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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets

zu schließen, wird er "zwischen Lipp' und Kelchesrand" von der Tücke des
Geschicks ereilt. Der Kern und die Lehre des Ganzen ist Franks Ausspruch
gegen die DöbaucKe:

Ein heiteres Gegenbild zu dem düsteren Gemälde ist das zweiaktige roman¬
tische Lustspiel quoi rövent Iss jeunes litte8", "Wovon die jungen Mädchen
träumen". Es mutet uns an wie ein Märchen- oder Schäferspiel. Die
Handlung hat nie und nirgends sich begeben. Aber die Verse sind voll Wohllaut
und duftiger Poesie, und das Erwachet! der Liebe in den jungfräulichen Herzen
ist außerordentlich zart geschildert. Das Stückchen steht unter dem freundlichen
Zeichen Jean Pauls, auf den Musset sehr viel hielt und dem er zwei Aufsätze
gewidmet hat.

Diesen beiden Stücken hat der Dichter eine poetische Erzählung "t^rnouna,
corto oriental", zugesellt. Sie zeigt im Stil Byronschen Einfluß. Berühmt ist
die glänzende Apotheose des Don Juan im zweiten Gesang. Die Don Juan-
Gestalt hat für Musset immer einen großen Reiz gehabt, ganz besonders in ihrer
Verherrlichung durch Mozart. Er schildert sie hier in einer idealen Verklärung.
Don Juan ist ein herrlicher Jüngling.

Musset hat wesentliche Züge seines Don Juan bei unserem deutschen Dichter
E. Th. A. Hoffmann in den Phantasiestücken 1. Ur. IV, gefunden. Auch Müssets
Schilderung ist ein "Phantasiestück". Ist es nicht eine kühne Phantasie, wenn
er Don Juan mit Christus vergleicht?


Kameau trsmdlant encor cle l'arbrs ete la vie,
1'onde annuae le Llirist pnur aimer et soukirir.

Don Juan sucht das Ideal der Liebe in Tausenden von Frauen:


l'rois mille noms eliarrnants! trois mitis noms cle remms!
Pas un qu'avsc clef pleurs tu n'ales balbutis.

Diese Sentimentalität Don Juans ist ein Mussetscher Zug. Musset hat
sich im Don Juan selbst gezeichnet. Auch ihm hat ja in einer seiner Chansons
sein "schwaches Herz" eingestanden, daß der Reiz der Liebe im ewigen Wechsel
liege, ein Bekenntnis, das wir in der Tat nur als Schwäche erkennen können,
solange das Wort von der deutscheu Treue noch etwas bei uns gilt.

Auch in der genialen epischen Dichtung "Kolin" wird die Liebe als die
leuchtende Göttin der Erde geschildert, die selbst in die dunkle Höhle des Lasters
ihre Strahlen sendet. Diese Vergötterung der Liebe ist echt romantisch, und
Musset erscheint in der Tat seinem Wesen nach als Romantiker, wenn er auch
nicht zur Fahne der Romantik schwört. So folgte er denn auch dem roman¬
tischen Brauch, die Romantik ins eigene Leben zu übertragen.


Grenzboten IV 1910 58
Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets

zu schließen, wird er „zwischen Lipp' und Kelchesrand" von der Tücke des
Geschicks ereilt. Der Kern und die Lehre des Ganzen ist Franks Ausspruch
gegen die DöbaucKe:

Ein heiteres Gegenbild zu dem düsteren Gemälde ist das zweiaktige roman¬
tische Lustspiel quoi rövent Iss jeunes litte8", „Wovon die jungen Mädchen
träumen". Es mutet uns an wie ein Märchen- oder Schäferspiel. Die
Handlung hat nie und nirgends sich begeben. Aber die Verse sind voll Wohllaut
und duftiger Poesie, und das Erwachet! der Liebe in den jungfräulichen Herzen
ist außerordentlich zart geschildert. Das Stückchen steht unter dem freundlichen
Zeichen Jean Pauls, auf den Musset sehr viel hielt und dem er zwei Aufsätze
gewidmet hat.

Diesen beiden Stücken hat der Dichter eine poetische Erzählung „t^rnouna,
corto oriental", zugesellt. Sie zeigt im Stil Byronschen Einfluß. Berühmt ist
die glänzende Apotheose des Don Juan im zweiten Gesang. Die Don Juan-
Gestalt hat für Musset immer einen großen Reiz gehabt, ganz besonders in ihrer
Verherrlichung durch Mozart. Er schildert sie hier in einer idealen Verklärung.
Don Juan ist ein herrlicher Jüngling.

Musset hat wesentliche Züge seines Don Juan bei unserem deutschen Dichter
E. Th. A. Hoffmann in den Phantasiestücken 1. Ur. IV, gefunden. Auch Müssets
Schilderung ist ein „Phantasiestück". Ist es nicht eine kühne Phantasie, wenn
er Don Juan mit Christus vergleicht?


Kameau trsmdlant encor cle l'arbrs ete la vie,
1'onde annuae le Llirist pnur aimer et soukirir.

Don Juan sucht das Ideal der Liebe in Tausenden von Frauen:


l'rois mille noms eliarrnants! trois mitis noms cle remms!
Pas un qu'avsc clef pleurs tu n'ales balbutis.

Diese Sentimentalität Don Juans ist ein Mussetscher Zug. Musset hat
sich im Don Juan selbst gezeichnet. Auch ihm hat ja in einer seiner Chansons
sein „schwaches Herz" eingestanden, daß der Reiz der Liebe im ewigen Wechsel
liege, ein Bekenntnis, das wir in der Tat nur als Schwäche erkennen können,
solange das Wort von der deutscheu Treue noch etwas bei uns gilt.

Auch in der genialen epischen Dichtung „Kolin" wird die Liebe als die
leuchtende Göttin der Erde geschildert, die selbst in die dunkle Höhle des Lasters
ihre Strahlen sendet. Diese Vergötterung der Liebe ist echt romantisch, und
Musset erscheint in der Tat seinem Wesen nach als Romantiker, wenn er auch
nicht zur Fahne der Romantik schwört. So folgte er denn auch dem roman¬
tischen Brauch, die Romantik ins eigene Leben zu übertragen.


Grenzboten IV 1910 58
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[0469] Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets zu schließen, wird er „zwischen Lipp' und Kelchesrand" von der Tücke des Geschicks ereilt. Der Kern und die Lehre des Ganzen ist Franks Ausspruch gegen die DöbaucKe: Ein heiteres Gegenbild zu dem düsteren Gemälde ist das zweiaktige roman¬ tische Lustspiel quoi rövent Iss jeunes litte8", „Wovon die jungen Mädchen träumen". Es mutet uns an wie ein Märchen- oder Schäferspiel. Die Handlung hat nie und nirgends sich begeben. Aber die Verse sind voll Wohllaut und duftiger Poesie, und das Erwachet! der Liebe in den jungfräulichen Herzen ist außerordentlich zart geschildert. Das Stückchen steht unter dem freundlichen Zeichen Jean Pauls, auf den Musset sehr viel hielt und dem er zwei Aufsätze gewidmet hat. Diesen beiden Stücken hat der Dichter eine poetische Erzählung „t^rnouna, corto oriental", zugesellt. Sie zeigt im Stil Byronschen Einfluß. Berühmt ist die glänzende Apotheose des Don Juan im zweiten Gesang. Die Don Juan- Gestalt hat für Musset immer einen großen Reiz gehabt, ganz besonders in ihrer Verherrlichung durch Mozart. Er schildert sie hier in einer idealen Verklärung. Don Juan ist ein herrlicher Jüngling. Musset hat wesentliche Züge seines Don Juan bei unserem deutschen Dichter E. Th. A. Hoffmann in den Phantasiestücken 1. Ur. IV, gefunden. Auch Müssets Schilderung ist ein „Phantasiestück". Ist es nicht eine kühne Phantasie, wenn er Don Juan mit Christus vergleicht? Kameau trsmdlant encor cle l'arbrs ete la vie, 1'onde annuae le Llirist pnur aimer et soukirir. Don Juan sucht das Ideal der Liebe in Tausenden von Frauen: l'rois mille noms eliarrnants! trois mitis noms cle remms! Pas un qu'avsc clef pleurs tu n'ales balbutis. Diese Sentimentalität Don Juans ist ein Mussetscher Zug. Musset hat sich im Don Juan selbst gezeichnet. Auch ihm hat ja in einer seiner Chansons sein „schwaches Herz" eingestanden, daß der Reiz der Liebe im ewigen Wechsel liege, ein Bekenntnis, das wir in der Tat nur als Schwäche erkennen können, solange das Wort von der deutscheu Treue noch etwas bei uns gilt. Auch in der genialen epischen Dichtung „Kolin" wird die Liebe als die leuchtende Göttin der Erde geschildert, die selbst in die dunkle Höhle des Lasters ihre Strahlen sendet. Diese Vergötterung der Liebe ist echt romantisch, und Musset erscheint in der Tat seinem Wesen nach als Romantiker, wenn er auch nicht zur Fahne der Romantik schwört. So folgte er denn auch dem roman¬ tischen Brauch, die Romantik ins eigene Leben zu übertragen. Grenzboten IV 1910 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/469>, abgerufen am 23.07.2024.