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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Biologie und Schule

erscheinungen" sagt Jacques Loch: "Wir sehen in den folgenden Vorlesungen
die Lebewesen als chemische Maschinen an, welche wesentlich aus kolloidalem
Material bestehen und welche die Eigenschaft besitzen, sich automatisch zu entwickeln,
zu erhalten und fortzupflanzen. Dadurch, daß die Maschinen, die unsere Technik
bis jetzt hervorgebracht hat, nicht imstande sind, diese letztere Leistung aus¬
zuführen, besteht einstweilen (I) ein prinzipieller Unterschied zwischen lebenden
Maschinen und den Maschinen der Technik. Es spricht aber nichts gegen die
Möglichkeit, daß den technischen oder experimentellen Naturwissenschaften auch
die künstliche Herstellung lebender Maschinen gelingen wird." -- Da haben wir
den HomunkulusI Einstweilen noch in der geistigen Retorte. Aber setzen wir
den Fall, wir hätten Organismen künstlich erzeugt: da werden sie also als
solche auf äußere Reize reagieren, z. B. eine positive oder negative Lichtwendigkeit
zeigen; das eine oder das andere im Sinne der Nützlichkeit für ihren Fort¬
bestand! Haben wir diese Finalilät auch miterzeugt? Sie wird auch von Loch,
dessen sachlichen Ergebnissen ich meine Anerkennung keineswegs versage, nicht in
Abrede gestellt, obgleich er, und sicher mit Recht, behauptet, daß die Reiz¬
bewegungen der niederen Tiere unter dem unabweisbaren Zwange einer
chemischen Reaktion geschehen und daher auch (unter ganz absonderlichen Um¬
ständen!) zu zweckwidrigen Bewegungen führen können. Wenn also die Reiz¬
bewegungen, unter normalen Umständen wenigstens, eine deutliche Beziehung zu
der Erhaltung des Organismus gegenüber den äußeren Kräften haben, so wirkt
hier eine Kraft, ohne selber energetisch zu sein, also Arbeit zu leisten, "dis¬
ponierend", das heißt ordnend und verfügend auf die energetischen Kräfte ein.
Ob wir diese Kraft nun Seele oder Lebenskraft oder Finalität nennen, das tut
nichts zur Sache. Kein ernster Naturforscher bezweifelt übrigens, daß auch die
höheren seelischen Verrichtungen, die wir als Geist bezeichnen, mit ganz bestimmten
chemischen Umsetzungen verbunden sind. Wenn wir aber die Erscheinungen des
Lebens als Naturforscher unbefangen von außen betrachten, das heißt ohne den
Begriff des Bewußtseins hineinzutragen, von dem uns im Grunde nur aus
unserem eigenen Ich etwas bekannt ist. so finden wir als das Gemeinsame aller
seelischen Tätigkeit von den Einzellern bis zum Menschen die Verfügung über
die energetischen Naturkräfte zum Zweck der Erhaltung bezw. Förderung des
Organismus.

Es besteht kein grundsätzlicher Unterschied, wenn etwa ein hypothetisches
vorweltliches, noch flügelloses Gliedertier vorhandene Hautanhänge als Schweb-
stächen benutzt und zu Flügeln weiter ausbildet, oder wenn das Genie eines
begabten Menschen unter Benutzung aller wissenschaftlichen und technischen Hilfs¬
mittel einen Flugapparat ersinnt, erbaut und benutzt. In beiden Fällen ist das
Prinzip der Finalität wirksam. Es ist nicht einmal der Unterschied vorhanden,
daß in dem ersten Falle das zusammenhängende Keimplasma einer vielleicht
sehr großen Generationsfolge wirksam ist, im anderen Falle das Gehirn eines
einzelnen Menschen tätig wäre. Denn dies Gehirn setzt auch eine lange Ahnen-


Biologie und Schule

erscheinungen" sagt Jacques Loch: „Wir sehen in den folgenden Vorlesungen
die Lebewesen als chemische Maschinen an, welche wesentlich aus kolloidalem
Material bestehen und welche die Eigenschaft besitzen, sich automatisch zu entwickeln,
zu erhalten und fortzupflanzen. Dadurch, daß die Maschinen, die unsere Technik
bis jetzt hervorgebracht hat, nicht imstande sind, diese letztere Leistung aus¬
zuführen, besteht einstweilen (I) ein prinzipieller Unterschied zwischen lebenden
Maschinen und den Maschinen der Technik. Es spricht aber nichts gegen die
Möglichkeit, daß den technischen oder experimentellen Naturwissenschaften auch
die künstliche Herstellung lebender Maschinen gelingen wird." — Da haben wir
den HomunkulusI Einstweilen noch in der geistigen Retorte. Aber setzen wir
den Fall, wir hätten Organismen künstlich erzeugt: da werden sie also als
solche auf äußere Reize reagieren, z. B. eine positive oder negative Lichtwendigkeit
zeigen; das eine oder das andere im Sinne der Nützlichkeit für ihren Fort¬
bestand! Haben wir diese Finalilät auch miterzeugt? Sie wird auch von Loch,
dessen sachlichen Ergebnissen ich meine Anerkennung keineswegs versage, nicht in
Abrede gestellt, obgleich er, und sicher mit Recht, behauptet, daß die Reiz¬
bewegungen der niederen Tiere unter dem unabweisbaren Zwange einer
chemischen Reaktion geschehen und daher auch (unter ganz absonderlichen Um¬
ständen!) zu zweckwidrigen Bewegungen führen können. Wenn also die Reiz¬
bewegungen, unter normalen Umständen wenigstens, eine deutliche Beziehung zu
der Erhaltung des Organismus gegenüber den äußeren Kräften haben, so wirkt
hier eine Kraft, ohne selber energetisch zu sein, also Arbeit zu leisten, „dis¬
ponierend", das heißt ordnend und verfügend auf die energetischen Kräfte ein.
Ob wir diese Kraft nun Seele oder Lebenskraft oder Finalität nennen, das tut
nichts zur Sache. Kein ernster Naturforscher bezweifelt übrigens, daß auch die
höheren seelischen Verrichtungen, die wir als Geist bezeichnen, mit ganz bestimmten
chemischen Umsetzungen verbunden sind. Wenn wir aber die Erscheinungen des
Lebens als Naturforscher unbefangen von außen betrachten, das heißt ohne den
Begriff des Bewußtseins hineinzutragen, von dem uns im Grunde nur aus
unserem eigenen Ich etwas bekannt ist. so finden wir als das Gemeinsame aller
seelischen Tätigkeit von den Einzellern bis zum Menschen die Verfügung über
die energetischen Naturkräfte zum Zweck der Erhaltung bezw. Förderung des
Organismus.

Es besteht kein grundsätzlicher Unterschied, wenn etwa ein hypothetisches
vorweltliches, noch flügelloses Gliedertier vorhandene Hautanhänge als Schweb-
stächen benutzt und zu Flügeln weiter ausbildet, oder wenn das Genie eines
begabten Menschen unter Benutzung aller wissenschaftlichen und technischen Hilfs¬
mittel einen Flugapparat ersinnt, erbaut und benutzt. In beiden Fällen ist das
Prinzip der Finalität wirksam. Es ist nicht einmal der Unterschied vorhanden,
daß in dem ersten Falle das zusammenhängende Keimplasma einer vielleicht
sehr großen Generationsfolge wirksam ist, im anderen Falle das Gehirn eines
einzelnen Menschen tätig wäre. Denn dies Gehirn setzt auch eine lange Ahnen-


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[0313] Biologie und Schule erscheinungen" sagt Jacques Loch: „Wir sehen in den folgenden Vorlesungen die Lebewesen als chemische Maschinen an, welche wesentlich aus kolloidalem Material bestehen und welche die Eigenschaft besitzen, sich automatisch zu entwickeln, zu erhalten und fortzupflanzen. Dadurch, daß die Maschinen, die unsere Technik bis jetzt hervorgebracht hat, nicht imstande sind, diese letztere Leistung aus¬ zuführen, besteht einstweilen (I) ein prinzipieller Unterschied zwischen lebenden Maschinen und den Maschinen der Technik. Es spricht aber nichts gegen die Möglichkeit, daß den technischen oder experimentellen Naturwissenschaften auch die künstliche Herstellung lebender Maschinen gelingen wird." — Da haben wir den HomunkulusI Einstweilen noch in der geistigen Retorte. Aber setzen wir den Fall, wir hätten Organismen künstlich erzeugt: da werden sie also als solche auf äußere Reize reagieren, z. B. eine positive oder negative Lichtwendigkeit zeigen; das eine oder das andere im Sinne der Nützlichkeit für ihren Fort¬ bestand! Haben wir diese Finalilät auch miterzeugt? Sie wird auch von Loch, dessen sachlichen Ergebnissen ich meine Anerkennung keineswegs versage, nicht in Abrede gestellt, obgleich er, und sicher mit Recht, behauptet, daß die Reiz¬ bewegungen der niederen Tiere unter dem unabweisbaren Zwange einer chemischen Reaktion geschehen und daher auch (unter ganz absonderlichen Um¬ ständen!) zu zweckwidrigen Bewegungen führen können. Wenn also die Reiz¬ bewegungen, unter normalen Umständen wenigstens, eine deutliche Beziehung zu der Erhaltung des Organismus gegenüber den äußeren Kräften haben, so wirkt hier eine Kraft, ohne selber energetisch zu sein, also Arbeit zu leisten, „dis¬ ponierend", das heißt ordnend und verfügend auf die energetischen Kräfte ein. Ob wir diese Kraft nun Seele oder Lebenskraft oder Finalität nennen, das tut nichts zur Sache. Kein ernster Naturforscher bezweifelt übrigens, daß auch die höheren seelischen Verrichtungen, die wir als Geist bezeichnen, mit ganz bestimmten chemischen Umsetzungen verbunden sind. Wenn wir aber die Erscheinungen des Lebens als Naturforscher unbefangen von außen betrachten, das heißt ohne den Begriff des Bewußtseins hineinzutragen, von dem uns im Grunde nur aus unserem eigenen Ich etwas bekannt ist. so finden wir als das Gemeinsame aller seelischen Tätigkeit von den Einzellern bis zum Menschen die Verfügung über die energetischen Naturkräfte zum Zweck der Erhaltung bezw. Förderung des Organismus. Es besteht kein grundsätzlicher Unterschied, wenn etwa ein hypothetisches vorweltliches, noch flügelloses Gliedertier vorhandene Hautanhänge als Schweb- stächen benutzt und zu Flügeln weiter ausbildet, oder wenn das Genie eines begabten Menschen unter Benutzung aller wissenschaftlichen und technischen Hilfs¬ mittel einen Flugapparat ersinnt, erbaut und benutzt. In beiden Fällen ist das Prinzip der Finalität wirksam. Es ist nicht einmal der Unterschied vorhanden, daß in dem ersten Falle das zusammenhängende Keimplasma einer vielleicht sehr großen Generationsfolge wirksam ist, im anderen Falle das Gehirn eines einzelnen Menschen tätig wäre. Denn dies Gehirn setzt auch eine lange Ahnen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/313>, abgerufen am 23.07.2024.