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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die Krisis in der allislamischen Bewegung

Ideen aus dem Westen nach wie vor die unbedingt über die Massen verfügende
Macht geblieben ist und als unerschütterter Fels im ringsum brandenden Meer
fortbesteht. Es hat dementsprechend eine neue Politik instradiert, die abseits
der früheren Gleichheitsschwärmerei die Vorrangstellung des Ottomanentums
und damit auch des Islams betont. Von hier bis zu der Einsicht, daß die
Erhaltung des Reichs die Wiederherstellung des Glanzes des Khalifats bedingt,
ist nur ein kurzer und natürlicher Schritt. Einem Schattenkaisertum widerstrebt
die Türkei ihrem ganzen politischen Charakter nach durchaus; der Thronerbe
steht hier vor einem Staatsproblem allerwichtigster Art, dessen geschickte Lösung
nichts anderes bedeutet, als daß er mit Hilfe der Kirche die Macht wieder¬
gewönne, die ihm der Konstitutionalismus geraubt, und daß der Allislamismus
neuerdings ein integrierender Bestandteil der osmanischen Politik werde. Die
demokratischen Tendenzen in dieser Bewegung laufen mit den Interessen des
modernen Verfassungsstaats auf gleicherLinie; ob aber dieser ideelle Zusammenklang
imstande sein wird, die parteipolitischer Gegensätze zwischen Arabertum und
Osmanentum zu überbrücken, erscheint nach den Erfahrungen der heutigen Zeit
mit ihrer Zuspitzung des Nationalitätenhasses mindestens zweifelhaft. Die
Physiognomie der Gegenwart berechtigt also zu der Annahme, daß die Fort¬
bewegung des Allislamismus als politischer Macht in Zukunft ebensowenig
einen einheitlichen Charakter zeigen wird wie in der Vergangenheit, und daß
er, soweit sich seine Verfechter für das Ideal eines alle Einflußsphären des
Mohammedanismus umfassenden Weltreichs einsetzen, im Zeichen der neuen
Konjunktur, des siegreichen Demokratismus und Nationalismus sich erst recht
als das utopistische Gebilde erweisen wird, das er von Anfang an war. Nun
aber ist klar, daß, sobald das heutige politische Durcheinander zum Stillstand
kommt und sich aus den Zersetzungsprozessen feste und sormbestimmte Gebilde
herauskristallisieren, der Emanzipationskampf der mohammedanischen Völker
mehr auf das wirtschaftliche und kulturelle Gebiet hinüberspielen wird. Hier,
als Propaganda für die Erneuerung, Sammlung und das einhellige Einsetzen
der ökonomischen, sittlichen und geistigen Lebensgrundkräfte des Muselmanentums
hat der Allislamismus sicherlich einen hohen Wirklichkeitswert und eine große
Zukunftsbedeutung. Und Europa hätte wohl kaum Ursache, ihn in dieser
Abwandlung und Zielrichtung sonderlich zu fürchten, würde vielmehr seine
Gegnerschaft am besten nach dem Gesetz, daß der loyale Wettbewerber
am einfachsten durch Handreichung aus dem Feld zu schlagen ist, durch
Unterstützung der Bestrebungen, eine der christlichen Welt ebenbürtige
mohammedanische Knlturmacht zu schaffen, matt setzen. Leider erscheint jedoch gerade
nach jüngsten Erfahrungen die Hoffnung, die Antithese auf diese friedlich - schiedliche
Weise aufzulösen, ziemlich vager Art. Es zeigt sich, daß, wie fast auf allen
Gebieten, fo auch auf dem konfessionellen die Revolution in der Türkei fast
genau das Gegenteil der erwarteten Früchte gezeitigt hat. Die Steigerung
des politischen Selbstbewußtseins bewirkt eine sehr bedenkliche Neubelebung des


Die Krisis in der allislamischen Bewegung

Ideen aus dem Westen nach wie vor die unbedingt über die Massen verfügende
Macht geblieben ist und als unerschütterter Fels im ringsum brandenden Meer
fortbesteht. Es hat dementsprechend eine neue Politik instradiert, die abseits
der früheren Gleichheitsschwärmerei die Vorrangstellung des Ottomanentums
und damit auch des Islams betont. Von hier bis zu der Einsicht, daß die
Erhaltung des Reichs die Wiederherstellung des Glanzes des Khalifats bedingt,
ist nur ein kurzer und natürlicher Schritt. Einem Schattenkaisertum widerstrebt
die Türkei ihrem ganzen politischen Charakter nach durchaus; der Thronerbe
steht hier vor einem Staatsproblem allerwichtigster Art, dessen geschickte Lösung
nichts anderes bedeutet, als daß er mit Hilfe der Kirche die Macht wieder¬
gewönne, die ihm der Konstitutionalismus geraubt, und daß der Allislamismus
neuerdings ein integrierender Bestandteil der osmanischen Politik werde. Die
demokratischen Tendenzen in dieser Bewegung laufen mit den Interessen des
modernen Verfassungsstaats auf gleicherLinie; ob aber dieser ideelle Zusammenklang
imstande sein wird, die parteipolitischer Gegensätze zwischen Arabertum und
Osmanentum zu überbrücken, erscheint nach den Erfahrungen der heutigen Zeit
mit ihrer Zuspitzung des Nationalitätenhasses mindestens zweifelhaft. Die
Physiognomie der Gegenwart berechtigt also zu der Annahme, daß die Fort¬
bewegung des Allislamismus als politischer Macht in Zukunft ebensowenig
einen einheitlichen Charakter zeigen wird wie in der Vergangenheit, und daß
er, soweit sich seine Verfechter für das Ideal eines alle Einflußsphären des
Mohammedanismus umfassenden Weltreichs einsetzen, im Zeichen der neuen
Konjunktur, des siegreichen Demokratismus und Nationalismus sich erst recht
als das utopistische Gebilde erweisen wird, das er von Anfang an war. Nun
aber ist klar, daß, sobald das heutige politische Durcheinander zum Stillstand
kommt und sich aus den Zersetzungsprozessen feste und sormbestimmte Gebilde
herauskristallisieren, der Emanzipationskampf der mohammedanischen Völker
mehr auf das wirtschaftliche und kulturelle Gebiet hinüberspielen wird. Hier,
als Propaganda für die Erneuerung, Sammlung und das einhellige Einsetzen
der ökonomischen, sittlichen und geistigen Lebensgrundkräfte des Muselmanentums
hat der Allislamismus sicherlich einen hohen Wirklichkeitswert und eine große
Zukunftsbedeutung. Und Europa hätte wohl kaum Ursache, ihn in dieser
Abwandlung und Zielrichtung sonderlich zu fürchten, würde vielmehr seine
Gegnerschaft am besten nach dem Gesetz, daß der loyale Wettbewerber
am einfachsten durch Handreichung aus dem Feld zu schlagen ist, durch
Unterstützung der Bestrebungen, eine der christlichen Welt ebenbürtige
mohammedanische Knlturmacht zu schaffen, matt setzen. Leider erscheint jedoch gerade
nach jüngsten Erfahrungen die Hoffnung, die Antithese auf diese friedlich - schiedliche
Weise aufzulösen, ziemlich vager Art. Es zeigt sich, daß, wie fast auf allen
Gebieten, fo auch auf dem konfessionellen die Revolution in der Türkei fast
genau das Gegenteil der erwarteten Früchte gezeitigt hat. Die Steigerung
des politischen Selbstbewußtseins bewirkt eine sehr bedenkliche Neubelebung des


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[0114] Die Krisis in der allislamischen Bewegung Ideen aus dem Westen nach wie vor die unbedingt über die Massen verfügende Macht geblieben ist und als unerschütterter Fels im ringsum brandenden Meer fortbesteht. Es hat dementsprechend eine neue Politik instradiert, die abseits der früheren Gleichheitsschwärmerei die Vorrangstellung des Ottomanentums und damit auch des Islams betont. Von hier bis zu der Einsicht, daß die Erhaltung des Reichs die Wiederherstellung des Glanzes des Khalifats bedingt, ist nur ein kurzer und natürlicher Schritt. Einem Schattenkaisertum widerstrebt die Türkei ihrem ganzen politischen Charakter nach durchaus; der Thronerbe steht hier vor einem Staatsproblem allerwichtigster Art, dessen geschickte Lösung nichts anderes bedeutet, als daß er mit Hilfe der Kirche die Macht wieder¬ gewönne, die ihm der Konstitutionalismus geraubt, und daß der Allislamismus neuerdings ein integrierender Bestandteil der osmanischen Politik werde. Die demokratischen Tendenzen in dieser Bewegung laufen mit den Interessen des modernen Verfassungsstaats auf gleicherLinie; ob aber dieser ideelle Zusammenklang imstande sein wird, die parteipolitischer Gegensätze zwischen Arabertum und Osmanentum zu überbrücken, erscheint nach den Erfahrungen der heutigen Zeit mit ihrer Zuspitzung des Nationalitätenhasses mindestens zweifelhaft. Die Physiognomie der Gegenwart berechtigt also zu der Annahme, daß die Fort¬ bewegung des Allislamismus als politischer Macht in Zukunft ebensowenig einen einheitlichen Charakter zeigen wird wie in der Vergangenheit, und daß er, soweit sich seine Verfechter für das Ideal eines alle Einflußsphären des Mohammedanismus umfassenden Weltreichs einsetzen, im Zeichen der neuen Konjunktur, des siegreichen Demokratismus und Nationalismus sich erst recht als das utopistische Gebilde erweisen wird, das er von Anfang an war. Nun aber ist klar, daß, sobald das heutige politische Durcheinander zum Stillstand kommt und sich aus den Zersetzungsprozessen feste und sormbestimmte Gebilde herauskristallisieren, der Emanzipationskampf der mohammedanischen Völker mehr auf das wirtschaftliche und kulturelle Gebiet hinüberspielen wird. Hier, als Propaganda für die Erneuerung, Sammlung und das einhellige Einsetzen der ökonomischen, sittlichen und geistigen Lebensgrundkräfte des Muselmanentums hat der Allislamismus sicherlich einen hohen Wirklichkeitswert und eine große Zukunftsbedeutung. Und Europa hätte wohl kaum Ursache, ihn in dieser Abwandlung und Zielrichtung sonderlich zu fürchten, würde vielmehr seine Gegnerschaft am besten nach dem Gesetz, daß der loyale Wettbewerber am einfachsten durch Handreichung aus dem Feld zu schlagen ist, durch Unterstützung der Bestrebungen, eine der christlichen Welt ebenbürtige mohammedanische Knlturmacht zu schaffen, matt setzen. Leider erscheint jedoch gerade nach jüngsten Erfahrungen die Hoffnung, die Antithese auf diese friedlich - schiedliche Weise aufzulösen, ziemlich vager Art. Es zeigt sich, daß, wie fast auf allen Gebieten, fo auch auf dem konfessionellen die Revolution in der Türkei fast genau das Gegenteil der erwarteten Früchte gezeitigt hat. Die Steigerung des politischen Selbstbewußtseins bewirkt eine sehr bedenkliche Neubelebung des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/114>, abgerufen am 22.07.2024.