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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Wilhelm Rande und Berlin

weben sich doch zusammen zu einer wundersamen, tiefen Harmonie von Ringen,
Leiden, Entsagen, Überwinden und treulichen Beisteheu. Unsagbar zart sind die
Umrisse des armen Dirnchens in das Bild gezeichnet, mit tiefgütiger Liebe des
unstet irrenden Flattergeschöpfes geheimstes Scelenatmen erhörest: die Hand, die
den Augenblick zu gestalten vermocht hat, wie in der grauen Herbstfrühe dies
Wesen die einzige Schwester aus dem Lande der Lebenden ist, die die Mutter
der beiden Kinder zur Erde betten hilft, war geleitet von der reifsten Dichter¬
kraft und von lauterster Menschenliebe.

Und noch einmal ist Berlin die Stätte, an der sich in dem spätesten der
größeren Werke Raabes ein letztes Schicksal erfüllt. Die "Akten des Vogelfangs",
die der Dichter im siebenten Jahrzehnt seines Lebens geschaffen, sind unter all
seinen Gegenwartsbüchern das gedrängteste, reifste, größte. Gestalten und
Begebenheiten begegnen darin, wie sie Raabe anch früher schon hingestellt hat,
aber nun schafft er sie noch einmal neu, mit einer Einschränkung auf die
zwingend notwendigen Züge und eben darum mit einer Steigerung, die ihrem
Eindruck eine unvergleichbare Macht gibt. Da grüßt wieder aus glanzumwobener
Ferne her eine enge, liebe, trauliche Jugendheimat -- aber so wundersam
lichtverklärt hat sie der Dichter selbst noch nie zuvor gesehen. Da läßt er noch
einmal herzhafte Bubenfreundschaft und tiefe frühe Liebe fort und fort durchs
Leben wirken: aber noch nie sind ihn: aus den Menschen, deren Schicksale er
je und je durcheinander flocht, so ewig gültige Individuen erwachsen. Und
kaum jemals hat er ein Menschengeschick mit so verhaltener, gesammelter Wucht
gestaltet wie seines Velten Andres Lebensringen um das eine trotzige Frauen¬
wesen, nach dem alle Kräfte seiner Seele trachten, und zuletzt um ein fühlloses
Herz, um die Kraft zum schwersten, alles dahingehender Entsagen.

Dem Werdenden hat einst Berlin geholfen, im Denken wie im Leben seine
eigene Prügung vollends an sich herauszuarbeiten. Weitab von den Allerwelts-
wegen des übrigen Studiervolks hatte er sich da mit ein paar seltsam zusammen-
stimmenden Menschen ein eigenes weltverlorenes Reich erschlossen -- aber sein
klar gesunder Geist blies doch all der phantasiefrohen Romantik einen gar
kräftigen Odem ein. Und all der Genossen still wachsende Jugend nährte sich
von der Überfülle drängenden Lebens, die von dem einen herströmte, und
wärmte sich froh an der starken, lauteren Glut seiner Seele.

Dem Verarmten, Gebrochenen, der von kühnen, abenteuerlichen Fahrten
durch die Welt wie von verzweifeltem Jrrgang wiederkehrt, sind die Sterne der
Heimat längst erloschen -- so hackt er unbarmherzig selbst in Stücke, was ihn
dort noch an die Scholle heften will, begräbt, vernichtet, verschenkt, was ihm
zuinnerst ans Herz gewachsen war, und geht dahin in seine letzte Einsamkeit --
in die große Stadt. Und noch einmal umfängt ihn die traumhafte Stille, die
ihm mitten im Herzen von Berlin bereitet ist, in dem wundersamen Hofbereich
der Dorotheenstraße. Da blicken noch einmal die stillen, klaglosen Augen der
zarten Mädchenseele aus dem Stamm und Blut der proper?ausehen Säuger in


Wilhelm Rande und Berlin

weben sich doch zusammen zu einer wundersamen, tiefen Harmonie von Ringen,
Leiden, Entsagen, Überwinden und treulichen Beisteheu. Unsagbar zart sind die
Umrisse des armen Dirnchens in das Bild gezeichnet, mit tiefgütiger Liebe des
unstet irrenden Flattergeschöpfes geheimstes Scelenatmen erhörest: die Hand, die
den Augenblick zu gestalten vermocht hat, wie in der grauen Herbstfrühe dies
Wesen die einzige Schwester aus dem Lande der Lebenden ist, die die Mutter
der beiden Kinder zur Erde betten hilft, war geleitet von der reifsten Dichter¬
kraft und von lauterster Menschenliebe.

Und noch einmal ist Berlin die Stätte, an der sich in dem spätesten der
größeren Werke Raabes ein letztes Schicksal erfüllt. Die „Akten des Vogelfangs",
die der Dichter im siebenten Jahrzehnt seines Lebens geschaffen, sind unter all
seinen Gegenwartsbüchern das gedrängteste, reifste, größte. Gestalten und
Begebenheiten begegnen darin, wie sie Raabe anch früher schon hingestellt hat,
aber nun schafft er sie noch einmal neu, mit einer Einschränkung auf die
zwingend notwendigen Züge und eben darum mit einer Steigerung, die ihrem
Eindruck eine unvergleichbare Macht gibt. Da grüßt wieder aus glanzumwobener
Ferne her eine enge, liebe, trauliche Jugendheimat — aber so wundersam
lichtverklärt hat sie der Dichter selbst noch nie zuvor gesehen. Da läßt er noch
einmal herzhafte Bubenfreundschaft und tiefe frühe Liebe fort und fort durchs
Leben wirken: aber noch nie sind ihn: aus den Menschen, deren Schicksale er
je und je durcheinander flocht, so ewig gültige Individuen erwachsen. Und
kaum jemals hat er ein Menschengeschick mit so verhaltener, gesammelter Wucht
gestaltet wie seines Velten Andres Lebensringen um das eine trotzige Frauen¬
wesen, nach dem alle Kräfte seiner Seele trachten, und zuletzt um ein fühlloses
Herz, um die Kraft zum schwersten, alles dahingehender Entsagen.

Dem Werdenden hat einst Berlin geholfen, im Denken wie im Leben seine
eigene Prügung vollends an sich herauszuarbeiten. Weitab von den Allerwelts-
wegen des übrigen Studiervolks hatte er sich da mit ein paar seltsam zusammen-
stimmenden Menschen ein eigenes weltverlorenes Reich erschlossen — aber sein
klar gesunder Geist blies doch all der phantasiefrohen Romantik einen gar
kräftigen Odem ein. Und all der Genossen still wachsende Jugend nährte sich
von der Überfülle drängenden Lebens, die von dem einen herströmte, und
wärmte sich froh an der starken, lauteren Glut seiner Seele.

Dem Verarmten, Gebrochenen, der von kühnen, abenteuerlichen Fahrten
durch die Welt wie von verzweifeltem Jrrgang wiederkehrt, sind die Sterne der
Heimat längst erloschen — so hackt er unbarmherzig selbst in Stücke, was ihn
dort noch an die Scholle heften will, begräbt, vernichtet, verschenkt, was ihm
zuinnerst ans Herz gewachsen war, und geht dahin in seine letzte Einsamkeit —
in die große Stadt. Und noch einmal umfängt ihn die traumhafte Stille, die
ihm mitten im Herzen von Berlin bereitet ist, in dem wundersamen Hofbereich
der Dorotheenstraße. Da blicken noch einmal die stillen, klaglosen Augen der
zarten Mädchenseele aus dem Stamm und Blut der proper?ausehen Säuger in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/427>, abgerufen am 22.07.2024.