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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Der neue deutsche Shakespeare

bestimmt: es ist das besondere Maß des neuen Kultus des Menschen-Heros.
Dies Maß war in dem neuen Dichter, bevor er dem Shakespeare nahte, selbst
erweckt; es war es, das ihn in die große Nähe drängte, und es erfüllte sich
als ein selbständiges, sich sättigendes Genügen in der vollen Ausnahme und
Wiedergeburt des meisterlichen Maßes:


"tutor zeuge mein Beiname
Coriolnnus,"

So wird und so allein der Shakespeare zu einem "Dichter" auch sür uns Deutsche.

Aber leuchtendere, eindringlichere und umfassendere Zeugnisse, als sie
Kalischer hat, gibt es für die nun erst erfolgte Erweckung des unbedingt Dichte¬
rischen, des unmittelbar seherischen Ausdrucks der Welt, sür die nun erst erfolgte
Erlösung der unwiderleglich und unbezweifelbar wahr von Shakespeare heraus¬
geformten Urseinsformen.

Des Genius gewaltig zeitenübergreifendes allmenschliches Hinströmen der
Liebe:


^iilZ z?et I visu but lor tus tliinZ I rupe.
^VI^ bouiNz? is Sö bormäless as tris ses,
^ love as cleep; elf more I Zivs to ldee,
1"Ks more l Kave, lor both are inkinite.

(Romeo und Julia II, 2.)

ist bei Schlegel noch eine Möglichkeit, ein zeitlich zufälliges Sosein, eine Um¬
setzung, Umschreibung, Umrednng des Ewigen in die stellvertretenden Formen
einer zeitlichen Konvention.


Allein ich wünsche, was ich habe, nur.
So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe
So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe,
Je mehr auch hab' ich: beides ist unendlich.

In der Gundolfschen Umdichtung erst hat sich der Urgrund befreit, das
Zeitvernichterische, Grundgesetzliche, die seherisch aufgefangene Form durch¬
waltender Blutsmächte; hier erst sind die Bänder bedingter, mechanisierter, künstlich
bewegter Sprache zerrissen, sich in ihren umfänglich aufgelockerten Urbestand
gestürzt und aus ihm ihr eingeborenes identisches und allbedeutendes Dasein
herausgezeugt. Statt des an- und übergedichteten, in hundert Schliffen facettie¬
renden "Liebesduetts" starrt und wundert der überpersönliche, das Gesicht der
Welt tragende Kosmos des Eros selbst:


Und doch, ich wünsche nichts, als was ich habe.
An Güte bin ich grundlos wie das Meer,
An Liebe grub so tief. Je mehr ich gebe,
Je mehr ich habe: beides grenzenlos.

Das gleiche Sichtbarmachen des dichterischen, körperhaften Urseins an Stelle
seiner literarischen, konventionellen Umschreibung und Andeutung durch Be¬
ziehungen an hundert andern Stellen und überhaupt im ganzen Werk!


Der neue deutsche Shakespeare

bestimmt: es ist das besondere Maß des neuen Kultus des Menschen-Heros.
Dies Maß war in dem neuen Dichter, bevor er dem Shakespeare nahte, selbst
erweckt; es war es, das ihn in die große Nähe drängte, und es erfüllte sich
als ein selbständiges, sich sättigendes Genügen in der vollen Ausnahme und
Wiedergeburt des meisterlichen Maßes:


„tutor zeuge mein Beiname
Coriolnnus,"

So wird und so allein der Shakespeare zu einem „Dichter" auch sür uns Deutsche.

Aber leuchtendere, eindringlichere und umfassendere Zeugnisse, als sie
Kalischer hat, gibt es für die nun erst erfolgte Erweckung des unbedingt Dichte¬
rischen, des unmittelbar seherischen Ausdrucks der Welt, sür die nun erst erfolgte
Erlösung der unwiderleglich und unbezweifelbar wahr von Shakespeare heraus¬
geformten Urseinsformen.

Des Genius gewaltig zeitenübergreifendes allmenschliches Hinströmen der
Liebe:


^iilZ z?et I visu but lor tus tliinZ I rupe.
^VI^ bouiNz? is Sö bormäless as tris ses,
^ love as cleep; elf more I Zivs to ldee,
1"Ks more l Kave, lor both are inkinite.

(Romeo und Julia II, 2.)

ist bei Schlegel noch eine Möglichkeit, ein zeitlich zufälliges Sosein, eine Um¬
setzung, Umschreibung, Umrednng des Ewigen in die stellvertretenden Formen
einer zeitlichen Konvention.


Allein ich wünsche, was ich habe, nur.
So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe
So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe,
Je mehr auch hab' ich: beides ist unendlich.

In der Gundolfschen Umdichtung erst hat sich der Urgrund befreit, das
Zeitvernichterische, Grundgesetzliche, die seherisch aufgefangene Form durch¬
waltender Blutsmächte; hier erst sind die Bänder bedingter, mechanisierter, künstlich
bewegter Sprache zerrissen, sich in ihren umfänglich aufgelockerten Urbestand
gestürzt und aus ihm ihr eingeborenes identisches und allbedeutendes Dasein
herausgezeugt. Statt des an- und übergedichteten, in hundert Schliffen facettie¬
renden „Liebesduetts" starrt und wundert der überpersönliche, das Gesicht der
Welt tragende Kosmos des Eros selbst:


Und doch, ich wünsche nichts, als was ich habe.
An Güte bin ich grundlos wie das Meer,
An Liebe grub so tief. Je mehr ich gebe,
Je mehr ich habe: beides grenzenlos.

Das gleiche Sichtbarmachen des dichterischen, körperhaften Urseins an Stelle
seiner literarischen, konventionellen Umschreibung und Andeutung durch Be¬
ziehungen an hundert andern Stellen und überhaupt im ganzen Werk!


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[0364] Der neue deutsche Shakespeare bestimmt: es ist das besondere Maß des neuen Kultus des Menschen-Heros. Dies Maß war in dem neuen Dichter, bevor er dem Shakespeare nahte, selbst erweckt; es war es, das ihn in die große Nähe drängte, und es erfüllte sich als ein selbständiges, sich sättigendes Genügen in der vollen Ausnahme und Wiedergeburt des meisterlichen Maßes: „tutor zeuge mein Beiname Coriolnnus," So wird und so allein der Shakespeare zu einem „Dichter" auch sür uns Deutsche. Aber leuchtendere, eindringlichere und umfassendere Zeugnisse, als sie Kalischer hat, gibt es für die nun erst erfolgte Erweckung des unbedingt Dichte¬ rischen, des unmittelbar seherischen Ausdrucks der Welt, sür die nun erst erfolgte Erlösung der unwiderleglich und unbezweifelbar wahr von Shakespeare heraus¬ geformten Urseinsformen. Des Genius gewaltig zeitenübergreifendes allmenschliches Hinströmen der Liebe: ^iilZ z?et I visu but lor tus tliinZ I rupe. ^VI^ bouiNz? is Sö bormäless as tris ses, ^ love as cleep; elf more I Zivs to ldee, 1"Ks more l Kave, lor both are inkinite. (Romeo und Julia II, 2.) ist bei Schlegel noch eine Möglichkeit, ein zeitlich zufälliges Sosein, eine Um¬ setzung, Umschreibung, Umrednng des Ewigen in die stellvertretenden Formen einer zeitlichen Konvention. Allein ich wünsche, was ich habe, nur. So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe, Je mehr auch hab' ich: beides ist unendlich. In der Gundolfschen Umdichtung erst hat sich der Urgrund befreit, das Zeitvernichterische, Grundgesetzliche, die seherisch aufgefangene Form durch¬ waltender Blutsmächte; hier erst sind die Bänder bedingter, mechanisierter, künstlich bewegter Sprache zerrissen, sich in ihren umfänglich aufgelockerten Urbestand gestürzt und aus ihm ihr eingeborenes identisches und allbedeutendes Dasein herausgezeugt. Statt des an- und übergedichteten, in hundert Schliffen facettie¬ renden „Liebesduetts" starrt und wundert der überpersönliche, das Gesicht der Welt tragende Kosmos des Eros selbst: Und doch, ich wünsche nichts, als was ich habe. An Güte bin ich grundlos wie das Meer, An Liebe grub so tief. Je mehr ich gebe, Je mehr ich habe: beides grenzenlos. Das gleiche Sichtbarmachen des dichterischen, körperhaften Urseins an Stelle seiner literarischen, konventionellen Umschreibung und Andeutung durch Be¬ ziehungen an hundert andern Stellen und überhaupt im ganzen Werk!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/364>, abgerufen am 23.07.2024.