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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Mittelschulen

Organisationsfragen über das Schulwesen befassen sollte. Die Denkschrift diente als
Ausgangspunkt für die Beratungen, die dann die Entwickelung des Mittelschul¬
wesens zu einem vorläufigen Abschluß brachten. In letzter Zeit, wo ja Schul¬
reformen an der Tagesordnung send, hat man diesem Stiefkinde der preußischen
Schulverwaltung erneute Aufmerksamkeit gewidmet. Das Endergebnis war
ein reorganisierter Lehrplan, der im Frühjahr 1910 veröffentlicht wurde. Sofort
nach seinem Bekanntwerden begann ein lebhafter Meinungsaustausch. Stimmen
für und gegen eine gedeihliche Entwickelung der reorganisierten Mittelschule
führten sogar zu recht scharfen Auseinandersetzungen in der Tagespresse. Das
ist der sicherste Beweis dafür, daß die Mittelschulfrage die wichtigste schul¬
politische Frage der Gegenwart ist. Durch ihre Lösung werden brennende soziale
Probleme beeinflußt.

Schon Hofmann hatte in seiner ersten Denkschrift auf die Unmenge von
jungen Leuten hingewiesen, die in den unteren und mittleren Klassen der
Gymnasien und Nealanstalten einen Unterricht erhalten, der für ihren künftigen
Beruf wenig geeignet ist. Diese Schüler belasten aber die höheren Lehranstalten
zu deren und ihrem eigenen Nachteil. Sie erschweren es diesen Schulen, ihre
eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Grade für diese jungen Leute war im Anfang
des vorigen Jahrhunderts die Realschule gegründet worden. Die ist aber ihrer
ursprünglichen Aufgabe nur kurze Zeit treu geblieben. Unter dem Drucke des
Berechtigungswesens, das alle deutschen Schulen so schwer belastet und ihre
Entwickelung so übel beeinflußt hat, wurden die Realschulen zu ganz anderen
Schulen, als sie ursprünglich werden sollten. In der Mitte des Jahrhunderts
begann dann jener jahrzehntelange Kampf zwischen dem humanistischen
Gymnasium und der Realschule, in dem die Realschule dein humanistischen
Gymnasium sein Berechtigungsmonopol streitig machte. Dieses Monopol,
welches das humanistische Gymnasium nach und nach mit der Realschule teilen
mußte, hat die Entwickelung des höheren Schulwesens immer mehr schabionisiert,
und dieser Schablone hat auch die ehedem selbständige Realschule ihre Eigenart
opfern müssen. Sie ist zur Gelehrtenschule, wie das humanistische Gymnasium,
geworden; denn sie ist heute nichts anderes als die Unter- und Mittelstufe einer
Oberrealschule. Die Falksche Reform wollte deshalb an Stelle der alten Real¬
schule zwischen die allgemeine Volksschule und die verschiedenen Arten der
höheren Schulen die neue Mittelschule setzen.

Die Mittelschule soll einen den künftigen Lebensverhältnissen ihrer Schüler
angemessenen Unterricht bieten und diesen so einrichten, daß er in der zur Ver¬
fügung stehenden Zeit zu einem Abschluß gebracht werden kann. Sie soll weder
eine mechanische Fortsetzung der Volksschule, noch viel weniger eine Vorbereitung
für die höheren Schulen sein. Sie soll ihren Schülern einen erweiterten und
gründlich vertieften Volksschulunterricht bieten, gelehrten Unterricht grundsätzlich
ausschließen. Gleichzeitig soll sie den Bedürfnissen des gewerblichen Lebens gerecht
werden und dadurch die Interessen des Mittelstandes in einemMaße berücksichtigen,


Mittelschulen

Organisationsfragen über das Schulwesen befassen sollte. Die Denkschrift diente als
Ausgangspunkt für die Beratungen, die dann die Entwickelung des Mittelschul¬
wesens zu einem vorläufigen Abschluß brachten. In letzter Zeit, wo ja Schul¬
reformen an der Tagesordnung send, hat man diesem Stiefkinde der preußischen
Schulverwaltung erneute Aufmerksamkeit gewidmet. Das Endergebnis war
ein reorganisierter Lehrplan, der im Frühjahr 1910 veröffentlicht wurde. Sofort
nach seinem Bekanntwerden begann ein lebhafter Meinungsaustausch. Stimmen
für und gegen eine gedeihliche Entwickelung der reorganisierten Mittelschule
führten sogar zu recht scharfen Auseinandersetzungen in der Tagespresse. Das
ist der sicherste Beweis dafür, daß die Mittelschulfrage die wichtigste schul¬
politische Frage der Gegenwart ist. Durch ihre Lösung werden brennende soziale
Probleme beeinflußt.

Schon Hofmann hatte in seiner ersten Denkschrift auf die Unmenge von
jungen Leuten hingewiesen, die in den unteren und mittleren Klassen der
Gymnasien und Nealanstalten einen Unterricht erhalten, der für ihren künftigen
Beruf wenig geeignet ist. Diese Schüler belasten aber die höheren Lehranstalten
zu deren und ihrem eigenen Nachteil. Sie erschweren es diesen Schulen, ihre
eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Grade für diese jungen Leute war im Anfang
des vorigen Jahrhunderts die Realschule gegründet worden. Die ist aber ihrer
ursprünglichen Aufgabe nur kurze Zeit treu geblieben. Unter dem Drucke des
Berechtigungswesens, das alle deutschen Schulen so schwer belastet und ihre
Entwickelung so übel beeinflußt hat, wurden die Realschulen zu ganz anderen
Schulen, als sie ursprünglich werden sollten. In der Mitte des Jahrhunderts
begann dann jener jahrzehntelange Kampf zwischen dem humanistischen
Gymnasium und der Realschule, in dem die Realschule dein humanistischen
Gymnasium sein Berechtigungsmonopol streitig machte. Dieses Monopol,
welches das humanistische Gymnasium nach und nach mit der Realschule teilen
mußte, hat die Entwickelung des höheren Schulwesens immer mehr schabionisiert,
und dieser Schablone hat auch die ehedem selbständige Realschule ihre Eigenart
opfern müssen. Sie ist zur Gelehrtenschule, wie das humanistische Gymnasium,
geworden; denn sie ist heute nichts anderes als die Unter- und Mittelstufe einer
Oberrealschule. Die Falksche Reform wollte deshalb an Stelle der alten Real¬
schule zwischen die allgemeine Volksschule und die verschiedenen Arten der
höheren Schulen die neue Mittelschule setzen.

Die Mittelschule soll einen den künftigen Lebensverhältnissen ihrer Schüler
angemessenen Unterricht bieten und diesen so einrichten, daß er in der zur Ver¬
fügung stehenden Zeit zu einem Abschluß gebracht werden kann. Sie soll weder
eine mechanische Fortsetzung der Volksschule, noch viel weniger eine Vorbereitung
für die höheren Schulen sein. Sie soll ihren Schülern einen erweiterten und
gründlich vertieften Volksschulunterricht bieten, gelehrten Unterricht grundsätzlich
ausschließen. Gleichzeitig soll sie den Bedürfnissen des gewerblichen Lebens gerecht
werden und dadurch die Interessen des Mittelstandes in einemMaße berücksichtigen,


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[0206] Mittelschulen Organisationsfragen über das Schulwesen befassen sollte. Die Denkschrift diente als Ausgangspunkt für die Beratungen, die dann die Entwickelung des Mittelschul¬ wesens zu einem vorläufigen Abschluß brachten. In letzter Zeit, wo ja Schul¬ reformen an der Tagesordnung send, hat man diesem Stiefkinde der preußischen Schulverwaltung erneute Aufmerksamkeit gewidmet. Das Endergebnis war ein reorganisierter Lehrplan, der im Frühjahr 1910 veröffentlicht wurde. Sofort nach seinem Bekanntwerden begann ein lebhafter Meinungsaustausch. Stimmen für und gegen eine gedeihliche Entwickelung der reorganisierten Mittelschule führten sogar zu recht scharfen Auseinandersetzungen in der Tagespresse. Das ist der sicherste Beweis dafür, daß die Mittelschulfrage die wichtigste schul¬ politische Frage der Gegenwart ist. Durch ihre Lösung werden brennende soziale Probleme beeinflußt. Schon Hofmann hatte in seiner ersten Denkschrift auf die Unmenge von jungen Leuten hingewiesen, die in den unteren und mittleren Klassen der Gymnasien und Nealanstalten einen Unterricht erhalten, der für ihren künftigen Beruf wenig geeignet ist. Diese Schüler belasten aber die höheren Lehranstalten zu deren und ihrem eigenen Nachteil. Sie erschweren es diesen Schulen, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Grade für diese jungen Leute war im Anfang des vorigen Jahrhunderts die Realschule gegründet worden. Die ist aber ihrer ursprünglichen Aufgabe nur kurze Zeit treu geblieben. Unter dem Drucke des Berechtigungswesens, das alle deutschen Schulen so schwer belastet und ihre Entwickelung so übel beeinflußt hat, wurden die Realschulen zu ganz anderen Schulen, als sie ursprünglich werden sollten. In der Mitte des Jahrhunderts begann dann jener jahrzehntelange Kampf zwischen dem humanistischen Gymnasium und der Realschule, in dem die Realschule dein humanistischen Gymnasium sein Berechtigungsmonopol streitig machte. Dieses Monopol, welches das humanistische Gymnasium nach und nach mit der Realschule teilen mußte, hat die Entwickelung des höheren Schulwesens immer mehr schabionisiert, und dieser Schablone hat auch die ehedem selbständige Realschule ihre Eigenart opfern müssen. Sie ist zur Gelehrtenschule, wie das humanistische Gymnasium, geworden; denn sie ist heute nichts anderes als die Unter- und Mittelstufe einer Oberrealschule. Die Falksche Reform wollte deshalb an Stelle der alten Real¬ schule zwischen die allgemeine Volksschule und die verschiedenen Arten der höheren Schulen die neue Mittelschule setzen. Die Mittelschule soll einen den künftigen Lebensverhältnissen ihrer Schüler angemessenen Unterricht bieten und diesen so einrichten, daß er in der zur Ver¬ fügung stehenden Zeit zu einem Abschluß gebracht werden kann. Sie soll weder eine mechanische Fortsetzung der Volksschule, noch viel weniger eine Vorbereitung für die höheren Schulen sein. Sie soll ihren Schülern einen erweiterten und gründlich vertieften Volksschulunterricht bieten, gelehrten Unterricht grundsätzlich ausschließen. Gleichzeitig soll sie den Bedürfnissen des gewerblichen Lebens gerecht werden und dadurch die Interessen des Mittelstandes in einemMaße berücksichtigen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/206>, abgerufen am 25.08.2024.