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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Juristen und Laien in der preußischen Verwaltung

Aktenstücks in einerAnklageschrift oder eine tagelange mündlicheVerhandlnngin einem
Schlnßvortrag zusammenfaßt, -- der Anwalt, der eine Partei ausfragt -- sie
alle müssen dabei fortgesetzt, bewußt oder unbewußt, das Wesentliche von dem
Unwesentlichen trennen. Ich glaube, daß grade hierin der unersetzliche Wert des
praktischen juristischen Denkens für die geistige Ausbildung und Schulung besteht,
das in Verbindung mit dem, was Professor Geyer erwähnt, eine Geistesübung
darstellt, die weit vielseitiger ist als jede andre, namentlich auch vielseitiger und
sür die Praxis des Lebens nutzbringender als die mathematische und die von
ihr ausgehende technische Denktätigkeit, die in einfachen Schlußfolgerungen fort¬
schreitet.

Dazu kommen zwei andre wertvolle Vorteile der juristischen Tätigkeit
für das praktische Leben. Zunächst der, daß sich der Jurist bald daran gewöhnt,
nur das zu glauben, was er selbst sicher weiß oder was ihm nachgewiesen ist.
Er wird so darauf hingeführt, die Dinge, die an ihn herantreten, mit prüfendem
Blick zu betrachten und sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Das ist etwas,
das nur wenigen angeboren ist, und gelernt werden muß. Sodann lernt der
Jurist durch seine Tätigkeit das Für und Wider abzuwägen, also die Berechtigung
des entgegengesetzten Standpunkts zu würdigen und in der Praxis den Interessen
unabhängig gegenüber zu treten.

Alle diese geistigen Errungenschaften aus der juristischen Tätigkeit sind grade
auch für die Verwaltung außerordentlich wertvoll. Sie bedeuten vor allem
geistige Klarheit, also die geistige Eigenschaft, die für den Verwaltungsbeamten
am wichtigsten ist. Er foll führen und befehlen, oder, wie es Minister
v. Delbrück gelegentlich ausgedrückt hat, feste Entschlüsse fassen und die endgültig
gefaßten folgerichtig durchführen, und das kann nach einem Wort Goethes nur,
wer klare Begriffe hat. Insofern würde also der Jurist für die Verwaltung
wohl geeignet sein. Aber er bringt aus der Justiz vom Standpunkt der
Verwaltung nicht nur Vorzüge, sondern auch Mängel mit, die diese Vorzüge
reichlich aufwiegen. Die Begründung des Gesetzentwurfs über die Befähigung
für den höhern Verwaltungsdienst von 1903 hat sie zutreffend angegeben. Es
sind neben unzureichenden Kenntnissen auf den, weiten Gebiet des öffentlichen
Rechts und der Staatswissenschaften Neigung zur unfruchtbaren Kritik, zum
Formalismus und zum doktrinären Festhalten am Buchstaben des Gesetzes,
dann ungenügende Anschauung vom praktischen Leben, dessen Forderungen man
gleichgültig oder ablehnend gegenübersteht, und endlich der Mangel an Initiative,
an schöpferischein Unternehmungsgeist. Auch der Oberlandesgerichtspräsidcnt
Hamm hat diese Mängel seiner frühern Berufsgenossen immer offen anerkannt
und wiederholt beklagt, daß nicht bloß die Richter der Kollegialgerichte, die der
neue Zivilprozeß vom persönlichen Verkehr mit den Parteien selbst abschließe,
sondern auch die Amtsrichter, denen ein solcher Verkehr rin der Bevölkerung
in weitem Umfang und die Möglichkeit einer wohltätigen Einwirkung aus die
Parteien als Prozeßrichter und in der freiwilligen Gerichtsbarkeit verblieben seien,


Juristen und Laien in der preußischen Verwaltung

Aktenstücks in einerAnklageschrift oder eine tagelange mündlicheVerhandlnngin einem
Schlnßvortrag zusammenfaßt, — der Anwalt, der eine Partei ausfragt — sie
alle müssen dabei fortgesetzt, bewußt oder unbewußt, das Wesentliche von dem
Unwesentlichen trennen. Ich glaube, daß grade hierin der unersetzliche Wert des
praktischen juristischen Denkens für die geistige Ausbildung und Schulung besteht,
das in Verbindung mit dem, was Professor Geyer erwähnt, eine Geistesübung
darstellt, die weit vielseitiger ist als jede andre, namentlich auch vielseitiger und
sür die Praxis des Lebens nutzbringender als die mathematische und die von
ihr ausgehende technische Denktätigkeit, die in einfachen Schlußfolgerungen fort¬
schreitet.

Dazu kommen zwei andre wertvolle Vorteile der juristischen Tätigkeit
für das praktische Leben. Zunächst der, daß sich der Jurist bald daran gewöhnt,
nur das zu glauben, was er selbst sicher weiß oder was ihm nachgewiesen ist.
Er wird so darauf hingeführt, die Dinge, die an ihn herantreten, mit prüfendem
Blick zu betrachten und sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Das ist etwas,
das nur wenigen angeboren ist, und gelernt werden muß. Sodann lernt der
Jurist durch seine Tätigkeit das Für und Wider abzuwägen, also die Berechtigung
des entgegengesetzten Standpunkts zu würdigen und in der Praxis den Interessen
unabhängig gegenüber zu treten.

Alle diese geistigen Errungenschaften aus der juristischen Tätigkeit sind grade
auch für die Verwaltung außerordentlich wertvoll. Sie bedeuten vor allem
geistige Klarheit, also die geistige Eigenschaft, die für den Verwaltungsbeamten
am wichtigsten ist. Er foll führen und befehlen, oder, wie es Minister
v. Delbrück gelegentlich ausgedrückt hat, feste Entschlüsse fassen und die endgültig
gefaßten folgerichtig durchführen, und das kann nach einem Wort Goethes nur,
wer klare Begriffe hat. Insofern würde also der Jurist für die Verwaltung
wohl geeignet sein. Aber er bringt aus der Justiz vom Standpunkt der
Verwaltung nicht nur Vorzüge, sondern auch Mängel mit, die diese Vorzüge
reichlich aufwiegen. Die Begründung des Gesetzentwurfs über die Befähigung
für den höhern Verwaltungsdienst von 1903 hat sie zutreffend angegeben. Es
sind neben unzureichenden Kenntnissen auf den, weiten Gebiet des öffentlichen
Rechts und der Staatswissenschaften Neigung zur unfruchtbaren Kritik, zum
Formalismus und zum doktrinären Festhalten am Buchstaben des Gesetzes,
dann ungenügende Anschauung vom praktischen Leben, dessen Forderungen man
gleichgültig oder ablehnend gegenübersteht, und endlich der Mangel an Initiative,
an schöpferischein Unternehmungsgeist. Auch der Oberlandesgerichtspräsidcnt
Hamm hat diese Mängel seiner frühern Berufsgenossen immer offen anerkannt
und wiederholt beklagt, daß nicht bloß die Richter der Kollegialgerichte, die der
neue Zivilprozeß vom persönlichen Verkehr mit den Parteien selbst abschließe,
sondern auch die Amtsrichter, denen ein solcher Verkehr rin der Bevölkerung
in weitem Umfang und die Möglichkeit einer wohltätigen Einwirkung aus die
Parteien als Prozeßrichter und in der freiwilligen Gerichtsbarkeit verblieben seien,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/416>, abgerufen am 23.07.2024.