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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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"Laufe" in Frankreich

wahrlich ebensowenig wie aus den mit magischem Feuerwerk angefüllten Feerien
der dreißiger Jahre.

Kein Wunder, daß man schließlich der ewigen Gretchen und Mephistopheles
etwas müde wurde! Aber diese Ermüdung reicht doch nicht ganz hin, um das
Urteil Balzacs zu erklären, ausgerechnet Balzacs, von dem man eher als von
irgendeinem andern großen französischen Schriftsteller des neunzehnten Jahr¬
hunderts einiges Verständnis für Goethe erwartet. Wenn der jüngere Dumas
später unter dem Einflüsse eines zur Mode gewordenen engherzigen Patriotismus
gegen Goethe zu Felde zieht, so hat das weiter nichts auf sich; aber man begreift
nicht gut, wie Balzac von Mephistopheles urteilen konnte: "Es gibt keinen
Diener im französischen Lustspiel, der nicht mehr Witz hätte, mehr Geist, mehr
Logik und mehr Tiefe als dieser angebliche Teufel." Ebenso erstaunlich ist eine
Aufstellung der großen Männer des neunzehnten Jahrhunderts, die Balzac seiner
späteren Gattin, Frau von Häusla, im Jahre 1838 schickte, als die Dame
geklagt hatte, dieses Jahrhundert habe nur einen einzigen großen Mann:
Napoleon, gesehen. Balzac zählt einige zwanzig große Männer auf, darunter
Byron, Walter Scott und sogar Fenimore Cooper, vergißt aber Goethe gänzlich,
wenn er nicht etwa in seinem "etc." an ihn gedacht hat. Kaum weniger wunderlich
ist das Urteil Stendhcils, von dem man ebenfalls Besseres erwarten durfte:
"Goethe gibt dem Doktor Faust den Teufel als Bundesgenossen, und mit so
mächtiger Hilfe tut er weiter nichts, als was wir alle mit zwanzig Jahren
getan haben: er verführt eine Putzmamsell!" Der zweite Teil fand selbstver¬
ständlich noch weniger Verständnis, aber es stände uns schlecht an, das den
Franzosen übel zu nehmen! Zuerst wollen wir einmal die Deutschen zusammen¬
suchen, die ihn verstehen, ehe wir die Ausländer tadeln. Immerhin dürfte sich
Lamennais, dessen Urteil vermutlich das heute noch in Frankreich allgemein
gangbare ist, geirrt haben, als er schrieb: "Mitunter glaube ich, daß dieser große
Scharlatan ganz gut verstand, daß er nichts verstand, und daß er heimlich lachte
über die dummen Kerle, die sich später den Kopf zerbrechen würden über ein
Geheimnis, das gar nicht existierte."

Auch in den vierziger und fünfziger Jahren hielten die Versuche, den
"Faust" für die französische Bühne zu gewinnen, an. Im Jahre 1848 bestellte
der Direktor des Odeontheaters einen "Faust" bei dem ältern Dumas. Der
aber hatte damals zu viel zu tun und schlug vor, man solle die Arbeit seinem
Sohne anvertrauen, was dem Direktor nicht einleuchtete. 1850 gab das Gunno.se
einen "Faust" von Carro mit Rose Chori als Gretchen, 1858 wurde im Theater
der Porte Se. Martin ein sünfaktiger "Faust" mit Ballett und allerlei Klimbim
von Dennery aufgeführt. 1859 endlich erhielt die populäre Faustidce in
Frankreich ihre endgültige Gestalt durch Gounods Oper, und zehn Jahre später
machte der "Petit Faust", komische Oper von Crömieux und Heros, volle Häuser.

Der Krieg machte den Bemühungen der Franzosen, dem deutscheu Meister¬
werke näher zu kommen, auf lange Zeit ein Ende. Es gehörte jetzt zum guten


„Laufe" in Frankreich

wahrlich ebensowenig wie aus den mit magischem Feuerwerk angefüllten Feerien
der dreißiger Jahre.

Kein Wunder, daß man schließlich der ewigen Gretchen und Mephistopheles
etwas müde wurde! Aber diese Ermüdung reicht doch nicht ganz hin, um das
Urteil Balzacs zu erklären, ausgerechnet Balzacs, von dem man eher als von
irgendeinem andern großen französischen Schriftsteller des neunzehnten Jahr¬
hunderts einiges Verständnis für Goethe erwartet. Wenn der jüngere Dumas
später unter dem Einflüsse eines zur Mode gewordenen engherzigen Patriotismus
gegen Goethe zu Felde zieht, so hat das weiter nichts auf sich; aber man begreift
nicht gut, wie Balzac von Mephistopheles urteilen konnte: „Es gibt keinen
Diener im französischen Lustspiel, der nicht mehr Witz hätte, mehr Geist, mehr
Logik und mehr Tiefe als dieser angebliche Teufel." Ebenso erstaunlich ist eine
Aufstellung der großen Männer des neunzehnten Jahrhunderts, die Balzac seiner
späteren Gattin, Frau von Häusla, im Jahre 1838 schickte, als die Dame
geklagt hatte, dieses Jahrhundert habe nur einen einzigen großen Mann:
Napoleon, gesehen. Balzac zählt einige zwanzig große Männer auf, darunter
Byron, Walter Scott und sogar Fenimore Cooper, vergißt aber Goethe gänzlich,
wenn er nicht etwa in seinem „etc." an ihn gedacht hat. Kaum weniger wunderlich
ist das Urteil Stendhcils, von dem man ebenfalls Besseres erwarten durfte:
„Goethe gibt dem Doktor Faust den Teufel als Bundesgenossen, und mit so
mächtiger Hilfe tut er weiter nichts, als was wir alle mit zwanzig Jahren
getan haben: er verführt eine Putzmamsell!" Der zweite Teil fand selbstver¬
ständlich noch weniger Verständnis, aber es stände uns schlecht an, das den
Franzosen übel zu nehmen! Zuerst wollen wir einmal die Deutschen zusammen¬
suchen, die ihn verstehen, ehe wir die Ausländer tadeln. Immerhin dürfte sich
Lamennais, dessen Urteil vermutlich das heute noch in Frankreich allgemein
gangbare ist, geirrt haben, als er schrieb: „Mitunter glaube ich, daß dieser große
Scharlatan ganz gut verstand, daß er nichts verstand, und daß er heimlich lachte
über die dummen Kerle, die sich später den Kopf zerbrechen würden über ein
Geheimnis, das gar nicht existierte."

Auch in den vierziger und fünfziger Jahren hielten die Versuche, den
„Faust" für die französische Bühne zu gewinnen, an. Im Jahre 1848 bestellte
der Direktor des Odeontheaters einen „Faust" bei dem ältern Dumas. Der
aber hatte damals zu viel zu tun und schlug vor, man solle die Arbeit seinem
Sohne anvertrauen, was dem Direktor nicht einleuchtete. 1850 gab das Gunno.se
einen „Faust" von Carro mit Rose Chori als Gretchen, 1858 wurde im Theater
der Porte Se. Martin ein sünfaktiger „Faust" mit Ballett und allerlei Klimbim
von Dennery aufgeführt. 1859 endlich erhielt die populäre Faustidce in
Frankreich ihre endgültige Gestalt durch Gounods Oper, und zehn Jahre später
machte der „Petit Faust", komische Oper von Crömieux und Heros, volle Häuser.

Der Krieg machte den Bemühungen der Franzosen, dem deutscheu Meister¬
werke näher zu kommen, auf lange Zeit ein Ende. Es gehörte jetzt zum guten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/88>, abgerufen am 23.07.2024.