lose8
äivineg". Es war für sein weiches, im Grunde kindliches Gemüt ein Bedürfnis,
an einen gütigen Gott und eine Vorsehung zu glauben, aber sein grübelnder
Verstand stellte sich dem Glauben entgegen. Auch hierin offenbart sich der
Zwiespalt seines Wesens. George Sand läßt ihn in ihrem Roman „LIIs et
I^ni", der ihr Verhältnis mit Musset schildert, seine Stellung zum Gottesglauben
treffend mit den Worten kennzeichnen: ^'aime vieu, ma>8 je lie crois PÄ3
en lui.

In seiner Jugend hat er gesagt:

Ganz anders spricht er in seinen späteren Werken:


l'on Ane est Immortelle et tes pleurs vont körr.
(Deine Seele ist unsterblich, und deine Tränen werden trockne»,)
cui percl tout Ölen rests encors,
Ölen lÄ-liÄut, I'espoir lei-bas.

Zwischen seine größeren Dichtungen hat er wieder eine Anzahl kleinerer
eingeflochten, unter denen sich wahre Perlen befinden. Ich erwähne „Une


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[0470] Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Iltussets Den größten und verhängnisvollsten Einfluß übte auf ihn das romantische Liebesverhältnis mit George Sand, das mit den frohesten Hoffnungen begann, in seinem Verlaufe aber zu trüben Verstimmungen, zu Kämpfen und Krankheit und schließlich zur völligen Trennung führte. Beide Naturen waren einander zu verwandt — Musset selbst hat ihre Verbindung nachher als Jnzest bezeichnet — anderseits zu verschieden; beide genial veranlagt, schwärmerisch, überschwenglich in ihren Ansprüchen an Glück und Liebe, beide stolze, zu Unterordnung und Anpassung wenig befähigte Charaktere; anderseits ist Musset Aristokrat, dem Lebensgenuß ergeben, George Sand Bourgeois«, an geregelte Arbeit gewöhnt. Er schrieb, wenn ihn die Laune dazu anwandelte; sie schrieb eigentlich immer, wenn sie nicht mit weiblichen Arbeiten beschäftigt war oder Studien von Land und Leuten machte, über die sie wieder schreiben konnte. Die Hanptursache der Trennung war allerdings Müssets reizbarer, unbeständiger Charakter. Musset hat dieser unglücklichen Liebe viele Tränen nachgeweint. Aber diese Tränen haben seine Poesie befruchtet. Er selbst hat es ausgesprochen: I^es moissons pour mürir ont besoin als roses, pour viole et pour sentir I'Komme a besoin cle pleurs. Die seelischen Erschütterungen haben sein Genie zur Reife gebracht und ihn in den „Nachtgesängen" <Mit8), der „heitre et l^martine", dem Nachruf auf die Sängerin Malibran, dein „Souvenir" den Höhepunkt seiner Lyrik erreichen lassen. Ein Gott gab ihm, zu sagen, was er gelitten. In abgeklärter klassischer Form spricht er seine Gefühle aus, und nur selten zuckt der Schmerz noch in ihm auf. Seine Wehmut trägt nicht selten eine gewisse religiöse Färbung. Musset hat sich in seinem Leben viel mit religiösen und philosophischen Fragen beschäftigt. Er war, wie George Sand, „tounnente clef L>lose8 äivineg". Es war für sein weiches, im Grunde kindliches Gemüt ein Bedürfnis, an einen gütigen Gott und eine Vorsehung zu glauben, aber sein grübelnder Verstand stellte sich dem Glauben entgegen. Auch hierin offenbart sich der Zwiespalt seines Wesens. George Sand läßt ihn in ihrem Roman „LIIs et I^ni", der ihr Verhältnis mit Musset schildert, seine Stellung zum Gottesglauben treffend mit den Worten kennzeichnen: ^'aime vieu, ma>8 je lie crois PÄ3 en lui. In seiner Jugend hat er gesagt: Ganz anders spricht er in seinen späteren Werken: l'on Ane est Immortelle et tes pleurs vont körr. (Deine Seele ist unsterblich, und deine Tränen werden trockne»,) cui percl tout Ölen rests encors, Ölen lÄ-liÄut, I'espoir lei-bas. Zwischen seine größeren Dichtungen hat er wieder eine Anzahl kleinerer eingeflochten, unter denen sich wahre Perlen befinden. Ich erwähne „Une

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/470>, abgerufen am 23.07.2024.